"Lieber nicht die Polizei rufen“

Jemen-Experte Alkebsi im Interview

Interview. Jemen-Experte Alkebsi über die nächste politische Generation

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Interview: Tessa Szyszkowitz, Marseilles

profil: Kommt Präsident Ali Abdallah Saleh zurück? Oder ist seine Ära vorbei?
Alkebsi: Der Präsident hat seinem Vize Abdu Rabu Mansur Hadi vor seinem Abflug die Macht übergeben. Das ist in 33 Jahren nie vorher passiert. Er muss schwerer verletzt sein, als bisher zugegeben wurde. Bombensplitter dürften in seine Brust eingedrungen sein, die Lunge könnte kollabiert sein.

profil: Präsident Saleh wird in einem saudischen Krankenhaus behandelt. Könnte die saudische Regierung diese Gelegenheit benützen, ihn zum Machtverzicht zu "überreden“?
Alkebsi: Vor dem Anschlag auf die Moschee im Präsidentenpalast am 3. Juni wollten die Saudis die so genannte "Golf-Initiative“ durchsetzen. Saleh sollte innerhalb eines Monats die Macht abgeben und im Gegenzug dafür Immunität genießen. Jetzt könnte alles viel schneller gehen.

profil: Im Moment regiert Salehs Vizepräsident Hadi. Ist er weniger korrupt?
Alkebsi: Hadi gehört nicht zu Salehs Clan aus dem Norden. Er stammt aus dem Süden, hat sich aber 1994 mit Saleh verbündet. Die wahre Macht halten Salehs Söhne und Neffen in Händen.

profil: Wie wichtig ist Salehs Sohn Ahmed?
Alkebsi: Ahmed hat in den USA studiert, er kam zurück und bekam eine militärische Position. Heute ist er Chef der Republikanischen Garde. Diese ist gut ausgerüstet und sehr mächtig. Sein Cousin Tarik ist für die persönliche Sicherheit des Präsidenten verantwortlich, Cousin Jahia wiederum für Terrorismusbekämpfung. Und der vierte im Bunde ist Ammar, er war bisher der stellvertretende Chef des nationalen Sicherheitsrats.

profil: Könnte die Opposition akzeptieren, dass einige Familienmitglieder auch weiterhin eine zentrale Rolle spielen?
Alkebsi: Undenkbar. Die Grundstimmung im Jemen hat sich völlig geändert. Bevor die Proteste vor vier Monaten begannen, fürchteten alle eine weitere Spaltung des Landes. Der Jemen ist ja erst seit 1990 geeint. Ein politischer Reformprozess wird jedenfalls bedeuten, dass die Regionen stärkere politische Autonomie bekommen. Der Norden wird nicht mehr für den Süden entscheiden. Im Süden gibt es stärkere zivile Strukturen, weil der Süden für lange Zeit unter britischem Mandat stand. Wenigstens gibt es im Land wenig ethnische Spannungen, weil die große Mehrheit Araber und Muslime sind.

profil: Wer kämpft gegen wen? Die Jugend gegen das Regime oder die rivalisierenden Clans der Salehs und al-Ahmars gegeneinander?
Alkebsi: Die al-Ahmar-Familie selbst repräsentiert keineswegs einen einheitlichen Machtblock. Hamid al-Ahmar ist ein Geschäftsmann, ein Milliardär, der seit Langem offen Salehs Konkurrent war. Sadeh al-Ahmar dagegen, Hamids älterer Bruder, war bis vor Kurzem ein enger Verbündeter des Präsidenten. Auch Hussein al-Ahmar, der stellvertretende Vizepräsident des Parlaments, arbeitete lange mit Saleh zusammen. Der al-Ahmar-Clan wurde erst dann zum Feind Salehs, als er vor zwei Wochen auf ihre Residenz schießen ließ.

profil: Der Anschlag auf den Präsidentenpalast am 3. Juni wurde von manchen als Gegenschlag der al-Ahmars auf Saleh interpretiert. Nicht nur der Präsident selbst wurde verletzt, auch der Premierminister und beide Parlamentssprecher sind verwundet worden. Insgesamt 35 verletzte Regierungsmitglieder wurden nach Riad ausgeflogen.
Alkebsi: Die al-Ahmars haben jegliche Verantwortung für den Anschlag kategorisch zurückgewiesen. Wenn sie es gewesen wären, hätten sie es zugegeben. Schließlich hat der Präsident sie zuerst angegriffen. Ich glaube eher, dass jemand im engeren Kreis von Saleh beschlossen hat, dass sein Regime nicht mehr zu retten ist.

profil: Auf welche oppositionellen Kräfte kann gesetzt werden?
Alkebsi: Im jemenitischen Oppositionsbündnis haben sich ganz unterschiedliche Parteien zusammengeschlossen. Wir haben immer noch eine Baath-Partei und panarabische Nasseristen. Auch das gesamte religiöse Spektrum arbeitet derzeit noch zusammen, die Muslimbrüder mit den Salafiten. Wenn wir es bis zu freien Wahlen schaffen, dann werden die Parteien gegeneinander wahlkämpfen.

profil: Radikale Islamisten sind im Jemen stark vertreten.
Alkebsi: Unter den Islamisten gibt es enorme Unterschiede. Es ist sehr kompliziert. Die Islah-Partei wird sich spalten. Der traditionelle Islam im Jemen hat zudem zwei Strömungen: die sunnitischen Schafiten und die schiitischen Saiditen. Zu Letzteren gehören etwa die al-Ahmars. Die Saiditen gehören zwar den Schiiten an, stehen aber der Sunni-Tradition nahe.

profil: Jemens 19 Millionen Einwohner sind zur Hälfte unter fühnfzehn Jahre alt und damit noch nicht erwerbsfähig. Wie kann der bettelarme Jemen wirtschaftlich auf die Beine kommen?
Alkebsi: Wir müssen uns beeilen, sonst bricht mit der Wirtschaft auch der politische Reformprozess zusammen. Das durchschnittliche Jahreseinkommen beträgt 1800 Dollar. Korruption ist absolut überall. Jeder Polizist kann in dein Geschäft kommen und Bestechungsgeld verlangen. Wenn du es ihm nicht gibst, dann sperrt er dich ein, und das Geschäft muss schließen.

profil: Warum soll sich das nach der Ära Saleh ändern?
Alkebsi: Der arabische Frühling hat mit dem Ruf nach besseren wirtschaftlichen Bedingungen begonnen. So wie in Tunesien oder Ägypten waren unsere Jugendlichen vorher nicht besonders politisch. Nun fordern sie ökonomische Freiheit und politische Rechte. So leicht werden sie sich das nicht wieder nehmen lassen, was jetzt alle verbindet: eine neue Würde.

profil: Damit wird man die Arbeitslosen aber nicht füttern können. Welche Geschäftszweige sollte der Jemen fördern?
Alkebsi: Es gibt Tausende erfolgreiche jemenitische Geschäftsleute, die in den Golfstaaten reich geworden sind. Sie wollen jetzt in ihr eigenes Land investieren. Wir können verschiedene Industrien aufbauen: Kaffee und Honig zum Beispiel. Tourismus wird ganz wichtig werden.

profil: Derzeit werden noch Touristen von Al Kaida verschleppt. So schnell werden die Besucher nicht ins Land strömen.
Alkebsi: Al Kaida ist vor allem im Süden stark. Doch die zivile Bevölkerung im Süden will nichts mit Al Kaida zu tun haben und wird sich gegen sie wehren, wenn es im Zuge des Reformprozesses mehr lokale Verantwortung geben wird. Bisher wurde der Kampf vom militärischen Establishment geführt.

profil: Warum wehren sich die Jemeniten nicht schon heute dagegen, dass Al Kaida ihr Land destabilisiert?
Alkebsi: Wo kommen Sie her? Aus Wien? Wenn Sie einen Nachbarn haben, der Al-Kaida-Anhänger ist, was machen Sie dann? Sie rufen die Polizei an. Im Jemen aber ruft man lieber nicht die Polizei. Wer weiß, ob der Polizist nicht mit Al Kaida zusammenarbeitet? Dann käme die Polizei Sie abholen - und nicht Ihren Nachbarn. Wir brauchen also erst einmal neue Strukturen. Dann können wir Vertrauen in diese Institutionen aufbauen. Das wird nicht über Nacht gehen. Doch zum ersten Mal gibt es wenigstens die Hoffnung, dass es möglich ist.

Abdulwahab Alkebsi, 51,
im Jemen geboren, lebt seit 31 Jahren in den USA. Er arbeitet für das Africa & Middle East Center for International Private Enterprise, das wiederum Teil des National Endowment for Democracy in Washington ist. Direkt vom US-Kongress finanziert, hilft diese NGO den nahöstlichen Staaten beim Aufbau von demokratischen Institutionen und wirtschaftlich nachhaltigen Projekten. Alkebsi verbringt einen guten Teil des Jahres im Jemen.