„Obama ist teilweise schlimmer als Bush“

Interview. Jill Stein, US-Grünen-Kandidatin, über Waffengesetze, kleine Parteien und Obama

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Interview: Anna Giulia Fink

profil: Nach dem „Batman“-Massaker in Colorado sind wieder einmal die liberalen Waffengesetze der USA in den Blickpunkt gerückt. Präsident Barack Obama äußert sich allerdings sehr verhalten, sein republikanischer Herausforderer Mitt Romney will gar nichts ändern. Würden Sie sich als Kandidatin der Grünen mit der Waffenlobby anlegen?
Stein: Wir sind für eine Verschärfung der Waffengesetze und für ein Verbot von Sturmwaffen. Aber das allein wird nicht reichen. Wir haben ein enormes Problem mit psychischen Krankheiten. Amerika ist das Land der Isolierten. Wir müssen die Leute wieder in die Gesellschaft einbinden, ihnen Jobs und Bildung anbieten. Der psychische Zustand eines Menschen hängt auch damit zusammen, welche Luft er einatmet, welches Essen er zu sich nimmt, ob er Bewegung macht.

profil: Sie wollen grundlegende Veränderungen im Way of Life. Wie können Sie davon ausgehen, dass Sie über den nötigen politischen Rückhalt verfügen?
Stein: Das politische System der USA ist sehr demokratiefeindlich – und auch feindlich gegenüber den viel zitierten 99 Prozent der Bevölkerung, den kleinen Besitzern von Eigenheimen, den Studenten. Es stimmt, wir sind eine Außenseiterpartei, allerdings in einer Zeit, in der die Wähler im herrschenden politischen System selbst die Außenseiter sind. Die Occupy-Bewegungen etwa gehen von der Zivilgesellschaft aus, wir aber tragen sie politisch weiter.

profil: Sie stehen den Demokraten vermutlich politisch näher als den Republikanern. Fürchten Sie nicht, Obama durch Ihre Kandidatur zu schaden?
Stein: Es ist ein Mythos zu glauben, die Demokraten machten eine prinzipiell andere Politik. Sehen wir uns einmal die Fakten an: George W. Bush half der Wall Street mit 700 Milliarden Dollar aus der Misere, bei Barack Obama waren es mindestens 4,5 Billionen Dollar. Bei den unsäglichen Freihandelsabkommen, die unsere Arbeitsplätze ins Ausland verlagern und zu Hause die Löhne herunterdrücken, hätte man sich von Obama erwartet, dass er diese Abkommen neu ausverhandelt. Doch das war nicht der Fall, es kamen noch weitere solche Verträge hinzu. Und jetzt verhandelt der Präsident im Geheimen ein transpazifisches Partnerschaftsabkommen – eine Art nordamerikanisches Freihandelsabkommen auf Doping.

profil: Sie gestehen Obama auf keinem Gebiet zu, Fortschritte gemacht zu haben?
Stein: Wo denn? Unter Bush haben die Leute sich lauthals über die Angriffe auf die Bürgerrechte beschwert – unter Obama sind diese Angriffe ausgeweitet worden. Schauen wir uns die Kriege des als „Friedenspräsidenten“ gefeierten Obama an: In Afghanistan waren doppelt so viele Soldaten stationiert wie unter Bush. Hinzu kommt der ausgeweitete Drohnenkrieg im Jemen, in Somalia und Pakistan. Selbst als der demokratische Präsident über die Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses verfügte, ordnete er als eine seiner ersten Amtshandlungen die Bombardierung Pakistans an. All das sind horrende Verletzungen des internationalen Rechts, der Menschenrechte und der amerikanischen Werte. Dieser Präsident ist ein Desaster für das Klima, er hat die Politik von Bush nicht nur fortgeführt, sondern verschlimmert: 36 neue Atomkraftwerke sollen gebaut werden. Er hat die Erlaubnis gegeben, zur Förderung von Rohstoffen Berggipfel abzutragen, und im Golf von Mexiko dürfen weitere Offshore-Gebiete zur Ölförderung genutzt werden. Gar nicht zu reden davon, dass Obama internationale Klimaschutz-Vereinbarungen ignoriert.

profil: Gewinnen die Republikaner, wäre jedoch eine Partei an der Macht, deren Vertreter sogar leugnen, dass es den Klimawandel überhaupt gibt. Wer ist also die größere Bedrohung – die Republikaner oder die Demokraten?
Stein: Ihr gemeinsamer Geldgeber, die Finanzwelt. Mit zwei Parteien ist es für die Finanzwelt sehr einfach, sich ihre Interessen zu kaufen. Leider ist Obama teilweise schlimmer als George Bush. Noch bevor er offiziell vereidigt worden war, saßen schon die Vertreter der Finanzwelt bei ihm, die bis heute einen maßgeblichen Einfluss auf seine Amtsführung haben. Derzeit bestimmen Skrupellose und Wahnsinnige das politische System. Beide Parteien tun so, als hätte man nur die Wahl zwischen Wirtschaftswachstum oder Umweltschutz. Das Gegenteil ist der Fall: Die Wirtschaft kann nicht funktionieren, wenn das Klima sich verschlechtert. Man muss Wirtschaftswachstum und den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit mit Maßnahmen gegen den Klimawandel verbinden.

profil: Die beiden etablierten Parteien können sich auf die überwiegende Mehrheit der Stimmen berufen. Laut einer aktuellen Gallup-Umfrage kommen Sie mit der Grünen Partei auf ein Prozent. Hat Ihre Kandidatur überhaupt einen Sinn?
Stein: Diese Umfrage wurde durchgeführt, bevor Wähler überhaupt von der Kandidatur der Grünen wussten. Demokratie beginnt damit, den Menschen mehr Entscheidungsmöglichkeiten zu geben und sie über die Auswahl zu informieren, bevor man Chancen kommentiert. Und das gilt vor allem in Zeiten, in denen Umfragen deutlich machen, dass die Menschen mit der Präsidentschaft und dem Zweiparteiensystem unzufrieden sind.

profil: Das beste Ergebnis, das ein „dritter Kandidat“ jemals eingefahren hat, waren die 19 Prozent des unabhängigen Kandidaten Ross Perot 1992. Der grüne Kandidat Ralph Nader erhielt 2000 mit 2,7 Prozent das bisher beste grüne Ergebnis. Wenn die Unzufriedenheit über das Zweiparteiensystem so groß ist, müssten die kleineren Parteien ja eigentlich besser abschneiden.
Stein: Noch bevor die landesweiten Medien über uns berichteten, erfuhr eine Million Menschen von unserer Kampagne und sagte uns ihre Unterstützung zu. Das ist ein sehr guter Start. Die Unzufriedenheit der Wähler ist sehr hoch. Wir wollen den Menschen die Möglichkeit geben, eine Partei zu wählen, die nicht von der Wall Street gekauft und bezahlt wird.

profil: Sie sprechen an, dass die Grünen wie alle Parteien, die in Umfragen unter 15 Prozent liegen, von den Fernsehstationen ignoriert werden.
Stein: Wir halten das für illegitim – weswegen wir diese Vorgangsweise auch anfechten wollen. Wer Kandidaten abseits von den beiden großen Parteien ausschließt, schließt damit auch Wähler aus.

profil: Sie lehnen Geld von Unternehmen oder von Lobby-Gruppen ab. Wie viel haben die Grünen bisher durch Spenden erhalten?
Stein: 250.000 Dollar – wobei der Großteil davon noch vom „Federal Matching Fund“ (dem Anspruch auf öffentliche Gelder, wodurch sich jede Spende bis 250 Dollar verdoppelt, Anm.) angehoben werden wird. Wir haben es dieses Jahr erstmals geschafft, Anspruch auf diese Gelder zu bekommen. Es gab mehr Spenden und freiwillige Helfer als jemals zuvor in der Geschichte der Grünen. Dass wir keine Lobby-Gelder annehmen, macht uns zur einzig integren, unabhängigen Partei.

profil: In jedem der 50 US-Bundesstaaten gelten unterschiedliche Kriterien, die man erfüllen muss, um zu kandidieren. Bisher stehen Sie in 21 Staaten auf dem Stimmzettel. Wie viele werden es am Tag der Wahl sein?
Stein: Wir sind auf dem besten Weg, auf 42 bis 46 Staaten zu kommen.

profil: Sie haben die interne Kandidatur gegen die Schauspielerin Roseanne Barr gewonnen, die seit der Sitcom „Roseanne“ jedem Amerikaner ein Begriff ist. Ralph Nader, der bisher erfolgreichste Kandidat der Grünen, war ein sehr prominenter Anwalt. Könnte ein bekannter Name hilfreicher sein?
Stein: Berühmtheiten können hilfreich sein, aber letztlich braucht man Politiker, um eine Partei aufzubauen.

profil: Ihre Forderungen entsprechen den Konzepten der grünen Parteien in Europa. Gibt es dafür eine Wählerbasis in den USA?
Stein: Unsere Anliegen bekommen immer mehr Gehör – die politische Ausrichtung ist egal. Ich bin politisch aktiv geworden, weil ich nicht dabei zusehen wollte, wie die Zukunft meiner Kinder den Bach runtergeht. Schauen Sie sich die Epidemie der chronischen Krankheiten der vergangenen Jahre an: Fettleibigkeit, Asthma, Krebs, Diabetes, Autismus, Lernschwächen. Es sind nicht unsere Gene, die sich verändert haben. Es krankt an unserem Gesundheitssystem. Es kostet uns über zwei Billionen Dollar pro Jahr, aber es macht uns nicht gesünder, dafür aber das Land ärmer.

profil: Obamas Gesundheitsreform ist ein Schritt in Richtung einer Krankenversicherung europäischen Zuschnitts. Das müssen Sie ihm bei aller Kritik doch wohl zugutehalten.
Stein: Solche Meilensteine gab es im Kleinen bereits, unter anderem in Massachusetts. Man schafft aber kein finanzierbares Gesundheitssystem, indem man nur komplexere bürokratische Ebenen hinzufügt. Das Gesundheitssystem, das Romney in Massachusetts eingeführt hat, war ein Nullsummenspiel – das beweisen unter anderem Studien der Harvard Medical School. Wer arm ist, bekommt die Kosten zwar ersetzt. Wer aber nur fast arm ist, der muss fünf Prozent seines Gehalts abgeben. Acht von zehn Personen haben auch weiterhin ein ernstes Problem, wenn sie krank werden.

profil: Romneys Gesundheitsreform ging den meisten Republikanern viel zu weit, und Obama waren letztlich auch die Hände gebunden.
Stein: Wir wollen eine Krankenversicherung für alle. Dafür müssen die Unkosten reduziert werden: 30 Prozent des Gelds werden für die Bürokratie aufgebraucht. In Massachusetts haben wir versucht, das zu ändern, was aber letztlich vom Gesetzgeber – zu 85 Prozent Demokraten – und auf Druck der Versicherungsunternehmen verhindert wurde. So und nicht anders funktioniert Washington.

profil: Wie wollen Sie den Einfluss von Lobby-Gruppen eindämmen?
Stein: Es braucht eine gleichberechtigte, öffentliche Parteienfinanzierung, damit sich Kandidaten nicht verkaufen und im Hinterzimmer Deals mit ihren Finanziers ausmachen. Jeder Kandidat soll denselben Zugang zu öffentlichen Geldern haben und entsprechende Medienaufmerksamkeit genießen. Wer darüber hinaus Gelder annehmen möchte, soll das tun – aber immerhin hat er keinen automatischen Startvorteil.

profil: Was sieht Ihre Agenda, der „Green New Deal“, vor, um das schwer defizitäre Staatsbudget wieder in Ordnung zu bringen?
Stein: Wenn man das Gesundheitswesen reformiert, kann man in den nächsten 20 Jahren mehrere Billionen Dollar einsparen. Auch die öffentlich finanzierte Hochschulbildung kann von Vorteil sein: Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielten Soldaten freien Zugang zum College. Es hat sich gezeigt, dass langfristig viel mehr Geld hereinkam, als ausgegeben wurde. Reduziert man die Militärausgaben, könnten 300 bis 400 Milliarden gewonnen werden. Und mindestens weitere 500 Milliarden kommen hinzu, wenn man Steuern für die Superreichen erhöht, eine Finanztransaktionssteuer einführt und die Steueroasen reguliert.

profil: Was wäre Ihr erster Schritt als Präsidentin der Vereinigten Staaten?
Stein: Ich würde die Öffentlichkeit dar-über informieren, dass eine Menge Rechnungen auf uns zukommen und dass unser „Green New Deal“ eingeführt werden muss, um dem wirtschaftlichen und klimatischen Zusammenbruch zu entgehen.

profil: Welche drei Dinge würden Sie verbieten?
Stein: Ich würde Heizöl und Benzin ersetzen und die gesamte Energieproduktion auf grüne Energie umstellen. Außerdem würde ich eine lokale, gesunde Lebensmittelindustrie aufbauen anstelle der krank machenden Industrienahrung.

profil: Wohin würde Ihre erste Auslandsreise gehen?
Stein: In einige jener EU-Länder, wo grüne Parteien Vorreiter sind.

profil: Gibt es Druck auf Sie, nicht anzutreten, um anderen Parteien nicht zu schaden?
Stein: Diesmal nicht. Als ich 2002 bei den Gouverneur-Wahlen gegen Romney angetreten bin, gab es vereinzelte Drohungen am Telefon und kleine Fälle von Vandalismus. Einige Briefkästen vor unserer Parteizentrale wurden demoliert – kleine Sachen, nichts Ernstes. Ich weiß nicht, wer dahintersteckt. Es gab immer wieder Andeutungen, dass man meine Kandidatur für destruktiv hält. Dieses Mal aber gibt es bisher nichts dergleichen, im Gegenteil: Ich bekomme enorm viel positives Feedback. Die Menschen freuen sich über eine vernünftige Stimme in diesem bitteren, inhaltslosen Wahlkampf. Die alteingesessenen Parteien sind wie Roboter – die Menschen haben genug davon.

Jill Stein, 62, ist die Präsidentschaftskandidatin der Grünen Partei in den USA. 193 Mitglieder stimmten beim Parteikonvent für die Ärztin aus Lexington, Massachusetts, während ihre Gegenkandidatin – die aus der Comedy-Serie „Roseanne“ bekannte Schauspielerin Roseanne Barr – mit nur 72 Stimmen auf Platz zwei landete. ­Ihre Vizekandidatin ist die ehemalige Obdachlose und prominente Menschenrechtsanwältin Cheri Honkala. Stein studierte in Harvard, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Sie trat zweimal erfolglos bei den Gouverneur-Wahlen von Massachusetts an.