Härteres Vorgehen vs. Sexualstraftäter?

Justiz-Irrtum

Politische Hysterie gegen statistische Realität

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Francis Evrard machte aus seinen Plänen kein großes Geheimnis. Bevor der 61-jährige Franzose im Juli nach 18 Jahren aus dem Gefängnis entlassen worden war, hatte er seinen Aufsehern erklärt, er werde nun „in Länder fahren, in denen man es mit Kindern tun kann“. Die Auslandsreise ersparte sich Evrard zwar. Doch wenige Wochen nach seiner Freilassung entführte der Pädophile einen fünfjährigen Jungen und vergewaltigte ihn. Als er gefasst wurde, fand die Polizei beim Täter eine angebrochene Packung des Potenzmittels Viagra, das ihm ausgerechnet der Gefängnisarzt verschrieben hatte.

In Frankreich war das Entsetzen über diesen Fall groß. Obwohl Experten Evrard als potenziell gefährlich eingestuft hatten, war er auf Bewährung entlassen und umgehend rückfällig geworden. Staatspräsident Nicolas Sarkozy versprach Abhilfe: „Ich werde Raubtiere von diesem Schlag nicht in der Freiheit belassen“, donnerte er. Straferlass oder Freilassung auf Kaution werde es in Zukunft nicht mehr geben. Wer seine Haftstrafe verbüßt habe, werde nicht ohne Untersuchung durch ein Expertenteam freikommen.

Sarkozys Reaktion entsprach dem ganz normalen Politikerreflex. Wann immer ein besonders tragischer Fall von Kindesmissbrauch bekannt wird, ruft die Politik nach härteren Strafen und null Toleranz. „Wegsperren, und zwar für immer“, hatte vor einigen Jahren etwa der deutsche SP-Bundeskanzler Gerhard Schröder gefordert. So etwas beruhigt den Wähler und sorgt für ein zupackendes Image. Mag sein, dass nicht nur Kalkül, sondern auch die eigene Betroffenheit bei solchen Emotionsausbrüchen eine Rolle spielt: Viele Politiker haben schließlich selbst Kinder.

In Österreich bedurfte es gar keines besonderen Anlasses, um Sexualstraftäter wieder einmal zum Thema zu machen. Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Sexualstraftäterdatei soll nun realisiert werden, und Innenminister Günther Platter möchte sich damit nicht zufriedengeben. Er will außerdem, dass einschlägig Vorbestrafte künftig in gewissen Berufen nicht mehr arbeiten dürfen, plädiert für höhere Strafen und eine Meldepflicht bei den Sicherheitsbehörden. Als Ex-Polizist habe er wirklich Einblick in die Materie, sagt Platter. „Deshalb will ich mich voll einbringen, damit wir Sexualtätern keine Chance geben".

An den Pranger. BZÖ-Chef Peter Westenthaler geht das nicht weit genug. Er forderte jüngst, die Namen von Delinquenten im Internet zu veröffentlichen. „Ja, wir müssen sie an den Pranger stellen, weil wir in einer zivilisierten Demokratie leben.“ Bei der Bestrafung sollte man „über alles nachdenken“, meint Westenthaler, zum Beispiel über „Zwangssterilisation“. In seinem gerechten Zorn brachte der BZÖ-Boss offenbar ein paar heilkundliche Begriffe durcheinander: Die von ihm angeregte Sterilisation hätte keine Auswirkungen auf den Sexualtrieb, sondern bloß auf die Fruchtbarkeit; gemeint war vermutlich Kastration.
Das Büro von Justizministerin Maria Berger wies Westenthalers Ideen zurück. Zwangsoperative Eingriffe seien nicht vorstellbar. Anfang September soll es aber ein Gespräch mit dem Innenminister geben, um sich auf eine gemeinsame Vorgangsweise zu einigen. Der grüne Justizsprecher Albert Steinhauser erwartet sich von Platter unter anderem Vorschläge, wie das Berufsverbot überhaupt umzusetzen wäre. „Der Innenminister soll nicht ins Blaue reden, sondern sinnvolle Konzepte liefern.“
Als Zuseher könnte man leicht glauben, die plötzliche Betriebsamkeit in einem ansonsten so ruhigen Polit-Sommer beruhe auf neuen erschreckenden Fakten. Doch die Kriminalstatistik bietet eigentlich keinen Anlass für Schnellschüsse. Die Zahl der Verurteilungen einschlägiger Sexualstraftaten ist in den vergangenen zehn Jahren kaum gestiegen. 1996 gab es insgesamt 622 Fälle, 2005 waren es 679. Die leichte Zunahme geht dabei auf das Konto minderschwerer Delikte wie etwa den Konsum von Kinderpornografie. Schwere Verbrechen wie Vergewaltigung und Kindesmissbrauch blieben konstant oder sind sogar leicht rückläufig. Auch der weit verbreitete Eindruck, dass Sexualstraftaten zu den besonders häufigen Vergehen gehören, wird von der Statistik widerlegt. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der Verurteilungen liegt bei etwa 1,3 Prozent.
Der renommierte Vorarlberger Psychiater und Gerichtsgutachter Reinhard Haller stößt sich vor allem daran, dass in der öffentlichen Diskussion zwischen den Tätergruppen kaum differenziert werde. „Es ist ein Unterschied zwischen einem sexuell unerfahrenen Jugendlichen, der einmal etwas Verbotenes tut, und einem gefährlichen Sadisten.“ Vergewaltigung und Kindesmissbrauch gehörten zweifellos zu den schlimmsten Verbrechen, sagt Haller. Doch die enorme Aufmerksamkeit lasse sich wohl nicht nur mit verständlichen Ängsten erklären. „Das ist eine hypersexualisierte Gesellschaft, und das Thema bietet enorme Projektionsflächen.“

Triebhaft. Als Allgemeingut gilt etwa die Annahme, dass Sexualstraftäter ausschließlich ihren Trieben gehorchen und nach der Haftentlassung umgehend wieder zur Tat schreiten. Solche Fälle gibt es, doch die Rückfallquote ist in Wirklichkeit geringer als bei vielen anderen Delikten. Reinhard Eher, Leiter der 2002 im Justizministerium eingerichteten Zentralen Dokumentations- und Koordinationsstelle für Sexualstraftäter, hat 194 Delinquenten über einen Zeitraum von drei Jahren beobachtet und dabei festgestellt, dass nur vier Prozent wieder wegen eines Sexualdelikts ins Gefängnis mussten. Begünstigt worden sei das Ergebnis sicher durch die umfassenden Therapiemaßnahmen, die den Tätern schon während der Haft geboten wurden. „Ohne Betreuung und über einen längeren Zeitraum liegt die Rückfallquote international bei ungefähr 20 Prozent“, sagt Eher.
Der Psychiater hat sich auch die verschiedenen Untersuchungen zur Wirksamkeit von Hormontherapien bei schwer rückfallgefährdeten Tätern angesehen. Sein Fazit: Es gebe keine einzige methodisch überzeugende Studie, die den Nutzen der so genannten chemischen Kastration befriedigend nachweise. „In ganz seltenen Fällen muss man mit antiandrogenen Medikamenten gegensteuern“, ist seine Erfahrung. Daraus eine Standardbehandlung zu machen, wie Politiker häufig fordern, sei aber völlig falsch.
Eher steht er der von SPÖ und ÖVP geplanten Sexualstraftäterdatei im Prinzip positiv gegenüber. Was immer dazu führen könne, Wiederholungstäter in Zukunft schneller auszuforschen, sei zu begrüßen. „Aber man muss sich bewusst sein, dass die viel größere Gefahr von Tätern ausgeht, die noch nicht in Erscheinung getreten sind“, sagt Eher.
Der Zuckerl verteilende ältere Herr auf dem Kinderspielplatz, vor dem Eltern ihre Sprösslinge seit Generationen warnen, ist als Gefahrenquelle die Ausnahme. Rund 80 Prozent aller Fälle von Kindesmissbrauch passieren im (erweiterten) familiären Umfeld. Und gegen den Vater, Stiefvater oder Onkel helfen weder eine Straftäterdatei noch Berufsverbote. Höhere Strafen oder gar die öffentliche Stigmatisierung von Tätern würden nach Meinung der meisten Experten dazu führen, dass die Opfer noch mehr Scheu hätten, gegen ihre Peiniger vorzugehen. Reinhard Haller glaubt zwar, dass die Dunkelziffer bei Missbrauch in der Familie längst nicht mehr so hoch ist wie noch vor einigen Jahrzehnten. Studien gingen jedoch davon aus, dass 15 bis 20 Prozent der Kinder in irgendeiner Form Missbrauchserfahrungen machen. Weil pro Jahr nur etwa 600 Fälle zur Anzeige kommen, bleibt offenbar vieles ungeahndet. Auch hier müsse man aber unterscheiden, warnt Haller: „Über die Art des Missbrauchs sagen diese Zahlen nichts aus. Das reicht von der einmaligen Berührung bis zur Vergewaltigung.“
Der hohen Dunkelziffer stehen jene Fälle gegenüber, in denen Unschuldige des Missbrauchs bezichtigt werden. „Bei Streitereien um das Sorgerecht kommt das immer wieder vor“, sagt Haller. „Für den Betroffenen kann das zur sozialen Hinrichtung werden.“

Risiko bleibt. Das Strafrecht bietet keinen absoluten Schutz vor Mord und Totschlag und wird ihn auch vor sexuellen Aggressionen niemals bieten können. In der forensischen Psychiatrie gibt es mehrere international anerkannte, standardisierte Verfahren, um das Rückfallrisiko eines Sexualtäters zu prognostizieren. Ganz zuverlässig ist leider keines davon. Am besten gelinge die Einstufung noch bei jenen Tätern, von denen eine sehr geringe Gefahr ausgeht, sagt Reinhard Eher vom Dokumentationszentrum im Justizministerium. Im oberen Risikobereich gibt es immer wieder Fälle, in denen letztlich das Gutachten des Psychiaters zwischen lebenslanger Sicherungsverwahrung und Freilassung entscheidet. Reinhard Haller hatte in seiner Karriere schon einige solche Gutachten zu verantworten und beschreibt die Erfahrungen als extrem belastend. Er habe bisher Glück gehabt, sagt Haller. Aber ein Restrisiko sei niemals auszuschließen. Vor elf Jahren wurde in Augsburg die siebenjährige Natalie Astner von einem vorbestraften Triebtäter missbraucht und getötet. Der Psychologe, der zuvor die Freilassung des Mannes befürwortet hatte, beging daraufhin Selbstmord.
Politiker sind deshalb auf der sicheren Seite, wenn sie drakonische Maßnahmen fordern. Für eine differenziertere Beleuchtung ist die Materie offenbar zu sensibel. Der grüne Justizsprecher Albert Steinhauser zählt das Thema zu den schwierigsten überhaupt: „Maßnahmen, die Sinn machen würden, werden oft nicht verstanden. Und was verstanden wird, macht oft keinen Sinn.“

Von Rosemarie Schwaiger
Mitarbeit: Melanie Jungwirth, Martina Lettner