Österreichs Jugend und Sex

Jugend und Sex: Österreichs Teenager sind erschreckend schlecht aufgeklärt

Teenager sind erschreckend schlecht aufgeklärt

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„Das Thema Abtreibung haben wir nie durchgenommen“, erzählt die Wiener Gymnasiastin Anna Svec. „Einige glauben sogar, dass das Kind im achten Monat im Bauch dabei erschlagen wird.“ Zwar mussten die Teenies bei einem Test die Erektionsstadien des Penis aufzeichnen, aber „als wir die Burschen gefragt haben, ob sie wissen, was eine Klitoris ist, konnte keiner eine Antwort geben“.

„In der Dritten mussten wir nur Sachen von Folien abschreiben“, erinnert sich die AHS-Schülerin Nina Langer, 15: „Das war sehr uninteressant. Traurig war das auch mit dem Sexkoffer: Der war nämlich bis auf ein Diaphragma leer.“ „Ich finde es wirklich schlimm, dass das Thema Homosexualität überhaupt nie angesprochen wird“, findet Sassan E., ein 16-jähriger HAK-Schüler. „Auch die Abtreibung wurde bei uns einfach ausgeklammert. Das reale Leben kommt nicht vor, nur die Theorie.“

Momentaufnahmen zum Zustand des österreichischen Aufklärungsunterrichts. Experten sind sich einig: Das Niveau der Sexualpädagogik an Österreichs Schulen ist in einem katastrophalen Zustand. Das Dilemma laut der Wiener Frauengesundheitsbeauftragten Beate Wimmer-Puchinger: „Niemand fühlt sich dafür so recht zuständig. Im Unterrichtsgesetz ist das Thema zu weich gefasst.“

Wimmer-Puchinger war Initiatorin des vergangene Woche präsentierten Animationsfilms „Sex, we can“, der demnächst an Österreichs Schulen und Jugendzentren verteilt wird und einen der wenigen Lichtblicke in Österreichs Sexualpädagogik darstellt. Denn in dem 15-minütigen Streifen, der von einem Expertenteam entwickelt wurde, wird erstmals auch auf die emotionalen Unsicherheiten von Teenagern Rücksicht genommen. Bislang beschränkte sich der Aufklärungsunterricht vor allem auf Theorie und die Erläuterung von anatomischen Details.

Den Lehrern in der Debatte die Schuld zuzuschieben wäre falsch. Denn in der pädagogischen Ausbildung läuft Aufklärung als fakultative Fortbildungsmöglichkeit; in welchem Gegenstand sie stattfinden soll, ist auch nicht festgelegt. Meist landet sie im Biologieunterricht. Erst in den kommenden Wochen wird es begleitend zum Film „Sex, we can“ – und erstmals – ein sexualpädagogisches Handbuch für Lehrer geben. Eine nahezu absurd späte Maßnahme, denn diverse jüngere Studien dokumentieren, dass Österreichs Teenager erschreckend wenig über Verhütung, Abtreibung und die Anatomie des anderen Geschlechts wissen.
„Österreich ist westeuropäisches Schlusslicht, was die Prävention ungewollter Schwangerschaften betrifft“, beklagte der Wiener Gynäkologe Christian Fiala beim Weltverhütungstag im vergangenen September. „Ein Verhütungsmaßnahmenpaket wie in Holland und der Schweiz wäre dringend notwendig. Und ein stark verbesserter Sexualunterricht.“

Zwei Prozent der österreichischen Teenager, so erhob das internationale Marktforschungsinstitut tsn-Healthcare kürzlich, sind der Meinung, dass eine Genitalspülung mit Cola light eine Schwangerschaft verhindern könne. Zwölf Prozent der befragten Jugendlichen haben laut einer Studie des Österreichischen Institus für Sexualforschung aus dem Jahr 2007 beim ersten Mal überhaupt keine Verhütungsvorkehrungen getroffen; 58 Prozent gaben an, ein Kondom benutzt zu haben. Eine Untersuchung an den „First Love“-Ambulanzen ergab, dass fast die Hälfte der dort untersuchten 14-Jährigen bereits das erste Mal hinter sich hatte; über die Existenz der Pille danach wusste aber nur die Hälfte aller Interviewten Bescheid.

Ein deprimierendes Zeugnis für die österreichische Sexualerziehung stellte auch die vor zwei Wochen publizierte „Sexual Wellbeing Survey“ des Kondomherstellers Durex aus, für die 26.000 Menschen in 26 Ländern befragt wurden: Zwei Drittel der österreichischen Befragten, die Aufklärung in der Schule genossen hatten, beklagten Informationsdefizite; mehr als 50 Prozent davon bemängelten die Absenz emotionaler Aspekte im Unterricht; 68 Prozent beklagten, dass Geschlechtskrankheiten dabei zu wenig behandelt wurden; 34 Prozent konstatierten Wissensmängel bezüglich der Empfängnisverhütung. „Ich weiß zwar, was ein Penis-Piercing ist, aber nicht, wie das mit dem Eisprung funktioniert“, definiert die 15-jährige Denise das Dilemma einer Teenagergeneration, die durch das Internet freien Zugang zu allen Tabuzonen hat, aber von Eltern und Lehrern bei der Entdeckung ihrer Sexualität alleingelassen wird.

Wie schützt man Kinder vor dem Pornoland Internet?
Gar nicht. Ab einem Durchschnittsalter von zehn Jahren werden Kinder auf sexuelle Erkundungstouren durch das World Wide Web ziehen und dabei mit pornografischen Inhalten konfrontiert werden. „Das ist ein Sprung ins kalte Wasser, der nicht zu verhindern ist, bei dem sie aber nicht alleingelassen werden dürfen“, so Martin Goldstein alias Dr. Sommer (siehe auch Interview Seite 90). Bevor diese Generation mit Verhütungsmethoden konfrontiert wird, weiß sie bereits, was eine Domina ist. Die Wiener Frauengesundheitsbeauftragte Beate Wimmer-Puchinger: „Wichtig ist, zu Hause ein offenes und begleitendes Gesprächsklima zu schaffen. Denn was hier bei Kindern angerichtet werden kann, kann von den Schulen im Nachhinein nicht repariert werden.“ Die erotische Bilderflut, die über Teenies multi­medial schwappt, potenziert die körperliche Unsicherheit, die in der Pubertätsphase ­ohnehin das größte Leidensgebiet ist. Immer mehr junge Mädchen wollen ihre Schamlippen und Brüste operieren lassen, um den gängigen Schönheitsidealen zu entsprechen. Burschen zerbrechen sich den Kopf, ob „sie genauso weit spritzen können wie in den Pornos“, wie die Sexualtherapeutin Elia Bragagna erzählt. Auch sie rät zum kommunikativen Austausch: „Die sexuelle Entwicklung wird von drei Faktoren bestimmt: der Familie, der Peer Group und den selbstständigen Recherchen. Wenn zwischen diesen Faktoren keine Interaktion stattfindet, besteht die Gefahr, dass einer davon übermächtig wird.“ Das Wichtigste in dieser Periode ist, „die jungen Menschen aus der Angst ‚Ich sehe irgendwie scheiße aus‘ zu entlassen“, erklärt der 82-jährige Goldstein, der noch immer Jugendforschung betreibt. Wimmer-Puchinger betont, dass besonders bei den Buben dringender Handlungsbedarf herrsche: „Die Mädchen haben ihre Mutter, Gynäkologinnen und Frauenzeitschriften, um sich zu orientieren. Väter reden viel weniger mit ihren Söhnen. Und die Macho-Bilder aus den MTV-Videos, die anachronistische Männlichkeitsideale beschwören, sind da besonders gefährlich.“

Wie erklärt man sich das Aufklärungsdebakel in Österreich?
Seit 1970 existiert der gesetzliche Erlass, dass Sexualerziehung an Österreichs Schulen praktiziert werden soll, aber eben nicht muss – wie zum Beispiel in Schweden, Dänemark und auch Deutschland. Wimmer-Puchinger: „Das Problem ist, dass das alles viel zu weich formuliert wurde und deswegen einen großen Spielraum für Lehrer und Schuldirektoren lässt.“ Für das ungeliebte Thema fühlt sich also niemand richtig zuständig, in der Regel wird die Aufklärung im Biologieunterricht abgehandelt. Der einhellige Kritikpunkt aller Experten: die Vernachlässigung der emotionalen Aspekte zugunsten theoretischer und dementsprechend ­distanzierter Abhandlungen, die vor allem anatomische Details thematisieren. Diskussionen um gesellschaftspolitische Themen wie Homosexualität, Internet-Pornografie, die Pille danach werden nur von besonders engagierten Lehrern geführt. Das Thema Sex werde in den Schulen generell viel zu negativ vermittelt, so Clemens Hammer von der Jugendberatungsstelle der Österreichischen Gesellschaft für Familienplanung: „Es werden fast nur die Unlustthemen wie Geschlechtskrankheiten und Verhütungspannen behandelt.“ „Das dargebotene Wissen bleibt abstrakt, un­emotional und hat keinen Bezug zum realen Leben“, findet auch Bettina Weidinger vom Österreichischen Institut für Sexualpädagogik.

Wie soll Sexualerziehung heute aussehen?
Die Qualität des Sexualkundeunterrichts hängt im Regelfall vom Engagement des Biologielehrers ab, doch mit einer Autoritätsperson über ein solch intimes Thema zu sprechen, fällt generell schwer. „Deshalb fordern wir externes Lehrpersonal, das sexualpädagogisch ausgebildet ist und auch didaktisch gut mit dem Thema umgehen kann“, meint Wolfgang Moitzi von der Sozialistischen Jugend. Ende Oktober wurde der animierte Aufklärungsfilm „Sex, we can“ als neues Unterrichtsmittel präsentiert. Ein gelungenes, der Jugendästhetik unpeinlich angepasstes Produkt, das jedoch mit Sicherheit keinen Paradigmenwechsel in der Aufklärungsideologie einleiten wird. „Der Film soll vor allem den jungen Frauen die Angst nehmen, Fragen zu stellen und über Probleme zu reden. Er soll ihnen auch die Sicherheit geben, dass sie Nein sagen können“, erklärte Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek bei der Premiere. Doch Clemens Hammer übt Kritik: Der Film sei hetero- und mittelschichtfixiert und spreche Jugendliche mit Migrationshintergrund nicht an: „Sexualpädagogik muss an der Vielfalt orientiert sein.“ „Wir haben großen Wert dar­auf gelegt, dass die Jugendlichen optisch so wirken, dass sie genauso gut einen anderen ethischen Background haben könnten“, so Wimmer-Puchinger, Co-Betreiberin des Projekts. „Aber in 15 Minuten ist es nicht möglich, alle Themen zu bedienen.“ Ein Schritt in Richtung einer zeitgemäßen Sexualpädagogik sind Workshops, die von ausgebildeten Sexualpädagogen nach einer sehr partizipativen Methode geleitet werden. Diese Workshops werden in Wien ­(be­zirksweise flächendeckend und in allen Schultypen) und manchen ­Bundesländern angeboten;
um Österreich gänzlich mit dem Angebot zu versorgen, mangle es noch an Personal­ressourcen.

Müssen schon Kleinkinder wissen, was Sex ist?
Ab welchem Alter ­müssen Kinder aufgeklärt werden? Sollen Eltern schon ihren Dreijäh­rigen erklären, wie das Baby in den Bauch kommt? Beate Wimmer-Puchinger rät zu pädagogischer Gelassenheit: „Es bringt nichts, zu früh zu viel aufzuklären, weil vieles dann schlicht nicht verarbeitet werden kann. Aber Kinder fragen sowieso ständig und entwickeln Fantasien. Auf diese Fragen sollte man jedenfalls eingehen.“ Martin Goldstein, als „Dr. Sommer“ einst die zentrale Aufklärungsinstanz des deutschen Sprachraums, formuliert es so: „Die einzige Regel ist, die größtmögliche Feinfühligkeit für sein Kind zu entwickeln. Den Zeitpunkt gibt das Kind vor.“ Doch schon Säuglinge erforschen ihren Körper, spielen mit ihren Genitalien, erkunden ihre Sexualität und ihre Lust. Eltern irritiert dies im Normalfall, im schlechteren bestrafen sie das Kind dafür. „Wenn wir davon ausgehen, dass Kinder ihre Lust sehr unverblümt ausleben, aber von ihren Eltern verunsichernde Botschaften bekommen, wird ihnen damit eingeredet, dass mit dieser Lust etwas nicht in Ordnung ist“, erklärt der Schweizer Sexualpädagoge Bruno Wermuth, der daraus folgert, das sexuelle Bildung schon im ersten Lebensjahr beginnen sollte. Bettina Weidinger vom Österreichischen Institut für Sexualpädagogik differenziert: „Sex hat nicht nur etwas mit Geschlechtsverkehr zu tun, sondern vor allem auch mit einem Körperbewusstsein. Und dafür ist es wichtig, die Dinge beim Namen zu nennen. Kindern wird erklärt, was eine Nase ist, was die Ohren sind, aber der Bereich ‚da unten‘ wird ausgeklammert.“ Diese Sprachlosigkeit – und mit ihr die Verwirrung über die Zustände ‚da unten‘ – setzt sich oft bis ins Erwachsenenleben fort. „Es gibt immer noch die unrealistische Vorstellung vom punktuellen Aufklärungsgespräch, mit dem das Thema ein für allemal erledigt ist“, sagt Clemens Hammer von der Österreichischen Gesellschaft für Familienplanung. In Wirklichkeit sei sexuelle Erziehung aber ein langer, kontinuierlicher Prozess.

Kann frühe Aufklärung Missbrauch verhindern?

Statistisch wird jedes vierte bis fünfte Mädchen und jeder zwölfte Junge bis zum Alter von 14 Jahren mit sexueller Gewalt konfrontiert. Viele dieser Fälle ließen sich verhindern, etwa durch frühere sexuelle Bildung. Bruno Wermuth, Sexualpädagoge aus Bern, hat für die Stiftung Kinderschutz Schweiz soeben eine Broschüre über „Sexualerziehung von Kleinkindern und Prävention von sexueller Gewalt“ verfasst. Sein Tenor: Kinder, die schon im Vorschulalter ein Gefühl für ihren Körper entwickeln, sind weniger leicht manipulierbar, wissen besser, wo die Grenze zwischen erlaubten und übergriffigen Berührungen verläuft, und können sich damit auch leichter gegen sexuelle Gewalt behaupten. Die Wiener Frauengesundheitsbeauftragte Beate Wimmer-Puchinger fordert in diesem Sinn auch ein verstärktes Bewusstsein seitens der Pädagogen: „In der Kindergärtnerausbildung ist Gewaltprävention ein wichtiger Punkt mit dem Fokus: ‚Ich habe einen Körper, den ich liebe und mit dem ich durchs Leben gehe, auf den ich aber auch aufpassen muss.‘“

Brauchen Migrantenkinder spezielle Sexualerziehung?

In der Hochzeitsnacht erreicht das Drama seinen Höhepunkt. In konservativen moslemischen Milieus hat die Frau ihre Jungfräulichkeit nach wie vor per Blutung zu beweisen. Dass nur etwa die Hälfte aller Frauen beim ersten Geschlechtsverkehr überhaupt blutet, stürzt moslemische Mädchen in ein schweres Dilemma. „Sie stehen unter einem enormen Druck“, sagt die Sexualpädagogin Sabine Ziegelwanger, die in ihren Beratungsgesprächen an Mittelschulen immer wieder mit diesem Problem konfrontiert ist: „Hymen werden chirurgisch rekonstruiert oder gar vollständig vernäht, nur damit ja sicher Blut fließt. Die Burschen dagegen stecken oft noch sehr stark im tradierten, chauvinistischen Männlichkeitsideal: Bis zur Hochzeit soll sich der Mann ausleben, sich dabei aber ja nicht verlieben. Das Heilige/Hure-Schema spielt immer noch eine große Rolle.“ Der türkischstämmige Lehrling Hakan, 16, kann das nur bestätigen: „Meine Eltern haben mit mir kaum über Sex gesprochen, nur mein Vater hat immer gemeint, ich sollte mich vor türkischen Weibern fernhalten. Mit solchen Mädchen kann man nicht einfach ins Bett gehen, da bekommt man schnell Probleme. Es kann leicht sein, dass man dann gezwungen wird, mit ihr zusammenzubleiben.“ Sabine Ziegelwanger warnt jedoch davor, Jugendliche mit Migrationshintergrund als eine homogene Gruppe mit einem geschlossenen Weltbild zu betrachten: „Man kann mit ­kopftuchtragenden Türkinnen ganz entspannt über Sex sprechen. Umgekehrt passiert es immer wieder, dass österreichische Mädchengruppen in ländlichen Gebieten allein beim Wort Penis vor lauter Scham im Boden versinken.“ Dennoch bleibt eine spezifische Sexualpädagogik für Jugendliche aus Migrantenfamilien ein zentrales Gebot: „Wenn ich sagen würde, dass ihre Sexualmoral reaktionär ist, würden sie sofort zumachen. Wenn man sie innerhalb der Gruppe diskutieren lässt, geht viel mehr weiter.“

Treiben Österreichs Mädchen mehr ab?

Die Pille muss man nur an Tagen nehmen, an denen man Geschlechtsverkehr hat. Kondome kann man mehrmals benutzen. Unter 14 Jahren kann man nicht schwanger werden. Unter Österreichs Teenagern kursieren wilde Spekulationen und Gerüchte über Verhütungsfragen, die zitierten Extrembeispiele stammen aus der Praxis des Österreichischen Instituts für Sexualpädagogik, das in einer Studie eruiert hat, dass zwölf Prozent heimischer Teenager beim ersten Mal nicht verhütet haben, weitere drei Prozent hätten „aufgepasst“. Kein Wunder, dass Teenagerschwangerschaften in jüngster Zeit so rasant ansteigen. Wobei: Tun sie das wirklich? Laut der amtlichen Geburtenstatistik brachten Frauen unter 20 Jahren im Vorjahr 2754 Kinder zur Welt, im Jahr 2001 waren es noch 3254 gewesen. Die These, dass parallel dazu die Zahl der Abtreibungen bei Teenagern drastisch gestiegen sei, lässt sich mangels stichhaltigen Datenmaterials nicht bestätigen – es gibt in Österreich, anders als in Deutschland, keine Meldepflicht für Schwangerschaftsabbrüche. Geht es nach Gesundheitsminister Stöger, soll die Pille danach schon bald auch in Österreich rezeptfrei erhältlich sein, FPÖ und kirchliche Institutionen protestieren heftig. Dabei hat Österreich einigen Aufholbedarf: In den meisten europäischen Ländern ist die Pille danach auch für Teenager problemlos erhältlich.

Wie Aids-ignorant ist unsere Jugend?

Die Zeit der großen HIV-Kampagnen ist vorbei, die Brustkrebskampagne „Pink Ribbon“ hat die rote Aids-Schleife zumindest medial verdrängt. „Trotzdem wissen Jugendliche relativ gut über dieses Thema Bescheid“, so Flora Hutz von der Steirischen Aids-Hilfe. Die größte Unsicherheit bestehe noch bei der Frage, ob man sich mit dem Virus auch beim Küssen infizieren kann. Auch von anderen sexuell übertragbaren Krankheiten wie Tripper, Syphilis oder den humanen Papillomviren (HPV) haben die meisten schon gehört. Dass es eine HPV-Impfung gibt, wissen viele; dass diese medizinisch noch äußerst umstritten ist, überrascht die meisten. Insgesamt sind Jugendliche über gesundheitliche Risiken und Safer Sex aber recht gut informiert – und gehen trotzdem reichlich sorglos damit um. Auch einige der von profil interviewten Jugendlichen gaben an, dass in ihrem Freundeskreis ungeschützter Geschlechtsverkehr nicht selten sei. Trotzdem sieht Jean-Paul Klein, Medizinalrat im Gesundheitsministerium, keine akute Gefahr: „Das Risiko einer Neuinfektion in der Altersgruppe unter 18 sei so gut wie null, deshalb haben wir keine neuen Kampagnen gestartet.“

Wie veraltet ist der Sexkoffer?

Entgegen anders lautender Gerüchte ist der „Sexkoffer“ keine bunte Box voller Dildos und Verhütungsmittel, sondern ein reichlich unspektakuläres Paket, das aus Broschüren und Unterrichtsmaterialien besteht und vom Unterrichtsministerium erarbeitet wurde – großteils schon vor 20 Jahren. Entsprechend unzeitgemäß wird darin etwa das Thema Partnerschaft behandelt, bei dem die Jugendlichen zu einer „Auseinandersetzung mit den eigenen Eheerwartungen“ angeregt werden sollen. Didaktisch verwegen gestaltet sich auch das jüngste Unterrichtsmaterial aus dem Jahr 1998, das sich auf die Sexualerziehung von Volksschulkindern beschränkt. Da kommt das HIV-Virus als außerirdisches UFO daher, oder Lehrer werden aufgefordert, aus Stühlen und Leintüchern einen Uterus zu basteln.

Darf man „ficken“ sagen?

Vergangenen September, ein improvisiertes Klassenzimmer auf dem Wiener Stephansplatz, auf der Tafel die provokante Botschaft: „Ficken!? Klartext reden!“, daneben überdimensionale Genitalien aus Pappmaché. Die Medienaktion der Sozialistischen Jugend sowie der Aktion Kritischer SchülerInnen für einen neuen Sexualkundeunterricht fand klare Worte. Doch dürfen diese in der Schule auch von Autoritätspersonen wie Lehrern verwendet werden – oder wird damit eine vulgäre Sprechweise gefördert? Die Sexualberaterin Flora Hutz: „Es ist meiner Ansicht nach notwendig, über solche Begriffe zu sprechen und ihre Bedeutung abzuklopfen.“ Wolfgang Moitzi, Vorsitzender der Sozialistischen Jugend, formuliert es so: „Eine Frontalsexkunde, wie es sie jetzt gibt, bleibt selten bei SchülerInnen hängen und lässt keinen Raum für persönliche Fragen und Ängste. Deswegen hat der Frontalunterricht ausgedient. Moderne Sexualerziehung muss ein eigenständiger Pflichtgegenstand sein, der von eigens ausgebildeten PädagogInnen betreut wird.“

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort