Jedes fünfte Kind in Österreich ist zu dick

Jedes fünfte Kind in Österreich ist zu dick: Lässt sich die Epidemie noch stoppen?

Lässt sich die Epidemie noch stoppen?

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Von Robert Buchacher
Mitarbeit: Tina Goebel

Ich habe meine gesamte Kindheit heulend verbracht“, schreibt eine 17-jährige Userin im Internet, „weil ich andauernd gehänselt wurde oder mich als Außenseiterin gefühlt habe.“ Sie hat ein hübsches Gesicht, ist aber so dick, dass sie sich geniert, ihr genaues Gewicht zu nennen. Bei einer Körpergröße von 163 Zentimetern sind es weit über hundert Kilo. Das Internetforum ist der einzige Ort, wo sie sich ausweinen kann. In der durchwegs übergewichtigen Familie, wo es vom Asthma über Diabetes bis zum Herzinfarkt die ganze Palette der möglichen Folgeerkrankungen gibt, wird darüber nur geschwiegen. Nicht einmal Freunden möchte sie sich anvertrauen. Eigentlich möchte sie nicht mehr leben.

Was die Userin im Schutz der Anonymität berichtet, ist mittlerweile ein alltägliches, weitgehend unter der Decke gehaltenes Phänomen. Abertausenden Kindern und Jugendlichen in Österreich geht es so. Und es werden mehr. Laut einer im Schuljahr 2005/06 unter Leitung des St. Pöltener Kinderprimars Karl Zwiauer durchgeführten österreichweiten Untersuchung* sind 20,2 Prozent der Buben und 17,7 Prozent der Mädchen im Alter zwischen sechs und 14 Jahren übergewichtig, etwa acht Prozent davon bereits krankhaft fettsüchtig (adipös). Laut neuesten Daten der so genannten Helena-Studie (Healthy Lifestyle in Europe by Nutrition in Adolescense) sind in Wien 22,3 Prozent der 13- bis 16-Jährigen übergewichtig und 4,5 Prozent adipös. Die Studie wurde in zehn europäischen Städten durchgeführt, darunter in Athen, Rom, Stockholm und Wien. Dabei wurden insgesamt 4156 Jugendliche erfasst, 427 (10,3 Prozent) davon in 13 Wiener Schulen. Bei den Schlagworten Bluthochdruck, Rauchen, ungesunde Snacks, Süßigkeiten und Softdrinks aus Schulbuffets gehören die Wiener Schüler zur Europa-Spitze.

Andere Daten zeigen ein noch weit dramatischeres Bild. Eine österreichweite Untersuchung der Wiener Sozialmedizinerin Anita Rieder in Zusammenarbeit mit dem Institut für Familienforschung und der Wiener Ärztekammer hatte schon im Jahr 2003 ergeben, dass in den Bundesländern Steiermark, Niederösterreich und Burgenland jeder dritte Bub, im Burgenland auch jedes dritte Mädchen im Alter zwischen sechs und 18 Jahren übergewichtig ist.

Das Problem wächst von Tag zu Tag, ohne dass es einen öffentlichen Aufschrei gäbe. Die wenigen engagierten Experten wirken oft verbittert, weil ihre Warnungen nichts fruchten. Es gibt zwar österreichweit zahlreiche Stellen und Organisationen, die sich des Problems annehmen, allerdings zumeist mit halbherzigen, wissenschaftlich kaum fundierten Aktionen. Die wenigen sinnvollen Programme, wie sie etwa der Fonds Gesundes Österreich in Zusammenarbeit mit Schulen und lokalen Behörden bietet, sind ein Tropfen auf den heißen Stein.

Schwere Erkrankung. Was sind die Ursachen der Epidemie, und wie lässt sie sich eindämmen? Stimmt es, dass eine Diät kontraproduktiv und gefährlich sein kann? Experten weisen darauf hin, dass es sich bei massivem Übergewicht nicht bloß um verhaltensbedingte Ernährungsfehler, sondern nach Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation WHO um eine schwere Erkrankung handelt, die sich nur durch eine Anstrengung auf breiter Front werde bekämpfen lassen. Suchtforscher vergleichen das Essverlangen mit schwerer Drogensucht, der nur ähnlich schwer beizukommen sei. Manche Forscher denken an spezielle Medikamente, welche die Esssucht im Gehirn bekämpfen sollen.

Das heißt, die Ursachen sind komplexer als allgemein angenommen. Sie lassen sich nicht auf die simple Formel „Zu viel futtern, zu viel fernsehen, zu wenig Bewegung“ herunterbiegen. Die Genetik spielt ebenso eine Rolle wie der westliche Lebensstil mit all seinen Merkmalen, von steigenden psychischen Anforderungen über sozialen Druck, familiäre Probleme, bis zu bewegungsarmen Verhaltensweisen und einem Überangebot an Nahrungsmitteln. Dazu kommt das verbreitete Unwissen über gesunde Ernährung oder darüber, wo die wahren Kalorienbomben verborgen sind und wie Kalorienaufnahme und -verbrauch im Körper zusammenspielen.
Die übergewichtigen Kinder und Jugendlichen von heute sind die übergewichtigen und adipösen Erwachsenen von morgen. Eine Reihe schwerwiegender Folgeerkrankungen – von der Fettleber, massiven Stoffwechselstörungen und Gelenksar­throsen über Bluthochdruck bis zu Diabetes, Nierenversagen, Herzinfarkt und Krebs – verschärft das Problem, mit erwartbar zusätzlich explodierenden Gesundheitskosten, deren Ausmaß noch gar nicht abschätzbar ist: Ein gesundheitspolitischer Tsunami ist im Anrollen, „und die Gesellschaft schaut zu“, sagt Kurt Widhalm, Inhaber des einzigen österreichischen Lehrstuhls für Ernährungsmedizin an der Wiener Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde sowie Leiter der Fettstoffwechsel-Ambulanz im Wiener AKH.

Widhalm ist tagtäglich mit besonders schweren Fällen konfrontiert. Der Experte betont, dass es nicht immer nur um „dicke Kinder“ geht, sondern vor allem um Jugendliche, wo das volle Ausmaß der nicht vorhandenen Prävention und der allgemeinen Ohnmacht sichtbar wird. Regelmäßig erhält er Anrufe von verzweifelten Jugendlichen oder deren Eltern mit Gewichtsangaben jenseits der hundert Kilo, in seltenen Extremfällen auch über 200 Kilo. Bei derart extremem Übergewicht reichen die für die Humanmedizin entwickelten Diagnoseapparaturen wie etwa Magnetresonanztomografen nicht mehr aus, sodass die Patienten zur Untersuchung auf die Universität für Veterinärmedizin überstellt werden müssen.

Was das für die ohnedies schwer ramponierte Psyche dieser Patienten bedeutet: Jahrelang wurde das Problem von der Familie und ihnen selbst verdrängt, oft ist ohnedies die ganze Familie von Übergewicht oder Adipositas betroffen. Die ständigen Hänseleien und oft brutalen Beschimpfungen schwächen das Selbstbewusstsein. Die betroffenen Jugendlichen ziehen sich zurück, flüchten in die Isolation, brechen die Schule oder die Lehre ab und sinken in eine tiefe Depression. Sie sitzen vor dem Fernseher und flüchten aus ihrem Frust über das eigene Aussehen in Scheinwelten. Sie gehen nicht mehr außer Haus, machen absolut keine Bewegung und greifen noch öfter ins Chipssackerl oder nach dem Schokoriegel.

Es ist ein Teufelskreis, aus dem herauszukommen extrem schwer ist. Manche der Patienten haben alle möglichen Kuren, Behandlungen und Diätaufenthalte hinter sich – mit dem Ergebnis, dass sie stetig weiter zugenommen haben. Zu den psychischen Problemen kommen die körperlichen. Sie leiden unter Atemnot, können nicht mehr Stiegen steigen oder bestimmte alltägliche Bewegungen ausführen. Denn neben medizinischen Auffälligkeiten wie Bluthochdruck und hohen Blutfettwerten zeigen sich oft schon bei Kindern Veränderungen an Gefäßen und inneren Organen.

Fettleber. Weil das Problem so lange verdrängt wird, suchen die Patienten erst einen Spezialisten auf, wenn sich bereits deutliche Symptome wie mangelnde Energie und Müdigkeit zeigen. Die Fettleber ist zumeist ein erstes deutliches Zeichen, dass der Stoffwechsel aus dem Lot geraten ist. Viele niedergelassene Ärzte neigen aber dazu, das Problem zu verharmlosen. Im vergangenen Oktober wiesen Experten beim Europäischen Gastroenterologenkongress in Wien darauf hin, dass die gesundheitliche Bedeutung der Fettleber grob unterschätzt wird.

„Starke Fetteinlagerung in der Leber ist oftmals ein Zeichen einer bereits bestehenden massiven Insulinresistenz“, erklärt Ernährungsmediziner Widhalm. Das bedeutet, dass insbesondere das Fettgewebe auf Glukose nicht in derselben Weise reagiert wie bei Gesunden. Der Glukosespiegel im Blut steigt nach Aufnahme einer Kohlehydratmahlzeit viel stärker an. Dadurch muss die Bauchspeicheldrüse mehr Insulin produzieren und wird permanent überlastet. Hält dieser Zustand über lange Zeit an, dann kommt es zum Typ II oder Altersdiabetes. Laut einer in Deutschland und Österreich durchgeführten Untersuchung mit 28.000 Teilnehmern leiden 0,8 bis 1,0 Prozent der übergewichtigen Kinder und Jugendlichen bereits an einem Altersdiabetes.

Die zweite häufige Folgeerkrankung des Übergewichts ist eine Erhöhung der Triglyzerid- und ein Absinken der HDL-Cholesterinwerte im Blut. HDL ist das „gute“, die Blutgefäße schützende Cholesterin, das dem gefäßschädigenden „schlechten“ LDL-Cholesterin entgegenwirkt. Das Missverhältnis der beiden Stoffe bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Gefäße. „Man kann bereits Gefäßinnenhautverdickungen bei übergewichtigen Jugendlichen, unter Umständen sogar bei Zehnjährigen feststellen“, berichtet Widhalm. „Die machen keine Symptome, sind aber die Vorstufe zu schweren atherosklerotischen Veränderungen.“

Neben diesen negativen Auswirkungen auf Blutgefäße und innere Organe wie Leber, Bauchspeicheldrüse und Nieren kommt es bei stark übergewichtigen Kindern und Jugendlichen auch zu Erkrankungen im Bereich des Bewegungsapparats. „70 bis 80 Prozent der hochgradig Übergewichtigen haben bereits Knorpelschäden und dadurch bedingte Schmerzen, insbesondere bei Bewegung“, erklärt Widhalm. „Und das macht das Problem noch schlimmer. Die tragende Säule der Therapie ist und bleibt körperliche Aktivität.“

Betroffen sind vor allem Knie, Hüftgelenk und Wirbelsäule. Laut Reinhard Windhager, Vorstand der Grazer Universitätsklinik für Orthopädie, zeigen sich bei übergewichtigen Kindern speziell zwei Krankheitsbilder: Die Blount’sche Krankheit, eine Überlastung des inneren Teils des Kniegelenks, die aus genetischen und hormonellen Gründen vor allem bei stark übergewichtigen Buben auftritt und sich bei adipösen Kindern potenziert. Das Leiden führt zur schmerzenden Gelenksdeformation, zur Knorpelabnützung bis hin zu einer entzündlichen Knochenreaktion.
Die zweite häufige Erkrankung ist eine Deformation des Hüftgelenks, die im Ex­tremfall so weit führen kann, dass der Gelenkskopf aus der Gelenkspfanne rutscht. Dieses Leiden kann sehr plötzlich auftreten und bedarf wie der Blount’sche Kniedefekt einer chirurgischen Intervention. Zusätzlich zu den Gelenksproblemen kommt es durch das abnormale Körpergewicht zu einer verstärkten Krümmung der Brust- und Lendenwirbelsäule, verbunden mit chronischen Rückenschmerzen, einem Leiden, das längerfristig zu Bandscheibenproblemen führt.

Dickere Rekruten. Dass Jugendliche zu viel essen, zu wenig Bewegung machen und daher nicht besonders fit sind, regis­triert auch die Stellungskommission des Österreichischen Bundesheeres, die alljährlich zwischen 35.000 und 45.000 Stellungspflichtige untersucht. „Die Leute werden tatsächlich dicker“, konstatiert der im Verteidigungsministerium für das Sanitätswesen zuständige Brigadier Wolfgang Gerl. In den vergangenen 20 Jahren ist das Durchschnittsgewicht der 18-jährigen Stellungspflichtigen laut Gerl um drei bis 3,5 Kilogramm gestiegen, was sich nicht durch den vergleichsweise geringen Zuwachs bei der Körpergröße erklären lässt.

Gerl beobachtet aber „nicht nur das Gewicht, sondern den Gesamteindruck: „Die motorischen Fähigkeiten und die Geschicklichkeit sind schlechter. Turnlehrer kriegen heute oft Kinder in die Klasse, die nicht mehr imstande sind, einen 60-Meter-Lauf zu absolvieren.“ Sofern es den ausgebildeten Turnlehrer überhaupt gibt. So herrscht vor allem in den Hauptschulen, wo es doppelt so viele übergewichtige Kinder gibt wie in der AHS-Unterstufe, ein eklatanter Turnlehrermangel. Immer wieder fallen Turnstunden aus. Dabei wäre tägliche Bewegung für übergewichtige Kinder besonders wichtig, „aber davon kann keine Rede sein“, sagt Stephan ­Maresch, Personalvertreter im Zentralausschuss der Pflichtschullehrer. Zum Bewegungsmangel kommen Defizite in der Ernährung.

Auf die Frage „Wann haben Sie das letzte Mal Obst gegessen?“ antworteten viele Bundesheerrekruten, sie hätten schon wochenlang kein Obst mehr zu sich genommen. Die Heeresverantwortlichen versuchen, durch Änderung des Ernährungsverhaltens sowie durch eine Verbesserung der Basisfitness gegenzusteuern, „aber das kommt viel zu spät“, sagt Brigadier Gerl, „es kommt auf das Vorbild der Eltern an“. Die kaufen sich aber vielfach von ihrer Verpflichtung frei, indem sie den Kindern Geld geben, damit sie sich einen Snack kaufen. Und die Kinder landen in Fastfood-Buden, weil das Essen billig und schnell zu konsumieren ist.

Schuldzuweisungen. Es wäre aber viel zu einfach, mit dem Finger nur auf die Fastfood-Ketten zu zeigen. Denn McDonald’s bietet längst auch Salate an. Aber die werden von Jugendlichen nicht konsumiert, wenn die Eltern kein Vorbild sind. Und solange Schulbuffets nur die Essensstandards der Eltern reflektieren, sind auch Würstelstände, Kebab- und Pizzabuden nicht die allein Schuldigen. In den USA, wo der Trend zum raschen Essen außer Haus sehr viel länger besteht als in Europa, gab es im Lauf der vergangenen 20 Jahre „einen dramatischen Anstieg der Fettleibigkeit“, berichten die Centers of Disease Control and Prevention (CDC) in Washington auf ihrer Homepage. Im Jahr 2007 lag die Rate der Fettleibigkeit nur noch in einem einzigen Bundesstaat – Colorado – unter 20 Prozent. In 30 Bundesstaaten waren bereits 25 oder mehr Prozent der Bevölkerung fettleibig, in drei Staaten (Alabama, Mississippi und Tennessee) sogar 30 und mehr Prozent.

Auf einer CDC-Website lässt sich eindrucksvoll mitverfolgen, wie die Entwicklung der Fettleibigkeit in den USA seit 1985 verlaufen ist: Auf ­einer Landkarte färben sich immer mehr Staaten von Weiß, Hell- und Dunkelblau (geringe bis mäßige Fettleibigkeit) auf Gelb und Orange beziehungsweise kräftig Rot (hohe Fettleibigkeit) ein, bis nur noch Colorado als blauer Staat übrig bleibt. Die USA sind weltweit die Region mit den meisten fettleibigen Bewohnern. Nummer zwei ist Europa, das den USA mit zeitlicher Verzögerung nachfolgt – mit derzeit 15,5 Millionen übergewichtigen Kindern und Jugendlichen. Während aber die Fettleibigkeit in den USA schon breite Kreise der Mittel- und teils auch schon der oberen Mittelschicht erfasst, ist das Phänomen in Europa noch eher auf die niedrigen Einkommens- und Bildungsschichten konzentriert.

„Es ist ein Unterschichtphänomen“, sagt Rudolf Schoberberger, Psychologe im Zentrum für Public Health der Wiener Medizinuniversität. Die Sozialmedizinerin Anita Rieder sieht es ähnlich: „Je besser die Ausbildung der Eltern, desto geringer ist das Problem.“ Besser ausgebildete Erziehungsberechtigte interessieren sich eher für Beiträge über gesunde Ernährung und Fitness, welche mittlerweile nahezu alle Medien bieten. Sie wissen in der Regel, welche Fette ungesund sind und dass man sich ausgewogen ernähren sollte, mit möglichst wenig Fleisch und regelmäßigen Portionen frischem Obst und Gemüse – auch wenn sie sich nicht immer daran halten. Und sie wissen, dass man die aufgenommenen Kalorien in irgendeiner Form wieder verbrauchen muss, und betreiben daher Fitness- und Ausdauersport. Auch um leistungsfähiger zu sein, sich besser zu fühlen oder um besser auszusehen.

In den weniger gebildeten Schichten ist das kein Thema. Viele dieser Menschen haben andere Sorgen, als sich um gesundes Essen zu kümmern. Sie essen das, was sie sich endlich leisten können und was immer schon als Zeichen des Wohlstands gegolten hat: Fleisch und nochmals Fleisch, am besten mit reichlich Fett, weil es mit Fett besser schmeckt. Sie schätzen deftige, bodenständige Gerichte und lehnen die so genannte leichte Küche ab, weil sie dem tradierten Geschmacksempfinden nicht entspricht. Die Kinder essen das, was alle essen. Dass es ungesündere und gesündere Fette gibt und dass in einem Liter Softdrink das Zuckeräquivalent von bis zu 23 Stück Zuckerwürfel enthalten sein kann, wie eine Untersuchung der Arbeiterkammer ergab, ist ihnen nicht bewusst.

Es gibt noch einen weiteren Faktor, der weniger beachtet wird als das Ernährungs- und Freizeitverhalten, nämlich schwierige Familienkonstellationen. „Scheidung, Streit der Eltern, andere, nicht akzeptierte Partner in der Familie bis hin zu Misshandlung spielen bei der Entstehung von Fettleibigkeit eine nicht unbeträchtliche Rolle“, erklärt Adipositas-Experte Kurt Widhalm. Das sind aber Faktoren, die in allen sozialen Schichten auftreten können.

Essanfälle. Die Grazer Kinder- und Jugendpsychologin Petra Pölzl betreut auch stark übergewichtige Oberschichtkinder: „Materiell gut versorgt, aber mit wenig emotioneller Zuwendung. Das Kind ist allein gelassen, bunkert Süßigkeiten in seinem Zimmer und isst heimlich aus Frust. Ich hatte schon Eltern, die wahre Depots von Süßigkeiten im Kinderzimmer entdeckten.“ Solche Kinder sind so genannte „binge eater“, die regelrechte Essanfälle durchmachen. In der Therapie sind sie zunächst verschlossen, weshalb die Psychologin versucht, zuerst ihre Stärken herauszuarbeiten, um über sie auf die Schwächen zu sprechen zu kommen. Pölzl betont, wie wichtig es sei, die Eltern einzubeziehen. „Wenn ich mit dem Kind allein arbeite, würde ich nicht viel erreichen.“

Mittlerweile gibt es in Österreich eine lange Liste von Initiativen, Aktionen, Ärzten, Psychologen und Institutionen, die aktiv werden. Aber nicht nur Adipositas-Spezialist Widhalm bezweifelt die Wirkung, solange das Programm nicht wissenschaftlich fundiert, lang andauernd und umfassend über alle davon tangierten Bereiche abläuft. Auch Harald Mangge, Professor und Adipositas-Forscher an der Medizinischen Universität Graz, ist überzeugt, dass die aktuellen Diätangebote und Weight-Watcher-Kurse nicht viel fruchten werden. „Langfristig ist da nicht viel zu holen, ganz im Gegenteil: Diät ist gefährlich, weil das Jo-Jo für die Gefäße einen zusätzlichen oxidativen Stress bedeutet.“ Sein Resümee: „90 Prozent der heute übergewichtigen Kinder werden die adipösen Erwachsenen von morgen sein.“

Seinen Verdacht, dass es sich bei dem Leiden um eine suchtartige Erkrankung handeln könnte, bestätigt die Wiener Suchtforscherin Gabriele Fischer: Denn im Nucleus accumbens, einem Teil des Belohnungsystems im Gehirn, zeigen sich bei stark übergewichtigen Personen „die gleichen Aktivitätsmuster wie bei Heroin- und Kokainabhängigen“, so Fischer. Es entsteht ein unbeherrschbares Verlangen nach vor allem kohlehydratreicher Nahrung, weil dadurch im Belohnungssystem besonders viel Dopamin ausgeschüttet wird. Deshalb soll jetzt der Begriff „Eating ­Addiction“ (Esssucht) laut Fischer in die Liste der Suchtstörungen aufgenommen werden.

Fotos: www.jfgh.at/feriencamps