Theodor Adorno

Jubiläum: Der Salon-Radikale

Der Salon-Radikale

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Auschwitz
Der berühmte Satz lautet richtig so und nur so: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch“ – aber er geht noch weiter: „und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ Natürlich wurden weiter Gedichte geschrieben, kaum eines gescheit genug für die Adorno’sche Dialektik, die einfach nicht vergisst, dass die Kulturindustrie mit Vorliebe ihre Kritiker frisst.

Beckett
Anlässlich eines gemeinsamen Mittagessens erläuterte Adorno dem Dichter Samuel Beckett, dass der Hamm in Becketts „Endspiel“ doch ohne Zweifel vom Shakespeare’schen Hamlet herrühre: Ham-let = Hamm. Beckett bestritt das. Adorno wusste es aber lieber besser. Am gleichen Abend hielt Adorno einen Vortrag zu Ehren und im Beisein von Beckett. Wieder leitete er den Hamm von Hamlet her. Beckett beugte sich zu seinem Verleger Siegfried Unseld und flüsterte ihm ins Ohr: „Das ist der Fortschritt der Wissenschaft, dass Professoren mit ihren Irrtümern weitermachen können!“ Natürlich ist auch Adorno längst den Professoren anheim gefallen.

Chaos
Ein Satz, dessen Ursprung fünfziger-jahrehafter gar nicht zu denken ist: „Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen.“ Was Kunst sei und zu was nütze, dieses Thema wurde bei den damals üblichen Wander- und Rundfunkvorträgen immer wieder gern genommen. Andererseits: Wo findet sich heute Kunst, die sich nicht ins Wartezimmer anlagebewusster Zahnärzte hängen lässt, bzw. was verleitet den Malerfürsten Jörg Immendorf dazu, Rechenschaft über seine ausschweifenden Leidenschaften ausgerechnet in der „Bunten“ und in „Bild“ abzulegen?

Deutsch
Während Theodor W. Adorno und Max Horkheimer und viele andere in die Emigration mussten, während sich der Philosoph Walter Benjamin und viele andere im Ausland umbrachten, galt zu Hause, dort, wo ihre Heimat war, wo sie aber nicht mehr sein durften, der neue und natürlich eherne Grundsatz, wonach Deutsch sein heiße, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun. Nicht ganz in einer anderen Welt, in Kalifornien, notierte Adorno den Satz: „Ein Deutscher ist ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben.“ Das ist nun fast sechzig Jahre her, und wenn „ein Deutscher“ heute grundsätzlich nichts glaubt und überall, vor allem regierungsseits, zuerst und zuletzt Lüge und Propaganda vermutet, dann ist das vor allem Adornos wiederholtem Hinweis auf den Verblendungszusammenhang zu verdanken. Aber dann lässt es sich die Kulturindustrie, von Adorno als die noch viel größere Lüge angegriffen, noch besser gehen als je zuvor. Wo ist Adorno, wenn man ihn bräuchte?

Emigration
„In der Erinnerung schmeckt jeder deutsche Rehbraten, als wäre er vom Freischütz erlegt worden.“ Er war ein lyrischer Aphoristiker.

Fortzusetzen
Mit diesem Wort (eingeklammert) endete die erste Ausgabe der „Dialektik der Aufklärung“, 1947 erschienen in Amsterdam. Eine Fortsetzung ist nie erschienen. Sie fehlt ebenso wie der zweite Band von Aristoteles’ „Poetik“ oder jener der „Toten Seelen“ von Nikolaj Gogol.

Gesellschaftskritik
„Das Ganze ist das Unwahre.“

Heidegger, Martin
Das Gestell ist das Gestelzte, und niemand wusste das besser als Adorno, der Heidegger einen „Jargon der Eigentlichkeit“ vorhalten musste. Der Adorno-Lehrer Siegfried Kracauer fand die Erkenntnisse seines groß gewordenen Schülers „ausgeleierten Tiefsinn“ und bescheinigte ihnen, und das beweist nun wirklich dialektische, ja eine geradezu adornitische Schärfe, „eine Radikalität, die es sich gut gehen lässt“.

Ich
„Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.“ Diese Unverschämtheit, diese Arroganz! Aber hat er nicht Recht? „Der Splitter in deinem Auge“, lautet der nächste Eintrag in den „Minima Moralia“, „ist das beste Vergrößerungsglas.“

Jugend
Über den Polizeimord an dem Studenten Benno Ohnesorg konnte sich Adorno 1967 noch empören; als die Studenten sich aber immer mehr angegriffen fühlten und immer aggressiver auftraten, musste ihnen Adorno endlich die Sympathie versagen. Sein Feld, so erklärte er wiederholt, sei die Theorie und nicht die Praxis. Im Jahr 1969 wurde das Frankfurter Institut für Sozialforschung von Studenten besetzt, Adorno holte die Polizei, um es wieder räumen zu lassen. Unter den Revolutionären befand sich der später als Joseph Fischer bekannt gewordene deutsche Außenminister. Eine weibliche Kampfgruppe setzte dem Professor schließlich hautnah zu, stellte ihn vor der Tafel und umtanzte ihn mit entblößten Brüsten. Adorno, und wer wollte ihm das verdenken, fand das nur degoutant.

Kracauer, Siegfried
Der Schriftsteller und Journalist war durchaus ein wenig verliebt in den 15-jährigen Knaben mit dem lockigen Haar, der jeden Samstag zu ihm kam, um mit ihm nichts Geringeres als Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ durchzunehmen. „Etwas Unvergleichliches hat er uns beiden voraus“, schrieb Kracauer später in einem Brief, „ein herrliches äußeres Dasein und eine wundervolle Selbstverständlichkeit des Wesens. Er ist schon ein schönes Exemplar Mensch; wenn ich auch nicht ohne Skepsis gegen seine Zukunft bin, so beglückt mich doch seine Gegenwart.“

Lustig
Auch wenn wir auf die Dissertation „Über das Komische im Werk Th. W. Adornos“ noch länger werden warten müssen, liefert der Meister bereitwillig Anlässe zum Amüsement, nicht zuletzt, wenn er sich über den Terror genau dieses Amüsements auslässt. Mit dem ganzen Hass, den ein heimatvertriebener Liebhaber alles Deutschen nur aufbieten kann, durchschaut Adorno in Amerika das böse Amerika. Dort wurde die Kulturindustrie geboren, von dort aus überzieht sie die ganze Welt. Und denkt mal – hat er nicht Recht? Sind nicht Madonna und, schon wieder weniger, Michael Jackson Leitbilder auch außerhalb der USA, verehrt und zur Nachfolge einladend wie die Heiligen nicht im finstersten Mittelalter? In seinem maßlosen Hass geißelt Adorno auch noch den Hollywood-Film, der zu seiner Zeit übrigens ganz wesentlich von Emigranten aus Europa bestimmt wurde. Aber bei Adorno wird kein Pardon gegeben: „Der Triumph übers Schöne wird vom Humor vollstreckt, der Schadenfreude über jede gelungene Versagung. Gelacht wird darüber, dass es nichts zu lachen gibt. Allemal begleitet Lachen, das versöhnte wie das schreckliche, den Augenblick, da eine Furcht vergeht. Es zeigt Befreiung an, sei es aus leiblicher Gefahr, sei es aus den Fängen der Logik.“ Fast möchte man den armen Mann bedauern, wenn man ihn sich im Kino vorstellt, wo er verbittert dasitzt, während alles um ihn herum in das Lachen der Befreiung auf der Leinwand einfällt; er kann das nicht komisch finden. So tief muss er unter sein Niveau gehen, um ein Phänomen der äußersten Oberfläche zu entlarven? Kein Wunder, dass ihm dazwischen der reine blühende Blödsinn entquillt: „Fun ist ein Stahlbad.“ Wenn deutsche Professoren züchtigen wollen, zeigen sie eine Affenliebe zu den eigenen Irrtümern.

Musik
„Alles Schönbergische ist heilig.“ Aber auch alles Alban-Bergische, Webern’sche, das Mahler’sche schon wieder weniger. Unsterbliche Sätze über Musik finden sich bei Adorno, Unsägliches über Musiksoziologie, Rührend-Lächerliches zum Jazz.

Philosophie
„Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie …“ – und jetzt kommt der dialektische Weltmeister als Taschenspieler: „… wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellen.“ Außerdem: Potpourri mochte Adorno gar nicht.

Revolution
Die „Situation ist so grauenhaft, so erstickend und erniedrigend, dass die Rebellion gegen sie zu einer biologischen physiologischen Reaktion zwingt: Man kann es nicht mehr ertragen, man erstickt und muss sich Luft schaffen“, schrieb Herbert Marcuse 1969 an den Freund und Konkurrenten aus Kalifornien nach Frankfurt. Und wenn ihm die revolutionäre Aktion hundert und tausend Mal suspekt war, Adorno wollte sich nicht mit den bestehenden Verhältnissen abfinden. Die Studenten spotteten über den „Muff aus 1000 Jahren“, der an der Universität herrsche, und in einem Gespräch vor seinem Tod wünschte sich Adorno, „in diesen Muff einige Funken zu bringen, der ihn dann möglicherweise doch explodieren lässt“. Für die Konservativen, die ihn noch heute lieber fürchten, statt als einen der Ihren zu feiern, hat er mit seinen „ungedeckten Gedanken“ dem Terror den Weg bereitet.

Strauß, Botho
„Hier“, so beginnt eine wunderliche Begegnung, so endet ein wunderliches Buch, „hier unter den Kolonnaden des Café Quadri saß im Sommer 1969 das traurige Trugbild eines alten Mannes, dem ich niemals begegnet war und den ich gleichwohl verehrte wie keinen zweiten; da saß der berühmte Philosoph, der kahle Rundschädel, den ich von Fotos kannte, die dunklen, runden Augen, die vom Äußerlichen und Sichtbaren, vom Bildnerischen weniger belebt zu werden schienen als vom Gehör, vom Verstehen, vom Zeit-Spiel. Er saß allein und allein gelassen an einem Caféhaustisch mitten in einem wüsten Touristenstrom, und ich starrte ihn an und ich war sicher, nur er könnte es sein, von dem ich so viel in mich hineingedacht hatte. Wenig später erfuhr ich dann aus der Zeitung, dass er gerade in jenen Sommertagen, vielleicht an demselben, da ich ihn in Venedig sah, gestorben war in einem Schweizer Hospital.“ Es handelt sich hier um einen Vatermord, den Botho Strauß 1981 am Ende seiner „Paare Passanten“ begeht. Die Kritische Theorie, die „Negative Dialektik“, vor allem aber Adornos philosophische Feuilletons „Minima Moralia“ haben eine ganze Generation das eigenständige Denken gelehrt. Dieses kritische Bewusstsein ist natürlich des Teufels, jedenfalls wenn man wie Strauß selber ins Priesterliche strebt. Es ist einfach zu – ja, zu negativ! „Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dümmer, aber es muss sein: ohne sie!“ Muss es sein? Für Botho Strauß offenbar schon.

Triumph
„Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen.“ Mit diesem einleitenden Satz der „Dialektik der Aufklärung“ beschreiben Adorno und Horkheimer auch ihr eigenes Programm. Bereits mit dem nächsten Satz wird das Projekt der Aufklärung für gescheitert erklärt: „Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“

Utopie
Erst neuerdings darf Adorno wieder katholischer Herkunft und Prägung sein. Die Reihe von Neuerscheinungen zu seinem 100. Geburtstag widmet sich besonders gründlich seiner großbürgerlichen Jugend, dem Urlaubsidyll von Amorbach im Odenwald, dem Aufwachsen unter Frauen. Die Kindheit ist wieder das Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann. Auf seine labyrinthische Art hat Marcel Proust dieses Paradies wieder und wieder aufgesucht und beschrieben. Für Adorno gab es diese Möglichkeit des anfallsartigen Erinnerns kaum, aber manchmal gewährt er einen Einblick in das Glück und Unglück seiner ersten Jahre: „Früh in der Kindheit sah ich die ersten Schneeschaufler in dünnen schäbigen Kleidern. Auf meine Frage wurde mir geantwortet, das seien Männer ohne Arbeit, denen man diese Beschäftigung gebe, damit sie sich ihr Brot verdienten. Recht geschieht ihnen, dass sie Schnee schaufeln müssen, rief ich wütend aus, um sogleich fassungslos zu weinen.“

Verdinglichung
Adorno kam aus der Emigration nach Deutschland zurück, in die Bundesrepublik, baute mit Horkheimer das Institut für Sozialforschung auf und widmete sich nun Untersuchungen der Bundesrepublik nach Maßgabe der neuesten amerikanischen Soziologie. Die Entfremdung, die Karl Marx im Jahrhundert davor benannt und beklagt hatte, schien sich dem noch immer nicht ganz geläuterten Marxisten Adorno in der Bundesrepublik und dort in der „verwalteten Welt“ zu bestätigen. Der autoritäre Charakter, der ihm die Nazi-Barbarei möglich gemacht hat, hat sich in den „Typus des verdinglichten Bewusstseins“ verwandelt. „Erst haben die Menschen, die so geartet sind, sich selber gewissermaßen den Dingen gleichgemacht. Dann machen sie, wenn es ihnen möglich ist, die anderen den Dingen gleich.“ Adorno wäre auch als Globalisierungskritiker nicht schlecht.

Wahrheit
Als Philosoph, der er trotzdem kaum war, beschäftigten Adorno selbstverständlich auch Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. Dass das Ganze das Unwahre sei, versteht sich bei diesem Totalzweifler von selbst, und ebenso, dass es im richtigen Leben kein falsches gebe. Fast beiläufig taucht in den „Minima Moralia“ der Satz auf, der das ganze Adorno’sche Werk, philosophisch oder nicht, erschließt: „Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen.“ Geht es schöner?

X wie Welträtsel
„Wie gewissenhaft und prunkend gedacht wurde, noch zu meiner Zeit!“, stoßseufzt Botho Strauß, ehe er (siehe weiter oben) der Dialektik den Abschied gibt, dass es raucht.

Zitat
Eckhard Henscheid überliefert in seiner Diskursanalyse „Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte“ die einzig wahre unter den vielen garantiert wahren Adorno-Anekdoten: „Um die verzweifelte Stimmung, welche die ‚Frankfurter Schule‘ um das Jahr 1933 herum befallen hatte, etwas aufzulockern, veranstaltete Max Horkheimer eines schönen Tages einen kleinen Wettstreit. Derjenige sollte Sieger und der beste Kritische Theoretiker sein, der das Reflexivum sich am weitesten postponieren (nachstellen) konnte. ‚Das hört sich gut an!‘‚ rief Erich Fromm und schied sofort aus. ‚Jetzt wird sich mal zeigen‘, schrie begeistert Herbert Marcuse, ‚wer was drauf hat im Kopf!‘ – und natürlich sah damit auch er kein Land. Etwas geschickter stellte sich Walter Benjamin an, der mit einem ‚Der Marxismus muss mit dem Judentum sich verbrüdern!‘ zum Erfolg zu kommen hoffte. Habermas hatte offensichtlich die Regel missverstanden oder was, jedenfalls schied er mit seinem Beitrag ‚Sich denken bringt wahre Selbstreflexion des Geistes‘ aus, und auch Pollock brachte es mit einem ‚Gott ist an sich im Himmel‘ nicht recht weit, ja er wurde sogar mit Schulverweis bedroht (nachher wollte er es ironisch verstanden haben usw., was aber vor allem Marcuse bestritt, während Fromm irgendwie mit der ganzen Welt verkracht war und nur verbissen an seiner Rache bzw. einem Bleistift kaute) – jedenfalls legte nun lächelnd Max Horkheimer mit dem Satz ‚Die Judenfrage erweist in der Tat als Wendepunkt sich der Geschichte‘ einen echten Hammer vor, indessen, nicht zu glauben, dass auch dies noch übertroffen werden konnte: Sieger wurde und sein Meisterstück machte nämlich Adorno mit dem seither geflügelten Satz: ‚Das unpersönliche Reflexivum erweist in der Tat noch zu Zeiten der Ohnmacht wie der Barbarei als Kulmination und integrales Kriterium Kritischer Theorie sich.‘ – Selten ein schönerer, ein rührenderer Anblick als der, da Max Horkheimer mit den Worten ‚Brav, sehr brav‘ dem Jüngeren über den schon haarlosen Kopf strich und ihm als Siegestrophäe Fritzi Massary überreichte.“

Willi Winkler ist freier Journalist (u. a. für die „Süddeutsche Zeitung“) und lebt in Hamburg. 2002 erschien sein Buch „Kino. Kleine Philosophie der Passionen“ (dtv).