Al Kaida, Piraterie und Elendsflüchtlinge

Jemen: Das Land kämpft gegen viele Gegner: Al Kaida, Piraterie und Elendsflüchtlinge

Jemen: Das Land kämpft gegen viele Gegner

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Von Emil Bobi

Nachts in alten, engen Gassen spürt man die Gefahr am besten. Wie gefährlich ist Sanaa, die uralte Hauptstadt des Jemen? Wie groß ist das Risiko, in diesem Kernland der Al Kaida Opfer eines Terrorakts zu werden? In einem Land, vor dessen Küsten es von Piraten wimmelt wie seit dem Mittelalter nicht mehr. In dem Stammeskrieger regelmäßig Touristen kidnappen. Wie groß ist die Gefahr, auch nur überfallen zu werden?

Doch bei aller Bereitschaft: In Sanaa ist es unmöglich, Angst zu haben. Selbst die hintersten Winkel scheinen entspannt und heimelig wie ein alter Bauernhof. Jahrtausendealte Beschaulichkeit liegt über dem Markt, der Weihrauch- und Kaffeeduft atmet und in dem der alte Zauber Arabiens noch nicht verschwunden ist. Menschen in knöchellangen Hemden und rot-weißen Kopftüchern kauen Myrrhe und behandeln erwachsene Fremde mit einer Zuneigung wie die Fremden höchstens ihre Kinder. In dieser familiären Ruhe wirkt der Raketenangriff auf die US-Botschaft vom September 2008 wie ein fremdartiges, amerikanisches Problem, das mit dem Alltag im Jemen nichts zu tun hat.

Doch vom alten Zauber von „Felix Arabia“, vom märchenhaften Reichtum der Weihrauchstraße, von der süßen Erinnerung an die Königin von Saba, die „Miss Antik“ Arabiens, kann sich heute niemand mehr ernähren. Eines der großen Probleme, mit denen das Land konfrontiert ist, wird zehn Taxi-Minuten von der Altstadt entfernt in Safiya augenscheinlich. Der Bezirk ist zu einem Ghetto für tausende somalische Flüchtlinge geworden, welche die Bedingungen in den großen Flüchtlingslagern in Maifa oder Kharaz nicht aushalten. Rund eine Million von den in der Welt als „Boat People“ bekannt gewordenen Elendsflüchtlingen überschwemmen den Jemen. Wer die Überquerung des Golfs von Aden überlebt und nicht zu den tausenden gehört, die ertrunken angespült werden, wird automatisch als Flüchtling anerkannt und darf arbeiten. Aber selbst die Plätze an den Verkehrsampeln der Stadt, wo sie die Scheiben der anhaltenden Fahrzeuge putzen, sind überbelegt. Der prominenteste Somalia-Flüchtling, dem man in Sanaa über den Weg laufen kann, ist der im Vorjahr einem Machtkampf im somalischen Baidoa unterlegene Ex-Präsident Abdullah Yussuf. Er putzt keine Scheiben, er residiert als Gast des jemenitischen Präsidenten im Hotel Sheba. Er verfügt über einige Mitarbeiter, vier Limousinen und darf bleiben, bis sich etwas Neues ergibt. Nur eines macht er als Gast des Präsidenten nicht: öffentliche Kommentare zur politischen Lage in Somalia oder im Jemen abgeben.

„Boat People“. Sein Landsmann Abderrahman Hassan ist 21, stammt aus Ogaden in der Gegend der äthiopischen Grenze und hat die Überfahrt überlebt. Er hat eine Matratze in einem finsteren Zimmer gemietet wie tausende andere und plant, den sechstägigen Fußmarsch nach Saudi-Arabien bald anzutreten. Dort, so sagt man unter den Boat People, gebe es „chicken and rice“, so viel man wolle. 2000 wurde sein Vater umgebracht, ein Jahr später starb seine Mutter, seine zwei älteren und zwei jüngeren Brüder hat er Jahre nicht mehr gesehen. Sechs Jahre hat er sich in Bosasso, der Küstenstadt am Horn von Afrika, durchgeschlagen, bis er die Überfahrt für 50 US-Dollar wagte: 140 Menschen auf einem sechs Meter langen Boot, Alte, Kranke, Babys. Abfahrt in einer Nacht im Jänner 2008 um 23 Uhr. „Ich war erstmals in meinem Leben am Meer“, sagt er, „ich hatte große Angst.“ Nach drei Stunden wurde die See so unruhig, dass die neun bewaffneten Menschenschmuggler begannen, schreiend mit Gewehren und Eisenstangen auf die Flüchtlinge einzuschlagen, die sich bewegten und das überfüllte Boot zum Wanken brachten. Sie durchquerten haiverseuchte Gewässer. Um die Tiere davon abzuhalten, das Boot abwartend zu begleiten, „warfen die Guides vier der Menschen ins Wasser, um sie zu füttern“, behauptet Abderrahman. Vier andere erstickten im Bootsrumpf und wurden über Bord geworfen. Dann kamen die Dicken an die Reihe. Am nächsten Abend tauchten in der Ferne die Lichter des Jemen auf. Ein Boot der Küstenwache näherte sich. Die somalischen Schlepper begannen sofort zu schießen und zwangen ihre Passagiere, über Bord zu springen. Wer sich weigerte, wurde erschossen. „Alle gingen über Bord“, erzählt Abderrahman, „am nächsten Tag war der Strand voller angespülter Leichen.“ 30 von 140 Personen haben überlebt. „Welcome to Jemen“, seien sie von der Küstenwache begrüßt worden. Doch etwas wie menschenwürdige Flüchtlingsbetreuung durch die UNO gibt es fast nicht. Das Land scheint schlicht überfordert.

Zentrum der Macht. Zwei, drei Kilometer westlich von Safiya, knapp hinter der riesigen, neuen Moschee, an deren Platz früher der alte Flughafen von Sanaa lag, auf einem sanften Hügel über der vor Bau- und Verkehrslärm donnernden Neustadt, liegt jener Punkt, an dem all die riesigen, kaum lösbar scheinenden Probleme dieses Landes zusammenkommen. Wer an diesen Punkt gelangen will, muss einige Hürden meistern. Drei hintereinanderliegende, straßenbreite Gebisse aus Eisen geben den Asphalt erst frei, wenn der Wagen von einem Sprengstoff-Hund durchschnüffelt ist. Dann öffnet sich das erste, schwer bewachte Tor in den Vorgarten. Hier muss der Wagen abgestellt werden. Dann die Visitation mit Metalldetektor und Röntgengerät. Dann die Abnahme aller Gepäckstücke und die händische Körperkontrolle. Jetzt öffnet sich das Tor zum Hauptgarten, und inmitten geschniegelter Rasenflächen und leuchtender Blüten erscheint der Palast des Präsidenten. Ali Abdallah Saleh, 66, scharfer Blick, unruhig federndes Knie, krächzende Stimme, knappe Antworten. Von seiner Herkunft kein Politiker und schon gar kein Diplomat. Sein akademischer Weg endete mit der Absolvierung einer Koran-Grundschule. Ali Abdallah Saleh ist ein im Widerstand groß gewordener Krieger. Seit er 15 ist, ist er Soldat. 1962 war er beim erfolgreichen Putsch gegen die Royalisten des Nordjemen dabei. Er kämpfte auch in den Bürgerkriegen davor und danach. 1978 wurde er von einer Serie von Mordanschlägen gegen drei Regierungschefs an die Macht der arabischen Republik (Nord-)Jemen gespült. 1990 schaffte er die Vereinigung mit der ehemals kommunistischen Volksrepublik (Süd-)Jemen. Seither hält er ein explosives Konglomerat an unterschiedlichsten Interessen und Strömungen zusammen. Nicht immer mit dem Charme des geborenen Demokraten, aber manchmal mit fortschrittlicheren Motiven als manche der 21 politischen Parteien, die im Land aktiv sind. Die Folgen des Bürgerkriegs von 1994 hat er genützt, um den am Boden liegenden politischen Gegner im darauf folgenden Wahlkampf gänzlich aus dem Rennen zu werfen und sich selbst wieder Stimmenanteile von weit jenseits der 80 Prozent zu sichern. 2012 endet seine endgültig letzte Periode. Wer immer im Land diesen Präsidenten lobt, tut das unter dem Verdacht, gesteuert zu sein. Wer ihn hingegen kritisiert, wird als Zeichen der Öffnung des Landes empfunden, in dem es möglich geworden ist, die Wahrheit zu sagen. Und Kritik an Saleh kommt aus allen Himmelsrichtungen.

„Alle wollen alles.“ Kritik aus dem Norden: In der alten Königsstadt Saba lauert die „Huthi-Frage“. Die schiitischen „Huthis“ fühlen sich von den zigtausenden sunnitischen Jemeniten bedrängt, die in den neunziger Jahren als ehemalige Gastarbeiter aus Saudi-Arabien heimkehrten. Al Huthi war bis zu seiner Erschießung der Führer dieser Bewegung, die sich in radikalisierenden Koranschulen gegen die „religiös aufgeweichten“ Sunniten wendete. Und sie warfen Ali Saleh vor, den Norden des Jemen wirtschaftlich zu vernachlässigen. Als Saleh ihre radikalen Koranschulen schließen ließ, griffen die Huthis zu den Waffen. Die letzte Runde des Bürgerkriegs wurde erst im Juli 2008 per Waffenstillstand beendet. Wirklich konkrete Forderungen haben die Huthis nie genannt.

Kritik aus dem Süden: Der Widerstand aus der Gegend der Hafenstadt Aden wurzelt im historischen Widerstand gegen die britischen Besatzer von Aden. Kaufleute, pensionierte Armeeoffiziere, arbeitslose Gebildete. Heute kommen frustrierte Jugendliche ohne Perspektive noch dazu. Seit 2007 sind sie wieder besonders aktiv. Ihr Hauptvorwurf an die Zentralregierung: Man vernachlässige die Region wirtschaftlich. Und: Der Präsident habe das halbe Land unter seinen Verwandten aufgeteilt.

Kritik aus dem Osten: Viele traditionell weitgehend autonome Stämme erheben den Vorwurf, man vernachlässige deren Stammesgebiete wirtschaftlich. Regelmäßig werden ausländische Touristen als Geiseln genommen, um dann öffentlichkeitswirksam Sympathie und Verständnis erweckende Forderungen zu stellen, wie den Bau eines Brunnens oder einer Schule. Die Geiseln werden dabei fast immer wie Gäste behandelt und wieder freigelassen, sodass diese Geiselnahmen mittlerweile als jemenitische Form der Dienstrechtsbeschwerde bezeichnet werden. Doch selbst kritische, unabhängige Beobachter räumen ein, dass es immer mehr Stammesführern in Wahrheit nicht um einen Brunnen, sondern um die Ausweitung ihrer politischen Macht gehe.

„Agent der USA“. Alle fühlen sich wirtschaftlich benachteiligt. Etwas wie ein Bewusstsein für politische Machbarkeit scheint es kaum zu geben. „Alle wollen alles“, sagt Mohammad, ein Journalist, der sich auch mit der Freiheit der Presse im Land zufrieden gibt. „Du kannst alles schreiben, nur nichts über die Familie des Präsidenten.“ Kritik aus dem „Westen“: Die USA kritisieren Saleh, weil er zu wenig gegen den Terror unternehme und nur seine eigene Macht absichere. Gleichzeitig beschimpft Osama Bin Ladens Stellvertreter Ayman al-Zawahiri Ali Saleh als „Agenten der USA, der seine Religion verkauft hat“.

Der Jemen ist das ärmste Land der arabischen Halbinsel und das mit 20 Millionen Einwohnern am dichtesten besiedelte. Es gibt kaum Erdöl wie bei den Nachbarn, und die Hälfte der Einwohner ist unter 15 Jahre alt. 70 Prozent sind Analphabeten, 35 Prozent arbeitslos und anfällig für die Rekrutierer der besonders aggressiven „Zawahiri-Generation“ der jemenitischen Al Kaida, deren Kern teils aus Leuten besteht, die in Afghanistan gegen die Amerikaner gekämpft haben und im Februar 2006 aus einem jemenitischen Hochsicherheitsgefängnis ausgebrochen sind. Sie genießen auch im eigenen Land keinen Rückhalt mehr. Wenn sie Geiseln nehmen, dann töten sie sie. 400 Terrorverdächtige saßen kürzlich noch in den Gefängnissen. Mehr als hundert davon wurden zuletzt als „reuig“ entlassen. Fast die Hälfte der 270 Insassen von Guantanamo sind Jemeniten. 94 davon sollen demnächst heimkehren und in einer in Bau befindlichen „Anstalt“ untergebracht werden.

Und draußen vor der Küste wütet ein Piratentum, das den Transport saudischen Öls und damit die Weltwirtschaft bedroht. Seit Anfang des Vorjahres wurden rund 100 Schiffe gekapert. Noch immer sollen sich ein Dutzend in Händen somalischer, aber auch jemenitischer Piraten befinden, auf denen 300 Besatzungsmitglieder vermutet werden. Doch es gibt viel größere Probleme. Wenn der Präsident danach gefragt wird, fällt ihm Fundamentaleres ein als ein kleiner Bürgerkrieg: „Wasser“, sagt er. Und: „Die Bevölkerungsexplosion.“ Es gibt zu viele Menschen im Land. Und in nur zwölf Jahren werden sich die heute 20 Millionen verdoppelt haben. Darüber kann die überall sichtbare bauliche Entwicklung nicht hinwegtäuschen.

Und über all dem liegt ein kollektives Problem wie eine schwere Decke, eines, von dem viele andere ausgehen oder verschärft werden: Kat. 80 bis 90 Prozent aller Männer und 40 bis 50 Prozent der Frauen gelten als tägliche Konsumenten. Ein Mund voll der amphetaminhältigen Blätter mehrere Stunden sachte gekaut und ausgesaugt, tötet den Hunger und beschert ein Hochgefühl. „Wenn Kinder auf den Markt zum Einkaufen geschickt werden“, sagt Osama, ein Arzt, „dann kaufen sie meist für 2000 Real Kat und für 500 ein halbes Huhn für die ganze Familie.“ Doch Kat kostet mehr als den bloßen Kaufpreis. Es kostet größere Beträge, die durch die nationale Lethargie des kollektiven Kat-Rauschs erst gar nicht erwirtschaftet werden. Es verbraucht mehr Wasser, als das Land hergeben kann, es verdrängt Gemüse- und Obstsorten, besonders Kaffee. „Viele Menschen“, sagt Osama, „leben in einer Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit und flüchten vor der Realität in eine kollektive Sucht.“ Die Frage sei nur, ob der Frust die Sucht auslöse oder die Sucht den Frust.