Jugendwohlfahrt schlägt Alarm

Jugendwohlfahrt schlägt Alarm: Anzahl der gefährdeten Kinder steigt seit Jahren an

Anzahl der gefährdeten Kinder steigt rapide an

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Von Tina Goebel

Der dreijährige Adrian (alle Namen von Kindern und Jugendlichen redaktionell geändert, Anm.) hat ein Faible für öffentliche Verkehrsmittel. Stolz präsentiert er seinen Spielzeugautobus. Was das ist, kann er allerdings nur schwer erklären. Als er vor wenigen Wochen in die Obhut der Jugendfürsorge kam, konnte er kaum sprechen. Auch gewöhnliches Besteck wie einen Löffel kannte er nicht. Adrian war es gewohnt, die Suppe aus der Schüssel zu schlürfen. Zurzeit wird nach passenden Pflegeeltern für den kleinen Jungen gesucht. Zurück zu seiner alkoholsüchtigen Mutter kann er nicht.

So wie Adrian bekamen im vergangenen Jahr 25.969 Kinder und Jugendliche Unterstützung von der Jugendwohlfahrt. Diese Zahl steigt seit Jahren stark. 2003 waren es noch 16.579 Fälle gewesen – eine Steigerung von 56,6 Prozent.

Doch obwohl Sozialarbeiter Alarm schlagen, wurden die Ressourcen in diesem Bereich nicht aufgestockt. Einrichtungen wie Kinderdörfer oder Krisenzentren sind heillos überfüllt, die Wartelisten für Pflegeplätze werden immer länger. Pläne für Neuschaffungen gibt es mittlerweile zwar in allen Bundesländern, jedoch sind diese laut Experten unzureichend und kommen viel zu spät.

Durch die Finanzkrise wird ein weiterer abrupter Anstieg befürchtet. „Es gibt viele wissenschaftliche Studien, die einen Zusammenhang zwischen Gewalt und Armut belegen“, erklärt Maria Moritz, Vorsitzende des Bundesberufsverbands für Sozial­arbeiter. Dabei muss nicht erst der Worst Case eintreten und ein Elternteil den Arbeitsplatz verlieren oder im Alkoholismus stranden. Permanente Existenzängste allein können zu einer unerträglich angespannten Situation mit viel Konfliktpotenzial innerhalb der Familie führen. Die Gründe für die steigende Zahl desolater Familien sind auch für Fachleute nur schwer nachvollziehbar. Eine mögliche Ursache sind komplexe Veränderungen in der Gesellschaft wie etwa die Auflösung der Großfamilie, die oft als soziales Auffangnetz fungierte.

Ein typisches Beispiel stellt die Geschichte der 15-jährigen Anna aus Wien dar. Bereits zum vierten Mal hat das Mädchen Zuflucht in einem Krisenzentrum gesucht, das Jugendlichen und Kindern in einer akuten Notsituation Unterschlupf bietet. In diesen Einrichtungen können sie einige Wochen bleiben, während die familiäre Situation und das weitere Vorgehen abgeklärt werden.

Anna hatte Streit mit ihrer psychisch kranken Mutter. Das Mädchen begab sich darauf von sich aus in die Obsorge der öffentlichen Hand. „Ich hoffe immer, dass es irgendwie geht, aber manchmal ist es mit ihr so schlimm, da kann ich einfach nicht mehr“, sagt Anna. Da die Wohngemeinschaften immer außerhalb Wiens lagen, konnte sie ihre Freunde nicht oft sehen, weshalb sie immer wieder zu ihrer Mutter zurückkehrte. Bis vor ein paar Jahren konnte sie bei heftigen Auseinandersetzungen mit ihrer manisch-depressiven Mutter zu ihrer Großmutter ausweichen. Doch seit diese gestorben ist, gibt es niemanden mehr in der Familie, der ihr Halt geben kann.

Notlager. Pflegefamilien oder freie Plätze in Wohngemeinschaften werden jedoch immer rarer. Die Kinder müssen deshalb länger in den Krisenzentren ausharren, die ohnehin schon maßlos überbelegt sind. „Im letzten Jahr waren wir in zehn von zwölf Monaten überbelegt“, erklärt Christine Tichy, Leiterin des Krisenzentrums im 12. Bezirk, in dem Anna untergebracht ist. Bis zu zwölf Kinder übernachten in der „Krise“, die eigentlich nur für acht Bewohner Platz bietet. Als Notlager dienen dann oft Sofas oder einfache Matratzen. „Wenn das so weitergeht, kann ich wirklich nicht mehr für die Sicherheit der Kinder garantieren“, so Tichy zermürbt.

Unklar ist, ob die Anzahl der Fälle tatsächlich gestiegen ist oder Missstände nur öfter publik werden als früher. „Heute wird vieles nicht mehr toleriert, was früher normal war“, erklärt der Kinder- und Jugendpsychiater Ernst Berger. Auch die Psychiatrien sind überfüllt. „Das heißt aber nicht, dass es jetzt mehr psychische Störungen als früher gibt. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist ein sehr junges Gebiet, und Zentren gibt es erst seit ein paar Jahren, da ist man überhaupt hinten nach. Wir beobachten aber sehr wohl eine Verschiebung in der Gesamtgruppe der psychischen Störungen. Es gibt heute mehr Kinder mit sehr auffälligem Verhalten, das schneller wahrgenommen wird“, erklärt Berger.

Nicht nur das Verhalten der Kinder, sondern auch die Berichterstattung über besonders tragische Fälle wie den Tod des kleinen Luca haben die Bevölkerung sensibilisiert. Seit 2000 gehen um 235 Prozent mehr Gefährdungsmeldungen bei Jugend- und Familienämtern ein. „Das ist ein gutes Zeichen. Anzeichen von Missständen oder Missbrauch werden viel ernster genommen als früher“, erklärt Georg Dimitz vom Berufsverband der Sozialarbeiter.

Zu den gestiegenen Fallzahlen kommen viele Anzeigen, die sich als falscher Alarm erweisen. Zu schaffen machen diese Fälle den Sozialarbeitern trotzdem. Jeder noch so kleine Hinweis muss überprüft und in Akten vermerkt werden. Ein bürokratischer Zusatzaufwand, der kaum mehr zu bewältigen ist, denn die Zahl der Beschäftigten wurde nicht erhöht.

Wegen der derzeitigen Arbeitsbedingungen haben bereits viele Sozialarbeiter gekündigt oder sind Burn-out-bedingt ausgefallen. Manche Bezirksstellen wie Wiener Neustadt waren sogar für einige Zeit gänzlich unbesetzt.

Zur ständigen Überlastung kommt das Image in der Öffentlichkeit. Die Kollegin, die nun im Fall Luca wegen Vernachlässigung (nicht rechtskräftig) verurteilt wurde, empfinden viele Sozialarbeiter als Mahnmal. „Unser Berufsstand ist immer an allem schuld. Nehmen wir jemandem ein Kind weg, sind wir die Bösen, passiert ein Unglück, haben wir versagt. Doch wir können nicht rund um die Uhr aufpassen. Dass ich nicht wie die Kollegin im Fall Luca vor Gericht stehe, ist einfach nur Glück“, so eine 53-jährige Sozialarbeiterin, die aus dem Beruf aussteigen will. Es sei schwierig, das Personal entsprechend aufzustocken, erklärt Reinfried Gänger von der Niederösterreichischen Landesregierung. „Wir verfügen über einige Pool-Sozialarbeiterinnen, die bei Ausfällen einspringen. Aber wir können nur im Rahmen des vom Landtag genehmigten Budgets arbeiten“, so Gänger.

Die Sozialarbeit liegt nämlich in der Kompetenz der Länder, was den Berufsvertretern seit Langem sauer aufstößt. Seit Jahren bemüht man sich um ein bundesweites Berufsgesetz, das Gehälter und Ausbildungskompetenzen festlegen soll. „Doch die Länder wollen sich vom Bund nichts vorschreiben lassen, was dazu noch viel Geld kostet“, meint Dimitz verärgert. Doch nach erfolglosen Jahren scheint die Berufsvertretung endlich Erfolg zu haben. Ein Entwurf für ein Berufsgesetz, den die Sozialarbeiter erstellt haben, wird nun von der Regierung bearbeitet – der Antrag wurde von der Freiheitlichen Partei eingereicht. Dass die FPÖ die Gender-Schreibweise darin gestrichen hat, ist für Dimitz ein „weiterer Treppenwitz der Geschichte“.

Über den Stand der Verhandlungen zum neuen so genannten Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetz will sich die zuständige Staatssekretärin Christine Marek gegenüber profil nur allgemein äußern. „Das neue Gesetz soll eine Stärkung der Prävention und den Schutz von Kindern sowie weitere Qualitätsverbesserungen beinhalten“, so Marek.

Nötig wäre vor allem ein bundesweiter Defizitbericht, auf dessen Basis Verbesserungen getroffen werden könnten. Als Sparmaßnahme wurde der Auftrag für die zahlenmäßige Erfassung des Sozialwesens der Statistik Austria entzogen und die Länder selbst mit der Erstellung von Jahresberichten beauftragt. Da jedes Bundesland andere Methoden anwendet, lassen sich keine einheitlichen und aussagekräftigen Zahlen für Österreich eruieren. Laut Berechnungen des Berufsverbands wäre in der Jugendwohlfahrt österreichweit jedoch eine Aufstockung von über 100 Mitarbeitern nötig. Nur Oberösterreich hat eine landesweite Evaluierung durchgeführt – und 30 neue Stellen geschaffen.

Fotos: Philipp Horak