Jubiläum

Jubiläum: Der verdrängte Bürgerkrieg

Der verdrängte Bürgerkrieg

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Es sind keine schlechten Köpfe, die in den kommenden Tagen und Wochen über einem der heikelsten Themen der österreichischen Zeitgeschichte brüten werden: Auch siebzig Jahre nach den tragischen Bürgerkriegstagen des Februar 1934 ist zwischen den staatstragenden Nachfolgeparteien noch fast alles ungeklärt.

War Bundeskanzler Engelbert Dollfuß der erste Widerstandskämpfer gegen Hitler oder ein überforderter Kleindespot? Hat die Radikalität der Roten die Diktatur herbeigezwungen, oder handelte die Rechte vorsätzlich? Hat der Ständestaat Hitler fünf Jahre lang abgewehrt oder ihm erst den Weg geebnet?

Seit in Österreich erstmals seit den fatalen dreißiger Jahren eine Mitte-rechts-Koalition regiert, brechen diese nur scheinbar in den Tiefen der Geschichte versunkenen Fragen immer öfter an die Oberfläche durch: in Parlamentsdebatten, bei Parteitagsreden, aber auch im Diskurs der gerne zitierten „Zivilgesellschaft“.

Zum Februar-Jahrestag geht man auf Antwortsuche.

Die Erzdiözese Wien präsentiert Größen der Geschichts- und Politikwissenschaft: Die Professoren Erika Weinzierl, Gerhard Botz, Anton Pelinka und der Schriftsteller Robert Schindel werden ab kommender Woche an vier Terminen im Wiener Otto-Mauer-Zentrum ihre Überlegungen vortragen. Altkanzler Franz Vranitzky und der Historiker Gerhard Jagschitz treten in der Volkshochschule Hietzing auf, wo auch eine 34er-Ausstellung eröffnet wird. An der Politischen Akademie der ÖVP referieren der Zeitzeuge Ludwig Steiner und der Münchner Historiker Gottfried Kindermann, der im Vorjahr ein umstrittenes Dollfuß-Buch veröffentlicht hat. Die SPÖ gedenkt ab sofort beinahe täglich. Am 12. Februar mündet die Serie von Kleinveranstaltungen in eine Großkundgebung mit Parteichef Alfred Gusenbauer und Bürgermeister Michael Häupl im Karl-Marx-Hof in Wien-Döbling.

Am meisten Aufmerksamkeit wird am selben Tag aber ein Parlamentssymposium finden, bei dem die fundiertesten Exponenten dieser Debatte aufeinander treffen: die Nationalratspräsidenten Andreas Khol und Heinz Fischer.

Bezeichnend ist die Vorgeschichte dieser Veranstaltung. Khol hatte den Sozialdemokraten im vergangenen Oktober vorgeschlagen, zwei Gedenktermine wahrzunehmen: einen im Februar, zum Jahrestag der Kämpfe; und einen zweiten am 25. Juli, dem 70. Todestag des von Nazi-Putschisten ermordeten Dollfuß.

Die SPÖ lehnte ab: Sie wolle nicht eines Mannes gedenken, der Demokratie und Parlament zerschlagen habe und Sozialdemokraten hinrichten ließ. Dass Dollfuß von einem gemeinsamen Feind umgebracht wurde, spreche ihn nicht frei.

Alarmglocken. Schon als Khol im April 2003 im Parlament das Kindermann-Buch präsentierte, gab es bei SPÖ und Grünen Aufruhr. Kindermann vertritt die Ansicht, Kanzler Dollfuß sei in Wahrheit ein heldenhafter Widerstandskämpfer gegen Hitler und großer österreichischer Patriot gewesen. Viel Schuld trügen die Sozialdemokraten mit dem von ihnen entfachten Klassen- und Kirchenkampf. Auch für die Ausschaltung des Parlaments signalisiert der Autor Verständnis.

Khol sei zunehmend „eine Hypothek für das Land“, schäumte SPÖ-Justizsprecher Hannes Jarolim; jetzt würden „alle Alarmglocken schrillen“, meinte der Vizeklubchef der Grünen, Karl Öllinger.

Zwei Jahre zuvor hatte es einen noch heftigeren Zusammenstoß gegeben. Als Khol im Verfassungsausschuss Dollfuß einen „Märtyrer und österreichischen Patrioten“ nannte, unterbrach ihn der SPÖ-Abgeordnete Günter Kräuter mit hochrotem Kopf: „Also ich sage Ihnen: Für mich und meine Fraktion ist Dollfuß ein schmieriger Faschist!“

Ob im Fall des kleinwüchsigen Kanzlers und seines „Ständestaats“ der Begriff „Austrofaschismus“ passt, wird selbst von kritischen Politologen bezweifelt: Faschismus erfordere nach strenger Definition das Vorhandensein einer aktiven Massenorganisation und einer starken Führerpersönlichkeit. Weder Dollfuß noch sein Nachfolger Kurt Schuschnigg hätten diese Kriterien erfüllt.

Auch der Terminus „Ständestaat“ sei irreführend, meint der „Parteihistoriker“ der ÖVP, Helmut Wohnout: Der so genannte „Ständerat“ habe in Wahrheit so gut wie nichts zu sagen gehabt.

Die Argumente der Streitparteien sind seit Jahrzehnten dieselben – und greifen dennoch oft zu kurz.

So stimmt es wohl, dass – wie ÖVP-Repräsentanten gerne anmerken – die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) 1926 in ihrem Parteiprogramm den Begriff der „Diktatur des Proletariats“ festschrieb. Das sei aber „das letzte Mittel“, heißt es im nie zitierten Folgeabsatz. Er werde dann angewendet, wenn „die Bourgeoisie“ gewaltsam eine durch Wahlen legitimierte Machtübernahme der SDAP verhindern wolle.

„Die Demokratie“, meint der SPÖ-nahe Historiker Helmut Konrad, „war kein außer Streit gestellter Wert – auch die Linke ist da nicht auszunehmen.“ „Demokratie, das ist nicht viel – Sozialismus heißt das Ziel“, skandierten Sozialdemokraten bei Aufmärschen.

Auch der Umstand, dass die SDAP 1931 den von den Christlichsozialen angebotenen Koalitionseintritt verweigerte, wird ihr als Teilschuld angerechnet. Die Sozialdemokraten hatten bei den Wahlen im Jahr zuvor – den letzten der Ersten Republik – 41 Prozent erreicht, die anstehende Budgetsanierung wollten sie wegen der unvermeidlichen sozialen Härten aber nicht mittragen.

Keine wirklich verantwortungsvolle Haltung.

Schuldfrage. Allerdings hatte die SDAP – obwohl in Opposition – im selben Jahr schon andere Sanierungsmaßnahmen im Nationalrat mitgetragen und auch dem Finanzausgleich zugestimmt, der dem Roten Wien schwere Einbußen brachte.

Salzburgs ÖVP-Landeshauptmann Franz Schausberger weist in seiner Habilitationsschrift als Zeithistoriker auf diesen Umstand hin: Zwischen 1929 und 1932 ortet Schausberger lange parlamentarische Konsensphasen.

Etwas eindeutiger ist die Schuldfrage auf der Seite der christlichsozial geführten Regierungen, in die die faschistischen Heimwehren als Koalitionspartner eingezogen waren. Selbst Andreas Khol scheut sich nicht, Dollfuß einen Diktator zu nennen. Ein „tragischer Held“ sei der kleine Kanzler aus Niederösterreich aber auch gewesen, schrieb Khol 1996 in einem Gastkommentar für profil, „ein charismatischer Kämpfer, trotz der Verächtlichmachung durch seine Gegner“.

War der 1892 unehelich geborene Sohn einer Bauerntochter das wirklich? Innerhalb von neun Jahren war er nach Ausbildung im Hollabrunner Priesterseminar vom kleinen Sekretär der niederösterreichischen Landwirtschaftskammer zum Bundeskanzler aufgestiegen.

Politische Orientierungsmöglichkeiten hatte Dollfuß kaum: Bei seinem Amtsantritt, 1932, wurde schon halb Europa autoritär regiert. Die Enge seines politischen Gesichtsfeldes wird besonders in seiner berühmten Rede am Katholikentag im September 1933 deutlich – einem Fanal der Antimoderne.

Es gelte jetzt „die Fehler der letzten 150 Jahre in der Geistesgeschichte unseres Landes“ wieder gutzumachen, hieß es da etwa. Denn nicht bloß hinter 1918 wollte Dollfuß zurück, sondern hinter 1789: Den Quell des Übels sah er in Aufklärung und Französischer Revolution. Den Staat wollte er „wie einen großen Bauernhof“ führen, „wo der Bauer mit seinen Knechten nach gemeinsamer Arbeit abends am gleichen Tische aus der gleichen Schüssel isst“.

Zu dieser Zeit überquerten bereits Flugzeuge den Atlantik.

„Felsenfestung Wien“. Geradezu reflexhaft hatte dieser stets nach rückwärts gewandte Politiker im März 1933 das Parlament zerschlagen, nachdem sich der Nationalrat bei einer Abstimmungspanne eine Blöße gegeben hatte.

Dollfuß stand überdies unter dem Druck seines Mentors, des italienischen „Duce“. Im Juli 1933 ließ Benito Mussolini dem unerfahrenen Österreicher eine eindeutige Depesche übermitteln: Es sei Zeit für „Reformen in entschieden faschistischem Sinn“. Den Sozialdemokraten sei „in ihrer Felsenfestung Wien“ ein Schlag zu versetzen. Wenn weiterhin so nachsichtig vorgegangen werde, überlasse man damit „den Nazis die Waffe des Antimarxismus“ – die würden sich dann „als Retter aufspielen“.
Er bemühe sich, schrieb Dollfuß sinngemäß zurück.

Dollfuß sei ein „Präventiv- und Imitationsfaschist“ gewesen, konstatiert der Salzburger Historiker Ernst Hanisch.

Selbst Granden in Nazi-Deutschland wunderten sich: Österreich mache „in der eigenen Staatsstruktur genau alles dem deutschen Nationalsozialismus nach“, notierte Hermann Göring 1937. Vom „Überhitlern des Nationalsozialismus“ schrieb Heimwehrführer Odo Neustädter Stürmer.

Dollfuß – erster Kämpfer gegen die Nazis? Er war eines ihrer ersten Opfer, das konzedieren auch die unversöhnten Sozialdemokraten. Aber das Ausschalten des linken Lagers als Bündnispartner im Kampf gegen Hitler hätte dessen Triumph erst ermöglicht.

Auch die Intellektuellen waren in ihrem Urteil nicht eindeutig: Karl Kraus bekundete, nach der Ermordung Dollfuß’ in Tränen ausgebrochen zu sein, und wurde von Bertold Brecht brieflich verhöhnt. Sigmund Freud vermutete in einem Brief im Februar 1934: „Wir werden halt einen Faschismus österreichischer Art bekommen“, der aber „bei all seiner Kläglichkeit“ besser zu ertragen sein werde als die Nazis.

„Unsere Faschisten waren Amateure der Bestialität“, konstatierte der Salzburger Schriftsteller Jean Améry, nachdem er Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt hatte.

Gemäßigtes Urteil. Im Nachklang der Nazi-Gräuel fiel selbst das Urteil der Linken über Dollfuß oft recht milde aus: „Auch seine Gegner können ihm sein leidenschaftliches Österreichertum, seine Energie im Kampf gegen den Nazismus nicht absprechen“, schrieb KPÖ-Chefideologe Ernst Fischer im Juli 1945 in der Zeitung „Neues Österreich“. Der Kommunist prägte in diesem Artikel einen Satz, den heute Andreas Khol gerne verwendet: „Die Demokraten waren zu wenig österreichische Patrioten, die österreichischen Patrioten zu wenig Demokraten.“

Tatsächlich hatte das Wort Österreich in der Ersten Republik für viele Rote ein unangenehmes Aroma: Es schmeckte ihnen nach Habsburg, Restauration und Kleinstaaterei. Ihren Sozialismus glaubten sie nur in einem großen Deutschland verwirklichen zu können. Otto Bauer, Bruno Kreiskys großer Lehrer, glaubte das bis zu seinem Tod im Pariser Exil, 1938.

Es blieb bei Österreich. „Deutschland ist uns von den Nazis ausgetrieben worden“, schrieb der spätere SPÖ-Vorsitzende Adolf Schärf 1945 an einen deutschen Genossen.

Jetzt war Burgfriede angesagt. Der eben erst aus dem Nazi-KZ heimgekehrte Bundeskanzler Leopold Figl gab am 12. Februar 1946 im ÖVP-Pressedienst die Parole aus: „Schauen wir nicht mehr nach rückwärts, sondern nur noch vorwärts … Machen wir Schluss mit den Schlagworten von Austromarxismus und Austrofaschismus, die uns heute nichts mehr sagen.“

Figl hatte als Reichsbauernführer des Ständestaats großes Interesse an einem Schlussstrich. Andere waren mehr belastet. Dem ehemaligen Heimwehrführer Julius Raab wurde von den US-Besatzern 1945 sogar ein Regierungsamt verwehrt. Raab, von 1953 bis 1961 Bundeskanzler, hatte 1930 das berüchtigte „Korneuburger Eid“-Treffen der Heimwehr organisiert. Textprobe: „Wir verwerfen den westlichen demokratischen Parlamentarismus und Parteienstaat.“

Andere hatten weniger Probleme. Emanuel Stillfried-Ratowitz, 1934 Leiter des Anhaltelagers Wöllersdorf, in dem neben hunderten anderen Roten auch der 22-jährige Bruno Kreisky inhaftiert war, stieg 1945 gleich wieder als Oberst der niederösterreichischen Gendarmerie ein.

Während sich die Spitzen von SPÖ und ÖVP redlich bemühten, den „Burgfrieden“ nach außen hin zu wahren, wurde das bittere Gedenken im Parteiinneren an jedem 12. Februar mit Vorträgen und Kranzniederlegungen gepflegt.

Die ÖVP bemühte sich, die Sozialisten nicht zu reizen. Bereitwillig gestand sie zu, dass auch Widerständler gegen den Ständestaat ins Opferfürsorgegesetz aufgenommen wurden.

Der Schock bei den Sozialdemokraten, das erkannte auch die Volkspartei, saß tief. Bis ins Jahr 1999 bestand die SPÖ in großen Koalitionen darauf, dass Verteidigungs- und Innenministerium nicht im Machtbereich derselben Partei sein dürfe.

Das prinzipielle Nein zu einem Berufsheer, von dem maßgebliche Vertreter der SPÖ erst vor wenigen Jahren abrückten, war ebenfalls eine Spätfolge des blutigen Februars.

Kreiskys Trauma. Niemand war von 1934 aber so traumatisiert wie Bruno Kreisky, der wie Anton Benya monatelang inhaftiert gewesen war. Als ein ÖVP-Abgeordneter in den siebziger Jahren während einer hitzigen Nationalratsdebatte einmal meinte: „Mit dem 34er-Jahr können Sie mir den Hobel ausblasen“, platzte der Kanzler beinahe vor Wut.

Immer wieder kam es zu Scharmützeln. 1988 wollte Nationalratspräsident Leopold Gratz am Parlament eine Tafel mit den Namen von Abgeordneten anbringen, die Opfer des Faschismus wurden. Nach Ansicht von Gratz zählte dazu auch der unter Dollfuß hingerichtete Sozialdemokrat Koloman Wallisch. Die Zweite Nationalratspräsidentin Marga Hubinek (ÖVP) wies das Ansinnen scharf zurück.

Als die Gemeinde Wien 1992 das Grundstück um die Kuffner Sternwarte in Wien-Ottakring übernahm, ließ sie das dort stehende Dollfuß-Denkmal sofort demontieren. Es verschwand in einem Lager der Magistratsabteilung 29 (Brückenbau). Der Wunsch von ÖVP-Obmann Erhard Busek, das Monument im Dollfuß-Geburtsort Texing aufzustellen, stieß auf den Widerstand der niederösterreichischen SPÖ: „Faschistoides Gerümpel.“

Museum. Dafür eröffnete wenig später Landeshauptmann Erwin Pröll in Texing ein Dollfuß-Museum. Ein „großer und mutiger Patriot im verzweifelten Abwehrkampf gegen den Nationalsozialismus“ sei Dollfuß gewesen, so Pröll damals.

Aber auch die sozialdemokratischen Kanzler ließen es zu, dass in der Hauskapelle des Kanzleramts alljährlich am Todestag Dollfuß’ eine Messe gelesen wird.

Eine Renaissance erfuhr die Dollfuß-Debatte nach der Amtsübernahme der Wenderegierung im Februar 2000. Bei der Protestkundgebung am Heldenplatz warnte der Komponist György Ligeti vor einem „Weg, der schon von Engelbert Dollfuß beschritten wurde“. Der inzwischen verstorbene Schriftsteller H.C. Artmann erwartete sich vom Kabinett Schüssel I „einen frisch-fröhlichen Austrofaschismus in pseudodemokratischem Habitus“.

So kam es denn doch nicht.

Und auch wenn im ÖVP-Parlamentsklub nach wie vor das viel diskutierte Dollfuß-Bild hängt, haben jüngere Exponenten der ÖVP eine höchst differenzierte Sicht der Dinge: „Dollfuß hat gegen die Nazis gekämpft, er hat aber auch ein autoritäres Regime etabliert“, meint ÖVP-Klubobmann Wilhelm Molterer, „und ich hielte es für verkürzt, wenn man alles mit dem Kampf gegen die Nazis rechtfertigt.“

Rechtzeitig zum Jubiläum rutscht das Thema noch einmal auf die aktuelle Tagesordnung: Eher durch Zufall wurde bemerkt, dass zwar die NS-Justizopfer rechtlich rehabilitiert wurden, nicht aber die im Ständestaat Hingerichteten. Grünen-Chef Van der Bellen: „Unglaublich, dass die SPÖ in der Zeit ihrer Alleinregierung da nichts unternommen hat.“ Zum Jahrestag der Februar-Kämpfe will SP-Justizsprecher Hannes Jarolim einen „Antrag zur Aufhebung der Schand- und Terrorurteile des austrofaschistischen Regimes“ einbringen.

Über diese Formulierung dürfte demnächst heftig gestritten werden.