Josef F.: Eine Stadt sucht den Mörder

Josef F.: Eine Stadt sucht den Mörder - Die mühselige Suche nach Gerechtigkeit

Die mühselige Suche nach Gerechtigkeit

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Josef F. hatte es eilig. „Ich nehme das Urteil an“, sagte er, noch bevor ihn die Richterin über seine Rechte belehren konnte. „Ich nehme das Urteil an“, sagte er anschließend noch zweimal. Er wollte die Sache hinter sich bringen. Er wollte raus aus dem Gerichtssaal. Vielleicht war er sogar ein wenig erleichtert über die Klarheit, die eine Verurteilung zu lebenslanger Haft letztlich bringt. Was richtig oder falsch ist, wird sich Josef F. in diesem Leben nicht mehr überlegen müssen. Ab sofort entscheiden andere für ihn. Und sie können es nur besser machen.

Die acht Geschworenen sprachen Josef F. in allen Anklagepunkten einstimmig schuldig. Offiziell brauchten sie vier Stunden für ihre Entscheidung. Aber wie unter den wartenden Journalisten etwas verärgert gemunkelt wurde, soll sich in dieser Zeit auch noch ein gemütliches Mittagessen ausgegangen sein. Lange Diskussionen über die Entscheidung waren offenbar nicht notwendig. Der heute 73-jährige F. hatte seine Tochter Elisabeth 24 Jahre lang in einem Kellerverlies eingesperrt, etwa 3000-mal vergewaltigt und sieben Kinder mit ihr gezeugt. Was sich im Keller des Amstettner Einfamilienhauses abspielte, war ein beispielloses, in seinen Dimensionen unvorstellbares Verbrechen. Das Urteil „lebenslang“ erhielt F. aber nicht für Vergewaltigung, Freiheitsentzug, Inzest oder den bisher in der österreichischen Rechtsgeschichte erst einmal verhandelten Anklagepunkt „Sklavenhandel“ – sondern für Mord. Der 1996 im Keller geborene Sohn Michael war 66 Stunden nach der Geburt gestorben, weil er keine medizinische Hilfe erhalten hatte. Sein Vater (und Großvater) habe den Tod des Babys bewusst in Kauf genommen, befanden die Geschworenen.

„Sein Verhalten war auf Dominanz aus, nicht auf Vernichtung“, hatte die Psychiaterin Adelheid Kastner bei der Präsentation ihres Gutachtens vor Gericht gesagt. Josef F. ist also möglicherweise kein Mörder – aber Mord ist nun einmal das einzige Delikt, das mit der Höchststrafe geahndet wird. Der Täter wird nicht weniger lange büßen, als er sein Opfer gequält hat. Das ist, wenn man so will, gerecht. Ob es juristisch einwandfrei ist, wird nicht mehr geprüft. Der Verurteilte hat auf alle Rechtsmittel verzichtet. Der Schuldspruch war der versöhnliche Abschluss von vier Verhandlungstagen, die den Nerven aller Beteiligten einiges abverlangten. Journalisten von rund 250 Medien aus aller Welt waren nach St. Pölten gekommen, um die Verurteilung des „Monsters von Amstetten“, wie Josef F. vom Boulevard gern genannt wurde, aus nächster Nähe zu verfolgen. Die Justiz bemühte sich redlich, vor so vielen Augen alles richtig zu machen und dennoch die Opfer zu schützen. Doch bei einem Fall dieser Größenordnung kann man nicht mehr beeinflussen, ob man kritisiert wird, sondern bloß noch, wofür.

Am ersten Prozesstag hat die Würde Justitias erst einmal Pause. Auf dem Platz vor dem Landesgericht herrscht Tumult. Weil nur 95 Journalisten Akkreditierungen für den Gerichtssaal haben, postiert sich der Rest vor dem Eingangstor. Geknipst und gefilmt wird alles, was sich bewegt. Zu den Motiven gehört leider Hubsi Kramar, verhaltensauffälliger Performancekünstler, der den Medienaufmarsch nicht ungenützt verstreichen lassen will. Er trägt ein goldenes Sakko und hat, nicht unschlau, nackte, mit roter Farbe bespritzte Babypuppen mitgebracht. So was gefällt den Fotografen erfahrungsgemäß. Außerdem noch im Einsatz: eine Aktivistengruppe namens „Resistance for peace“, eine Truppe Rechtsextremer, ein paar Selbstdarsteller ohne definierbare Mission. Österreich präsentiert sich der versammelten Weltpresse wieder einmal von seiner Schokoladenseite.

Ob man einen solchen Auflauf nicht verbieten könnte, will ein ausländischer Kollege wissen. Aber ja, könnte man. Leider stünde dann in den Zeitungen, dass Josef F.s schreckliche Taten höchstwahrscheinlich mit der eingeschränkten Meinungsfreiheit im Land zu tun haben. Im Gerichtssaal läuft es vorerst auch nicht nach Wunsch. Josef F. verbirgt sein Gesicht hinter einer blauen Ringmappe und weigert sich, den Reportern von ORF-Niederösterreich sein Herz auszuschütten. „Wie geht es Ihnen? Warum haben Sie das getan?“, fragen sie immer wieder. F. schweigt, und ausnahmsweise kann man ihn verstehen. Staatsanwältin Chris­tiane Burkheiser und Verteidiger Rudolf Mayer halten ihre Eröffnungsplädoyers, dann schickt Richterin Andrea Humer die Journalisten aus dem Saal.

Im eigens für die Prozessbesucher aufgebauten Zelt neben dem Gericht beginnt die Hauptbeschäftigung der nächsten Tage: warten. Worauf, ist nicht immer ganz klar, aber das macht es nicht einfacher. Vorgesehen ist, die Öffentlichkeit bis zur Urteilsverkündigung auszusperren, um die Privatsphäre der Opfer zu schützen. Es gibt folglich nichts zu tun, wofür sich Dienstreisen von weit her gelohnt hätten. Dafür gibt es daheim einen Chefredakteur oder Ressortleiter, der Content einfordert. Also interviewen die Journalisten einander. „Was halten Sie davon, dass die Öffentlichkeit ausgesperrt wird?“ – „Glauben Sie, dass Josef F. in allen Punkten schuldig gesprochen wird?“ – „Hat der Fall etwas typisch Österreichisches?“ – Ein deutscher Reporter seufzt beim Blick auf die Kollegen: „Es ist immer ein Zeichen von Verzweiflung, wenn wir anfangen, uns gegenseitig zu befragen.“

Die Medien sind in diesem Fall ein Teil der Story. Ohne die Massen von Journalisten gäbe es keine Jahrmarktstimmung, kein Partyzelt und keinen Leberkäseverkauf davor. An all dem schuld zu sein und es zugleich zu verurteilen ist ein Spagat, der auf die Dauer nicht funktioniert. „Wichtig ist, dass die Welt vereint ist in einem universalen Verlangen nach Skandalberichten und von abstoßendem Voyeurismus. Es ist ein Gegaffe in Mondovision“, schreibt etwa die „Südtiroler Tageszeitung“. Das alles wissen die Kollegen natürlich nur, weil sie auch dabei sind.

Die Stadt St. Pölten hätte auf den ganzen Rummel gern verzichtet. Der Ruf von Amstetten ist durch Josef F. bereits ruiniert, die Landeshauptstadt könnte es als Nächstes erwischen, wird befürchtet. Deshalb bemüht sich das Tourismusbüro um ein Rahmenprogramm. Journalisten sind ja bekanntlich wie kleine Kinder: Wenn ihnen fad ist, machen sie Dummheiten. Beim Eingang zum Pressezelt werden Info-Mappen verteilt, die auf bevorstehende Veranstaltungen wie das ­„Mittelalterspektakel“ zur 850-Jahr-Feier von St. Pölten hinweisen.

Am Montagabend lädt Bürgermeister Matthias Stadler die Prozesskiebitze zum „Get together“ ins Rathaus und betreibt bei Wein, Bier und belegten Brötchen sachte Imagepolitur. „Diese Einladung entspricht der österreichischen Gastfreundschaft“, sagt Stadler. Er hoffe, dass die Journalisten auch „die Schönheiten der Stadt“ zu sehen bekämen. Das ist nett gemeint, aber nicht ganz geschmackssicher. Um die hübsche Fußgängerzone von St. Pölten geht es nun wirklich nicht.

Am Dienstag wird vor Gericht das Video mit der Einvernahme von Elisabeth F. abgespielt. Elf Stunden lang erzählt sie darin von ihrem Martyrium im Keller. Wie später bekannt wird, ist sie selbst auch im Gerichtssaal. Sonst dringen keine Informationen nach draußen. Franz Cutka, Sprecher des Landesgerichts, kann wieder einmal nur mitteilen, dass er nichts sagen darf. Die Stimmung gleicht der Atmosphäre im Basislager eines Achttausenders nach drei Wochen Schlechtwetter. Leichte Anzeichen eines Lagerkollers werden sichtbar. Die ersten Prozessbesucher sind bereits abgereist.

Doch das ist ein Fehler. Am Mittwoch wird der Gerichtssaal überraschend wieder geöffnet. Das Gutachten der psychiatrischen Sachverständigen steht auf dem Programm. Richterin Humer fragt den Angeklagten, ob er vorher noch etwas sagen möchte. Unerwartet legt Josef F. ein umfassendes Geständnis ab. „Ich bekenne mich schuldig in allen Punkten der Anklage.“ Auch den Tatbestand Mord will er nicht mehr leugnen. Es sei ihm klar geworden, was er durch sein „krankhaftes Verhalten“ angerichtet habe.

Die Gutachterin erzählt von F.s zerrütteten Familienverhältnissen, der Lieblosigkeit seiner Mutter, der ständigen Angst des kleinen Buben vor dem Verlassenwerden. „Die Fähigkeit zu lieben und Empathie zu empfinden kann sich nur entwickeln, wenn man sie selbst als Kind erfahren hat.“ Später habe F. entdeckt, dass er „eine böse Seite“ habe. „Er konnte es kontrollieren. Aber sobald er die Kontrolle ein bisschen lockerte, drang es mit aller Macht aus ihm hervor.“

Die Berichterstatter haben endlich wieder etwas zu berichten. Allerdings fehlen diesmal die Bilder. Der ORF ist erst gegen Ende der Tagesordnung zugelassen und kann nur noch filmen, wie Anwalt Rudolf Mayer seine Sachen in eine Tasche packt: erst den dicken Aktenordner, dann eine kleine Flasche Mineralwasser, dann den Kugelschreiber; sehr ordentlich, sehr langsam. Eine Dokumentation über das Wachstum von Zehennägeln in Echtzeit könnte nicht beruhigender sein. Trotzdem werden die Aufnahmen auf den Flatscreens im Pressezelt übertragen und von den dort anwesenden Kameraleuten noch einmal aufgenommen. Wer weiß, wofür man sie braucht.

Um Martin Humer, mittlerweile 83 und bekannt als Pornojäger, war es zuletzt etwas still geworden. Am letzten Prozesstag rafft er sich auf und streunt durch St. Pölten. Die Stadt ist wieder voller Medienleute, und die meisten kennen ihn noch nicht. Sie lassen sich ohne Gegenwehr grüne Flugzettel in die Hand drücken, auf denen erklärt wird, warum die alljährliche Pornomesse in St. Pölten am Fall F. schuld ist. Im Gerichtssaal hält Staatsanwältin Burkheiser ihr Schlussplädoyer. Sie warnt die Geschworenen, das Geständnis des Angeklagten als Anzeichen von Reue zu werten. „Das ist kein Geständnis, sondern der Versuch, aus einer vorgetäuschten Schwäche eine Stärke zu machen.“ Anschließend sorgt Verteidiger Rudi Mayer für die übliche Dosis Operette, ohne die in Österreich kein Drama über die Bühne gehen kann. Wie schon bei seinem Eingangsstatement spricht er auch jetzt kaum über seinen Mandanten, sondern die meiste Zeit über sich selbst. Er, Mayer, sei nämlich bedroht worden. „Die Leute müssen endlich verstehen, dass ein Angeklagter und sein Rechtsanwalt verschiedene Personen sind.“

Draußen fällt immer noch Schnee, der Boden rund um das Zelt hat sich in zähen Morast verwandelt, von den Planen tropft es. Der Vorarlberger Gerichtspsychiater Reinhard Haller steht gut gelaunt in der Kälte. Er hat mit dem Fall F. eigentlich nichts zu tun, schreibt aber eine Prozesskolumne für die „Vorarlberger Nachrichten“ und teilt sein Fachwissen gerne mit jedem, der es anzapfen möchte. Bei einer Causa dieser Größenordnung kann einer wie er nicht einfach daheim ­bleiben.

Kurz nach 14 Uhr verkünden die Geschworenen ihre Entscheidung. Josef F. sitzt mit dem Rücken zum Publikum. Von hinten ist ihm keinerlei Reaktion anzumerken. Die Richterin verfügt seine Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher. Ab sofort darf man ihn einen Mörder nennen. Ob er wirklich einer war, ist angesichts seiner sonstigen Verbrechen auch schon egal.

„Als F. zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, ging ein Seufzer der Erleichterung durch Österreich“, schrieb der ­britische „Guardian“. Das Kapitel Amstetten kann bis auf Weiteres geschlossen werden. Sogar dem Täter scheint das recht zu sein.