Italien: Vertreibung aus dem Paradies

Italien: Die Vertreibung aus dem Paradies

Zehntausende Roma flüchten nach Rumänien

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An einem Samstag im November, gegen 21 Uhr, verließ die 19-jährige Ana Acnana gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer dreijährigen Tochter Alexandra für immer ihre kleine Hütte aus Sperrholz im römischen Vorort Prima Porta. Mit einer einzigen Tasche in der Hand gingen sie zum Busbahnhof Tiburtina, wo sie auf dem Boden übernachteten. Am Sonntag gegen 6 Uhr Früh stiegen sie in einen Reisebus, der sie ins rumänische Sibiu (Hermannstadt) brachte. Von dort war es eine weitere Stunde Fahrt mit dem Minibus in ihren Heimatort Avrig, den sie Montag gegen Mittag erreichten.

Acnana wollte nicht weg aus Italien. Seit zwei Jahren lebte sie in Rom in einer illegalen Siedlung, und obwohl es dort weder Fließwasser noch Strom gab, hätte sie es mindestens noch einmal so lange ausgehalten. Die Schwarzarbeit als Blumenbinderin brachte 800 Euro im Monat ein. Ihr Mann verdiente auf der Baustelle 600 Euro. In Rumänien würden die beiden damit schon zur Mittelschicht gehören. In der heruntergekommenen Glasfabrik von Avrig hätte Acnana höchstens 150 Euro verdient.

Aber seit Ende Oktober nahe der Siedlung Tor di Quinto eine 47-jährige Frau ermordet und kurz darauf der 24-jährige rumänische Rom Nicolae Romulus M. als mutmaßlicher Täter verhaftet worden war (siehe Kasten rechts), wuchs die Angst unter den Rumänen von Prima Porta von Stunde zu Stunde. Und spätestens als junge Italiener in die Siedlung kamen, auf die „Scheißzigeuner“ schimpften und die Hütten anzünden wollten, wusste die junge Frau mit den schwarzen, streng aus der Stirn frisierten Haaren, dass sie gehen musste. Acnana ist nicht nur Romni, sie stammt auch aus der gleichen Stadt und der gleichen Siedlung wie der mutmaßliche Mörder M.

Im Nirgendwo. Avrig liegt in Siebenbürgen, etwa 30 Kilometer südöstlich der Kreishauptstadt Sibiu (Hermannstadt). Von den deutschen Ursprüngen der Kleinstadt zeugen eine romanische Wehrkirche und das Barockschloss des siebenbürgischen Gouverneurs Samuel von Brukenthal. Die Siebenbürger Sachsen sind freilich längst weggezogen, nur mehr 50 sollen noch in „Freck“ (so der deutsche Name) leben. Von den 9000 Einwohnern sind heute fast 90 Prozent Rumänen und etwa zehn Prozent Roma.

Vom Wirtschaftsboom des nahen Sibiu profitieren die Menschen in Avrig nur bedingt – wenn sie einen mühsamen Arbeitsweg zu den neuen Fabriken auf sich nehmen, die jetzt im Speckgürtel rund um die europäische Kulturhauptstadt 2007 entstehen. Wer in Avrig bleibt, baut Mais an, fällt Bäume oder arbeitet in der Glasfabrik. Dennoch ist ein Hauch von Aufschwung spürbar: Die Hauptstraße wird repariert, neue Abwasserrohre werden verlegt, ausländische Banken haben Filialen eröffnet.

Nur im Roma-Viertel, das hinter der Glasfabrik in den Ausläufern des Fogarasch-Gebirges liegt, ist davon nichts zu merken. Hier versinken die Menschen bei Regen im Morast, die Hütten sind klein und finster, und in der Gasse am Ufer eines Wildbaches, den die Bewohner schlicht „Fluss“ nennen, gibt es nicht einmal illegale Stromanschlüsse. Wer hier geht, sollte große Steine in der Hand haben, um die ausgehungerten, verwilderten Hunde zu verjagen.

In dieser Gasse lebten Nicolae Romulus M. und seine Familie. Sie seien gar keine richtigen Roma und würden weder die Sprache noch die Traditionen kennen, sagt Florin Cioaba, der „König der Roma“ in Sibiu, über M. und dessen Eltern (siehe Interview Seite 80). Das können die Roma in Avrig zwar nicht bestätigen, doch schon die Lage der schäbigen elterlichen Hütte am Rande des Quartiers zeigt, dass diese Familie zu den ärmsten in der Roma-Gemeinschaft gehört. Mit Journalisten wollen sie nicht reden, der Schwiegervater schlägt die Tür zu. Er soll gedroht haben, italienischen Reportern den Kopf abzureißen.

Die primitive Holzhütte, in der M. lebte, liegt am anderen Ende der Straße. Sie ist verschlossen, seit der junge Mann vor einem halben Jahr nach Italien zog. In Avrig hatte er keinen guten Ruf, er soll gestohlen und dafür eine Gefängnisstrafe verbüßt haben. Daniel Boldici, ein elfjähriger Rom aus der Nachbarschaft, zeigt den Besuchern gerne die Hütte, freilich nur von Weitem. Er hat Angst vor dem Geist von M.’s Schwester, die hier vor einigen Jahren von ihrem Mann auf bestialische Weise umgebracht wurde. Die Augen seien ihr ausgestochen, Gliedmassen abgehackt worden, heißt es im Dorf. Und der junge Rom ist sich sicher, dass die Ermordete „seither als Vampir in der Hütte haust“.

Träume. Daniel ist ein aufgeweckter Junge, der gern auf dem weißen Arbeitspferd seines Vaters reitet und gelegentlich auch zur Schule geht, wenn er nicht gerade verschläft. Er lebt im Haus neben der zurückgekehrten Ana Acnana, und auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass in seiner Familie niemand im Ausland arbeitete: Die Familie mit sechs Kindern hat in ihrer Baracke gerade einmal 15 Quadratmeter zur Verfügung, das alte Haus sei vor drei Jahren abgebrannt, erzählt Vater Marin Boldici. Der Vater passt auf drei Kinder auf. Ein Rückenleiden mache ihn arbeitsunfähig, sagt er. Seine Frau und die anderen drei Kinder ernähren die Familie mit Arbeiten als Tagelöhner.

Nebenan hingegen ist das Haus nicht nur frisch verputzt, sondern gleich mit Landschafts- und Heiligenbildern bemalt. Der Küchenboden ist gefliest, es gibt neue Möbel und eine Espressomaschine.

In der Roma-Siedlung von Avrig stehen noch einige Häuser mit knallroten oder sattgrünen Fassaden. Neu erbaut oder gründlich restauriert wurden sie mit den Löhnen von italienischen Baustellen oder spanischen Ernteeinsätzen. Etwa 900 Bewohner hat die Siedlung, schätzt Acnana: „200 bis 300 davon waren in Italien.“ Die meisten kehrten in den vergangenen Tagen zurück, aus Angst vor Überfällen italienischer Hooligans oder der Verhaftung durch die Polizei. Der Traum vom besseren Leben ist für die Roma von Avrig vorerst ausgeträumt, und in jenem Bus, der Ana Acnana nach Rumänien zurückbrachte, waren sich alle einig: „Wir hassen Nicolae Romulus M. für das, was er uns angetan hat.“

Seither geht die junge Mutter Ana mit ihrer Tochter an der Hand in den schlammigen Straßen des Roma-Quartiers spazieren und wartet, bis sich die Gemüter in Italien wieder beruhigt haben. In Rom aß die 19-Jährige zwei Jahre lang in einer Armenküche und trug von der Kirche gespendete Kleider. Sie war niemals im Zentrum der Stadt, hat nie das Forum Romanum und nie das Kolosseum gesehen. Dennoch betrachtet sie Italien als ihre neue Heimat, in der Tochter Alexandra einmal zur Schule gehen soll, „damit sie mehr lernt als ich“. Vielleicht schon im Dezember, vielleicht erst im Jänner müsste die Rückkehr eigentlich möglich sein.

Ihr italienischer Chef habe zuletzt sogar angeboten, sie anzumelden und in einem Wohnwagen unterzubringen, erzählt Acnana. Sie lehnte ab, die Angst war größer. In Rom werde der Chef jetzt wohl die vielen Blumen allein binden müssen, meint sie: „Welcher Italiener würde für 40 Euro pro Tag arbeiten?“

Von Bernhard Odehnal, Avrig