Jubiläum

Jubiläum: Wolfgang Thatcher? Maggie Schüssel?

Wolfgang Thatcher? Maggie Schüssel?

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Die beiden Künstler waren benommen. „Erstaunt und freudlos taumle ich in den Rest des Sonntags“, gibt Peter Turrini für ein anfragendes Magazin zu Protokoll. „Dieser Geburtstag, den ich heute feiere – es ist der 50. – ist der erste, den ich vor allem kopfschüttelnd verbringe“, schreibt der Filmer Ulrich Seidl nieder.

Es ist der Abend jenes denkwürdigen 24. November 2002, an dem Wolfgang Schüssel – damals 57 – die ÖVP erstmals seit 32 Jahren wieder zur stärksten Partei macht.

Noch nie zuvor in der Geschichte der Zweiten Republik hatte ein Politiker bei Nationalratswahlen so viel hinzugewonnen, mehr als 15 Prozentpunkte. Den Koalitionspartner hatte Schüssel bis an seine Existenzgrenze ausgesaugt: 600.000 der 1,2 Millionen FPÖ-Wähler von 1999 wählten schwarz.

Die taktische Meisterleistung, die er im Zuge dieses Aderlasses hingelegt hatte, zeigte sich in der ersten Reaktion des blauen Wahlverlierers Herbert Haupt: Der wünschte sich in der Stunde der Zertrümmerung seiner Partei nichts anderes als eine Fortsetzung der Koalition mit der ÖVP.

Während Turrini taumelte und Ulrich Seidl kopfschüttelnd Geburtstag feierte, trudelten Glückwünsche aus aller Welt ein.
„Eine große europäische Führungspersönlichkeit“ sei Freund Wolfgang, befand Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi („Forza Wolfgang!“).

„Ich bin begeistert“, kabelte der einstige Zar von Bulgarien Simeon Saskoburgotski, jetzt Regierungschef.
Bloß Kaisersohn Otto Habsburg-Lothringen befand etwas schräg: „Die Freiheitliche Partei hat dem Land hervorragend gedient.“

„Was macht er mit dem Sieg?“, hieß es auf dem profil-Cover.
Ein Jahr danach weiß man es – Schüssel arbeitet konsequent an seiner Idee von einem ganz anderen Österreich: schlanker und moderner in der Wirtschaft, standfest in den Fragen der europäischen Integration, kleinmütig in der Flüchtlingsfrage, oft rückwärts gewandt im ideologischen „Überbau“ und kaltschnäuzig in der Sozialpolitik.

Schüssel weiß, wo er hinwill, und er strebt seine Ziele mit dem Trotz eines alten Schlachtrosses an.

Nachgegeben wird nur bei Details, an den viel zitierten „Eckpunkten“ lässt er nie rütteln.

Den 10-Prozent-Deckel bei der Pensionsreform – größer durften die Einbußen nicht ausfallen – hätten ihm in Wahrheit nicht die Gewerkschaften abgerungen, sondern Jörg Haider, berichten Eingeweihte.

Eisenbahner. Geradezu symbolhaft ist die Zeit rund um den ersten Jahrestag von Schüssels großem Triumph vom mühsam beigelegten Aufeinanderprallen der tiefroten Eisenbahner mit der schwarz-blauen Wenderegierung überlagert.

Schüssel, ein politisches Instinktwesen, macht etwas aus Macht.

„Er ist seit langem der erste Bundeskanzler, der weltanschaulich angebundene Politik betreibt“, konstatiert „News“-Chefredakteur Peter Pelinka, dessen Buch „Wolfgang Schüssel – eine politische Biographie“ am Mittwoch präsentiert wird.

Führungsstärke und Gestaltungswillen – diese Eigenschaften sind dem schwarzen Kanzler wahrlich nicht abzusprechen.
Am Wahlabend sei Schüssel inmitten des Jubels relativ gelassen geblieben, erzählt ein zentraler ÖVP-Funktionär. Während der Niederösterreicher Erwin Pröll vor Begeisterung das Hemd durchschwitzte und Generalsekretärin Maria Rauch-Kallat demütig dem Herrgott dankte, „dass er unserem Wolfgang Schüssel die Kraft gegeben hat“, freute sich der kühle Kalkulierer mit den Seinen, ohne je die Kontrolle aus der Hand zu geben.

Kurz nach der Wahl, so ein Teilnehmer der Runde, habe man sich dann zusammengesetzt und beraten, wie es weitergehe. Der Großteil der Spitzenfunktionäre sei für Schwarz-Rot gewesen, Ernst Strasser und Wilhelm Molterer plädierten für Schwarz-Grün. Bloß Andreas Khol war für einen Zweitversuch mit Schwarz-Blau.

Das wollte auch Schüssel, der allerdings tat, was er oft tut: Er schwieg.

Genau drei Monate später trat die neue Koalitionsregierung aus ÖVP und FPÖ zur Angelobung bei Bundespräsident Thomas Klestil an, der als Zeichen des kleinen Protestes die Außenministerin wie schon bei der ersten Angelobung „Benito“ nannte.

Diesmal war man nicht mehr durch den Fluchttunnel in die Präsidentschaftskanzlei gegangen, sondern praktisch unbehelligt über den Ballhausplatz.

Am Tag der Regierungserklärung versammelte sich gerade ein Häuflein von Juso-Aktivisten an der Ecke des Rathausparks, um zu protestieren. Auf einen Demonstranten kamen etwa 25 Polizisten.

Vom Widerstand der „Zivilgesellschaft“ wird das Kabinett Schüssel II nicht mehr belästigt.

Mancher ihrer einstigen Vordenker scheint inzwischen im Lager des Triumphators gelandet zu sein. Die Wähler hätten eben den „billigen Rummel“ um die Bildung der schwarz-blauen Regierung durchschaut, meinte etwa der Philosoph Rudolf Burger. Er erwarte jetzt „ein Ende der Verdächtigungen einer Wiederkehr des Faschismus“.
Jeder entdeckte nun seinen ganz persönlichen Schüssel.

Heilige Dreieinigkeit. Selbst der FPÖ-Ideologe Lothar Höbelt lief ins schwarze Lager über und begründete dies mit Griff in historische Mottenkisten: Ihn habe die Anwesenheit von Schüssel und Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer bei Otto Habsburgs Geburtstagsfest überzeugt: „Da war die heilige Dreieinigkeit von Adel, christlich-sozialem und nationalem Lager mit einem Mal vollbracht.“ Höbelt in einem Interview wenig später: „Ab jetzt hat das linke, intellektuelle Schickeriamilieu eben nichts mehr zu sagen.“ Höbelt heute: „Ich habe meine Entscheidung, Schüssel zu wählen, nicht bereut. Ganz im Gegenteil.“

Konservativ zu sein ist dem Strom der Zeit tatsächlich etwas näher gerückt, traditionelle Werte zählen wieder mehr, seit Wolfgang Schüssel seinem Lager diesen denkwürdigen Sieg beschert hat.

Der Kanzler ist – so stürmisch er Althergebrachtes in Wirtschaft und Sozialstaat auch bekämpft – in gesellschaftspolitischen Fragen ein Traditionalist: Nachhaltig vertritt er herkömmliche Familienformen, Forderungen der Homosexuellen-Initiativen stand er stets reservierter gegenüber als das Gros seiner Partei.

Oft vermischt sich Ideologie mit Pose: Ungeniert unterstellte er dem braven Grünen Alexander Van der Bellen in der TV-Debatte vor der Wahl, er wolle Österreich mit einem Netz von Haschtrafiken überziehen. Dem SPÖ-Vorsitzenden Alfred Gusenbauer kam der ehemalige Außenminister an Elmar Oberhausers rundem Tisch in Hausmeistermanier: „Tun S’ nicht Englisch reden“, ermahnte er den Roten, als der sich eines Fremdwortes bediente.

In der Frage, ob Gott in die Verfassung soll, hält es Schüssel mit seinem in Weltanschauungsfragen wichtigsten Partner, Nationalratspräsident Andreas Khol: „Ich finde es beschämend, dass man überhaupt darüber nachdenkt, ob man sich nun des Beitrags des Christentums, der jüdischen Wurzel, der islamischen Befruchtung in Wissenschaft und Literatur besinnen soll“, meinte er Donnerstag vergangener Woche in einem profil-Interview.

Auf europäischer Ebene organisieren inzwischen die ÖVP-Abgeordneten im Europaparlament Unterschriften für eine erzkonservative Initiative, wonach nur das Christentum in der europäischen Verfassung explizit genannt werden soll. 110.000 der insgesamt 320.000 bis Anfang November gesammelten Unterstützungserklärungen kamen aus Österreich.

Denkwürdige Travestie: Während der niederösterreichische Bauernbündler Erwin Pröll vorvergangene Woche im italienischen Maßanzug die Großausstellung des Aktionisten Hermann Nitsch im Klosterneuburger Essl-Museum eröffnete, lässt der Kanzler aus Wien-Hietzing keine Gelegenheit aus, um sich in Tracht zu präsentieren, zuletzt ausgiebig bei der ÖVP-Klubtagung in St. Wolfgang.

Das „Konzept der gebrochenen Moderne“ hat der Politologe Fritz Plasser das einmal genannt.

Mit derselben Hingabe, mit der sich Schüssel regelmäßig zu Exerzitien in steirische Klöster zurückzieht, widmet er sich jenem Reformwerk, das das Land so tief spaltet.
Je höher die Wogen dabei gehen, desto wohler scheint sich Käpt’n Schüssel zu fühlen: „Wir haben eben Hochbetrieb auf der Modernisierungsbaustelle“, feixte der Kanzler vergangenen Donnerstag bei einem Hintergrundgespräch mit Chefredakteuren österreichischer Zeitungen, als die Rede auf den damals noch unbefristeten Eisenbahnerstreik kam.

Schüssels diesbezügliche Philosophie durchzieht jede Rede: Der internationale Konkurrenzdruck in einer globalisierten Welt werde härter, nur wer schlank und wendig sei, komme da mit. Daher also: So wenig Staat wie möglich, so viel privat wie nur geht. Mehr Eigenvorsorge statt Vorsorgedenken, weniger Solidarprinzip, mehr Selbstverantwortung. Sozialabbau als zwangsläufige Folge der Globalisierung.

In den entsprechenden Verhandlungen ist der drahtige Sportler seinen Gegnern oft überlegen. 14 Stunden lang bearbeitete der Kanzler die Sozialpartner vergangenen Mai während des Streits um die Pensionsreform in einer Nachtsitzung und sah danach immer noch recht frisch aus.

Pokerface. „Er ist bemerkenswert“, erzählt ein Freiheitlicher, der Schüssel schon oft am Verhandlungstisch beobachtet hat: „Wenn andere nervös werden, beginnt er zu zeichnen oder spielt an seinen Fingernägeln herum. Er zieht die Dinge beinhart durch, erklärt seinem Gegenüber aber freundlich, wieso dieser aus der Sache nur Vorteile ziehen werde, wogegen er, Schüssel, auch Nachteile in Kauf nehmen müsse.“

Der grüne Abgeordnete Peter Pilz, im Februar Mitglied des Koalitionsverhandlungsteams seiner Partei, formuliert das weniger liebevoll: „Wer ihm die Hand gibt, wird über den Tisch gezogen. Nach dem Motto: Ich bin der Kanzler, du gibst nach.“

Überdies versteht es Schüssel meisterhaft, Flächenbränden auszuweichen. Beim Rangeln mit den Eisenbahnern ließ er dem Verkehrsminister den Vortritt – das Ende des Streiks verkündete er selbst und nicht etwa der Chef der Gewerkschaft.

„Mit dem feinen Lächeln des Sprengstoffexperten, der die selbst verursachten Detonationen in sicherer Entfernung genießt, beobachtet Wolfgang Schüssel die politische Landschaft“, schrieb der „Spiegel“ feinsinnig im vergangenen Dezember.

Dieses Geschick, vor allem aber die politische Bulligkeit des schmächtigen Kanzlers fasziniert viele seiner Anhänger.
„Ich bin Wechselwähler, würde aber Schüssel wieder wählen, weil er der einzige Kanzler seit Kreisky ist, der Reformen überhaupt angeht“, meint der ehemalige ORF-Generalintendant Gerd Bacher: „Er hat dabei das Handicap, dass nicht nur die Opposition, sondern – zum Unterschied von Deutschland – auch ein Großteil der Medien reformunwillig ist.“

Solange das Projekt von den Wählern mit getragen wird, lässt seine Partei Schüssel den scharfen Kurs halten – und bislang gab es seit der Nationalratswahl bei allen Urnengängen Zugewinne, wenngleich mit fallender Tendenz: Setzte es bei der Gemeinderatswahl in Graz im Jänner für die ÖVP ein Plus von 12,8 Prozentpunkten und gewann Erwin Pröll im März in Niederösterreich noch 8,4 Punkte hinzu, schnitten Herwig Van Staa in Tirol (+2,7) und Josef Pühringer in Oberösterreich (+0,7) bei den Landtagswahlen im September nur noch bescheiden ab.

Vor allem den oberösterreichischen Parteifreunden hatte der Kanzler durch den eiskalten Verkauf der Voest in der Woche vor der Wahl viel Leidensfähigkeit abverlangt.
Wolfgang Thatcher („Economist“)?
Maggie Schüssel („Format“)?

Die Kritik nach der enttäuschenden Oberösterreich-Wahl dürfte mitverantwortlich dafür gewesen sein, dass Schüssel vergangenen Freitag, beim Wirtschaftskongress seiner Partei in Salzburg, erstmals auch öffentlich in sich ging: „Manche unterstellen mir, ich sei gefühllos. Ich bin vielleicht manchmal zu entschlossen, ich will das gar nicht leugnen … aber eine gute Regierung muss Themen setzen.“

Die Themen würden halt sehr einseitig gesetzt, moniert die Arbeiterkammer. Deren Experten haben errechnet, dass die Maßnahmen der beiden Schüssel-Regierungen die Arbeitnehmer pro Jahr mit 1,8 Milliarden Euro belasten, die Unternehmer aber nur mit 0,39 Milliarden Euro – eine Addition, die von Wirtschaftskammer und Regierung wegen Zuordnungsunschärfen natürlich bestritten wird.

Dennoch: „Der Begriff Reform hat nicht mehr denselben positiven Beigeschmack wie früher“, schließt Günter Ogris, Chef des SORA-Instituts, aus einem Zahlenmaterial: „Es gibt immer mehr Menschen, die sagen, sie wollen eine Regierung, die auf die soziale Gerechtigkeit schaut.“ Vor allem in den großen Städten schmelze das blendende ÖVP-Ergebnis vom November 2002 in der Glut der sozialen Auseinandersetzungen dahin. Ogris: „Dort gibt es tatsächlich so etwas wie eine Wendestimmung für Rot-Grün.“

So dramatisch stellt sich die Lage in Gesamt-Österreich laut einer vergangene Woche im Auftrag von profil durchgeführten market-Umfrage für Schüssels Partei nicht dar. Wohl glaubt nur ein Drittel, die ÖVP könne ihr Wahlergebnis von 2002 halten oder sogar noch ausbauen. Im Kanzler-Ranking liegt der Hochrisiko-spieler Schüssel dennoch nur relativ knapp hinter Franz Vranitzky und deutlich vor Viktor Klima.

„Überraschenderweise gehört Schüssel in den Umfragen nicht zu den totalen Abstürzlern wie etwa Grasser und Bartenstein. Er sinkt – aber nicht so dramatisch“, meint OGM-Chef Wolfgang Bachmayer.

OGM ermittelt seit vergangenem März einen so genannten Vertrauensindex. Dessen Ergebnis: Schüssel hat viel an Vertrauen verloren, liegt aber deutlich besser als Herbert Haupt (Hubert Gorbach wurde noch nicht abgefragt).

Das sei alles aufholbar, meint Gerd Bacher: „Schüssel hat schon oft aus dem Strafraum gekontert. Unerklärlich ist bloß die katastrophale Öffentlichkeitsarbeit der Regierung.“
Am Jahrestag des Triumphs wird die ÖVP jedenfalls ein großes Fest für die Wahlkampfmitstreiter in der Politischen Akademie in Wien-Meidling geben.

Der Titel der Veranstaltung erinnert eher an einen Kreml-Event denn an die Fete einer Modernisierertruppe: „Tag der Partei.“