„Kaltenbrunner und Stangl betreiben Tourismus“

Alpinismus. Bergsteiger-Legende Reinhold Messner grenzt sich scharf von seinen Nach­­folgern ab

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Interview: Tina Goebel

profil: Die Extrembergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner ist am 8. August das dritte Mal an der Besteigung des K2 gescheitert. Sie musste außerdem den Absturz ihres schwedischen Kameraden Fredrik Ericsson mit ansehen. Wie kann man sich die Motivation erklären, für wenige Augenblicke am Gipfel sein Leben zu riskieren?
Messner: Jeder Mensch ist anders, deshalb gibt es auch verschiedene Motivationen. Viele Menschen können nicht nachvollziehen, was die Faszination der Berge ausmacht. Warum manche ihr Leben riskieren? Einen vernünftigen Grund gibt es dafür nicht. Aber letztendlich muss jeder das Risiko für sich selbst abwägen und entscheiden.

profil: Ist der Tod immer präsent?
Messner: Natürlich hat man den Tod im Vorausvollzug im Hinterkopf. Wir müssen uns damit konfrontieren. Mir hat beispielsweise meine Frau vor jeder Expedition das Alte Testament vorgelegt. Aber Gott sei Dank ging immer alles gut. Ich muss aber dazusagen, dass ich vor Ort nur dann meine Schritte setze, wenn ich mir hundert Prozent sicher bin, dass sie gelingen. Ich habe bei einem Drittel meiner Touren frühzeitig aufgegeben, und das ist wohl der Grund, weshalb ich heute noch am Leben bin.

profil: Hat sich Fredrik Ericsson überschätzt? Hätte er aufgeben sollen oder sich besser sichern?
Messner: Zum Glück waren beide nicht am Seil gesichert, ansonsten hätte er Gerlinde Kaltenbrunner vielleicht mitgerissen. Sich abzusichern ist dort oben schwer. Es gab offensichtlich auch keine Fixseile von früheren Besteigungen, die sie hätten benutzen können. Auch weil sich das Gelände permanent verändert. Ericsson war bestimmt ein erfahrener Bergsteiger, aber der K2 ist dort oben steil und gefährlich.

profil: Gerlinde Kaltenbrunner fehlt nur noch der K2, dann hätte sie alle vierzehn Achttausender bestiegen. Glauben Sie, dass sie nach dem Erlebnis nun aufgeben wird?
Messner: Wie ich sie einschätze, wird sie es wieder versuchen. Sie ist zäh und auf das Ziel fokussiert. Ein solches Erlebnis aber bleibt hängen. Bis in die Träume hinein. Das weiß ich nur zu gut. Aus eigener Erfahrung. Bislang kenne ich nur Hans Kammerlander, der mit dem Manaslu auf seinen letzten Achttausender verzichtet hat, nachdem er dort bei einem gescheiterten Versuch 1991 zwei enge Freunde verloren hat. Dafür respektiere ich ihn sehr, noch mehr, als wenn er alle vierzehn Achttausender bestiegen hätte. Und wenn Kaltenbrunner sich ebenfalls so entscheidet, habe ich genauso viel Respekt vor ihr wie für die volle 14er Serie.

profil: Kaltenbrunner galt lange als Favoritin im Wettrennen um die Erstbesteigung aller Achttausender durch eine Frau. Erste wurde jedoch die Südkoreanerin Oh Eun Sun, gefolgt von der Spanierin Edurne Pasabán. Der Erfolg von Eun Sun wird jedoch angezweifelt, zu Recht?
Messner: Es ist interessant, was Oh Eun Sun alles unterstellt wird. Das meiste ist frei erfunden. So hätte sie zum Beispiel viel mehr Sponsoren und Gelder zur Verfügung gehabt als die anderen. Tatsache ist, dass sie viel weniger Unterstützung hatte als die Europäerinnen und anfangs sparsam operieren musste. Sie ist auch seltener ins Basislager geflogen worden als Kaltenbrunner und Pasabán. Ich habe in Kathmandu von einem Sherpa gehört, dem Geld geboten wurde, dass er behauptet, Eun Sun habe am Kangchendzönga gemogelt. Da ist Rufmord im Spiel, und ich frage mich wirklich, wo wir mit dem Frauenbergsteigen da gelandet sind.

profil: Und wer soll diese Lügen über Eun Sun verbreiten?
Messner: Da sind bestimmt PR-Leute im Hintergrund tätig. Man muss sich nur diese peinliche Dokumentation über Gerlinde Kaltenbrunner von Victor Grandits ansehen, die erst kürzlich in der ARD lief. Das war kein objektiver Beitrag, sondern eine reine Werbekampagne für Kaltenbrunner. Wer hatte die Verantwortung dafür? Ich bin der Einzige, der sich die Mühe gemacht hat, Oh Eun Sun persönlich zu befragen. Es war ein hartes Gespräch, und sie hat offen geantwortet. Ich habe mir alles angehört, so weit als möglich Daten überprüft und schnell begriffen, dass es sich hier wirklich um eine unfaire Kampagne gegen Oh Eun Sun handelt.

profil: Sie akzeptieren also Eun Sun als erste Frau auf allen Achttausendern?
Messner: Ja, ihr Erfolg muss anerkannt werden, solange keine Gegenbeweise da sind. Auch wenn ich finde, dass unter den drei Bergsteigerinnen, unter denen dieser Wettbewerb lief, Frau Kaltenbrunner mit Abstand die stärkste ist. Sie ist ruhig, überlegt und hat die meiste Ausdauer. Außerdem hat sie bewiesen, wie stark sie in schlimmen Situationen ist und dass sie nie verzweifelt. Nach dem Unglück am K2 musste sie schließlich geschockt und selbstständig absteigen. Das ist alles andere als leicht. Sie hat damit auch bewiesen, wie kontrolliert sie ist. Kaltenbrunner hätte sich den Titel verdient. Aber sie kann ja immer noch die erste Frau auf allen Achttausendern sein, die alle Gipfel ohne künstlichen Sauerstoff bestiegen hat.

profil: Wie reagiert Eun Sun auf diese Vorwürfe?
Messner: Miss Oh hat mich verwundert gefragt, ob eine so negative Reaktion in Deutschland üblich ist, wenn Fremde erfolgreicher sind. Ich habe ihr gesagt, dass das heute nicht mehr so ist, aber Mitleid bekommt man schließlich geschenkt, Neid muss man sich verdienen.

profil: Wie ist Ihr Verhältnis zu Gerlinde Kaltenbrunner?
Messner: Frau Kaltenbrunner habe ich leider nie persönlich kennen gelernt. Ich habe sie eingeladen, aber sie verweigert inzwischen ein Gespräch. Sie wollte mir auch verbieten, Fotos von ihr für mein neues Buch zu verwenden, in dem es um die Historie des Frauenbergsteigens geht. Ihr Mann wollte mir sogar verbieten, etwas über sie zu schreiben. Natürlich kann er das nicht. Sie ist berühmt, eine Person des öffentlichen Lebens. Alles nur, weil ich bei diesem Feldzug gegen Oh Eun Sun nicht mitmachen will, frage ich mich. Mich interessiert jetzt, wie die Dinge wirklich stehen, wer wie gestiegen ist.

profil: Sind Kaltenbrunner und Pasabán Ihrer Meinung nach nicht ehrlich?
Messner: Frau Pasabán ist ja mit künstlichem Sauerstoff auf den Mount Everest und gibt es zu. Aber Frau Kaltenbrunner tut so, als ob sie immer im Alpinstil und ohne fremde Hilfe auf die Berge gehen würde. Sie nutzt Fixseile und die Hilfe von Höhenträgern, auch wenn sie es jetzt abstreitet. Außerdem hat sie sich mehrmals in ein Basislager fliegen lassen, wie es bei ihr selbst nachzulesen ist. Das hat auch Pasabán getan, aber sie gibt es zu. Ich verstehe nicht, warum Kaltenbrunner das abstreitet. Es ist ja nichts dabei. Sie hat mit ihrem Ehemann Ralf Dujmovits einen hervorragenden Expeditionsorganisator, und warum sollte sie dessen Logistik nicht benutzen?

profil: Aber ist es nicht schwierig, heute beispielsweise auf einen Mount Everest zu gehen, ohne diese von Sherpas vorbereiteten Routen zu nehmen?
Messner: Natürlich bleibt es möglich. Frau Kaltenbrunner wollte ja zuerst eine schwierigere Route auf den Everest wählen, hat es dann aber sein lassen. Ich habe eine Reihe neuer Routen erschlossen, die bisher nie wieder jemand genommen hat. Diese Wege sind schwieriger, gefährlicher und anstrengender als die Normalwege. Gut, es bleibt jedem selbst überlassen, ob auf Pisten oder im Gefahrenraum operiert wird.

profil: Heute gehen jährlich Hunderte Bergsteiger auf den Mount Everest, sodass am Weg zum Gipfel oft direkt ein Stau entsteht. Ist das für Sie noch Alpinismus?
Messner: Der Mount Everest eignet sich bestens als Sammelplatz für sämtliche egozentrische Projektionen. Er lässt sich als Rekordversuch für alles gebrauchen. Erst vor Kurzem ging sogar ein Dreizehnjähriger hinauf. Als jüngster Besteiger aller Zeiten. Der Vater hat dafür gesorgt, dass nur noch Sechzehnjährige eine Genehmigung bekommen. Damit dieser Rekord für alle Zeiten einzementiert bleibt. Was soll ich dazu noch sagen.

profil: Sind die Organisatoren dieser Touren Ihrer Meinung nach verantwortungslos?
Messner: Ich will nicht die Organisatoren solcher Massenaufstiege kritisieren. Einerseits versprechen sie ihren Kunden für viel Geld Erfolg und fast hundert Prozent Sicherheit. Dann lassen sie den Weg von einer Hundertschaft Sherpas vorbereiten, die außerdem das Gepäck tragen sowie Lager vorbereiten und dort kochen. Auf der anderen Seite klopfen sie ihren Klienten dann auf die Schulter, sofern sie heil abgestiegen sind, und reden ihnen ein, sie hätten den Berg so wie damals Edmund Hillary bezwungen. Das passt so aber nicht zusammen.

profil: Wo hört für Sie Tourismus auf und fängt Alpinismus an?
Messner: Der Alpinismus beginnt, wo der Tourismus aufhört! Als ich 1978 mit Peter Habeler zum Mount Everest ging, gab es weder Sherpas noch Fixseile über uns. Wir mussten selbst spuren. Das ist natürlich viel anstrengender. Es stimmt, heute stolpert man allerorts über vorbereitete Pisten. Und auch Frau Kaltenbrunner ging großteils Touristenrouten hoch. Wie soll sie den vorbereiteten Pisten ausgewichen sein? Daher nehme ich mir heraus zu sagen, dass ich und Peter Habeler damals am Mount Everest Alpinismus betrieben haben. Was Gerlinde Kaltenbrunner und Christian Stangl auf ihrem Mount Everest getan haben, ist Tourismus. Stangl sieht es als der beste Skyrunner der Welt ja genauso.

profil: Nachdem sie Christian Stangl angesprochen haben: Was halten Sie von seinen Leistungen und dem von ihm benannten Skyrunning?
Messner: Skyrunning ist eine Sportart, und die gibt es mittlerweile seit dreißig Jahren. Stangl ist bestimmt ein schneller Bergsteiger, er hat eine wahnsinnige Kondition. Er ist in dieser Sportart zurzeit die Nummer eins weltweit. Aber mir ging es nie darum, so schnell wie möglich auf einen Berg zu rennen. Ich hätte es auch nie so schnell geschafft. Aber man darf nicht vergessen, dass Christian Stangl das auf bereits präparierten Pisten macht, wie Frau Kaltenbrunner großteils auch. Ich bin ein Abenteurer und habe mehr ohne fremde Hilfe und ohne Vorgaben operiert. Also aus eigener Kraft. Stangl betreibt seine Sportart gekonnt, es ist aber etwas völlig anderes.

profil: Christian Stangl, der kurz nach Kaltenbrunners Scheitern den K2 bezwingen konnte, meinte, er würde sofort mit dem Bergsteigen aufhören, wenn es immer so wäre wie die letzten siebzig Stunden auf dem K2. Verstehen Sie das?
Messner: Zuerst Gratulation zu diesem K2! Ich bin 1979 bei ähnlichen Bedingungen da hin-aufgestiegen und kann es nachvollziehen. Es ist eben etwas anderes, alleine im Eis und Schnee des K2 zu wühlen, als auf vorpräparierten Pisten zu steigen.

profil: Sowohl Stangl als auch Kaltenbrunner betonen immer, dass sie keinen künstlichen Sauerstoff benutzen wie Eun Sun. Muss ein professioneller Bergsteiger wirklich darauf verzichten?
Messner: Es ist schon komisch: Als ich und Peter Habeler damals erstmals ohne künstlichen Sauerstoff auf den Mount Everest stiegen, wurden wir von den Medien in Grund und Boden verdammt. Niemand dachte, dass das geht. Wir wurden als ehrgeizig und verantwortungslos beschimpft. Wir haben den Versuch unternommen und wollten nur herausfinden, wie weit wir ohne künstlichen Sauerstoff kommen. Wir wollten damals schon so wenig Hilfe wie möglich in Anspruch nehmen. Wir haben uns ganz oben angesehen und uns vergewissert, dass es noch weiterging, und irgendwann waren wir am Gipfel. Trotzdem blieb die Maske das Übliche. Dass sich das heute so umdreht und Sauerstoff sogar als Doping bezeichnet wird, finde ich lustig. Eine präparierte Piste und Fixseile sind übrigens die viel größere Hilfe als künstlicher Sauerstoff.

profil: Christian Stangl meinte kürzlich in einem Interview mit „News“, dass der Mythos Messner der Entwicklung des Alpinismus im Wege stehe und heute andere Dinge wie eben Geschwindigkeit und Zeit beim Bergsteigen zählen müssten. Was sagen Sie dazu?
Messner: Zuerst: Wie soll ich jemandem im Wege stehen, den ich noch nie persönlich getroffen habe? Sonst hat Stangl Recht. Aber ich habe bereits ausführlich erklärt, dass Stangl etwas ganz anderes macht als ich damals. Dieses Skyrunning interessiert nur niemanden. Hat Stangl ein Problem damit, dass ich heute noch Erfolg habe? Als Autor und Redner. Natürlich hätten andere die Aufmerksamkeit der Medien und Sponsoren gerne für sich alleine. Offensichtlich habe ich mehr Ausstrahlungskraft als Pistenalpinisten. Aber wie ich schon sagte, Mitleid bekommt man geschenkt, Neid muss man sich erarbeiten.

profil: Aber ist es nicht schwierig für junge Bergsteiger, heute noch so etwas wie Pionierarbeit zu leisten? Es scheint, als müssten sie fast zwanghaft etwas Neues ausprobieren, so wollte Fredrik Ericsson beispielsweise als Erster mit Skiern von allen Achttausendern abfahren.
Messner: Ja, es scheint so etwas wie Spitzfindigkeiten zu geben. Ich habe bestimmt den Vorteil gehabt, in der richtigen Zeit begonnen zu haben. Wir konnten viele Herausforderungen meistern. Aber es gibt auch heute noch viele Routen, die erschlossen werden könnten. Kreativität wäre gefragt! Einfach nur schneller sein zu wollen wie Stangl ist fantasielos und hat, wie gesagt, mit Abenteuer und Alpinismus wenig zu tun. Außerdem möchte ich betonen, dass wir damals vieles möglich gemacht haben: Sponsorship, Vortragsmarkt, Logistik. Wir haben die Wege geebnet, auch für die Frauen. Die heutige Generation hat es in vielem leichter als wir damals. Es war zum Beispiel vor vierzig Jahren schwer, eine Genehmigung für einen Aufstieg zu bekommen. Außerdem verdienen Profis heute viel mehr Geld als wir damals. Das ist gut so, sie können ihre Expeditionen damit finanzieren.

profil: Wie haben Sie sich Ihre Touren finanziert? Kaltenbrunner hat ihre ersten Expeditionen von ihrem Salär als Krankenschwester gespart.
Messner: Das war bei uns nicht anders. Auch ich und alle meine Freunde haben uns die Reisespesen für unsere ersten Touren zusammengespart. Über Jahre. Erst ab einem gewissen Erfolg werden Sponsoren wach. Das wird immer so sein.

profil: Sie haben damals, vor über einem Vierteljahrhundert, selbst wie heute Kaltenbrunner den Wettlauf um die Besteigung aller Achttausender erlebt und gewonnen. Wären Sie so erfolgreich und bekannt, wenn Sie nicht der Erste gewesen wären?
Messner: Auch damals war es ein von den Medien aufgebauschter Wettlauf. Der Pole Jerzy Kukuczka konnte mich schwer einholen, da ich so viel Vorsprung hatte. Er hätte eigentlich nur gewinnen können, wenn ich verunglückt wäre. Wir haben uns beide res-pektiert und Glückwunschtelegramme ausgetauscht. Das hätte ich mir auch zwischen den Frauen erwartet. Ich habe Jerzy sehr -geschätzt, leider ist er 1989 auf einem Berg verunglückt.

profil: Ab wann kann jemand vom Bergsteigen leben? Es scheint, als würden alle Bergsteiger oder Extremsportler davon leben, Managerseminare zu halten und über Motivation und Risiko zu sprechen.
Messner: Dieser Bereich bröckelt mittlerweile massiv. Auch weil sich darin immer mehr Möchtegerne tummeln, die zwar gewisse Erfahrungen gemacht haben, sich allerdings keine Gedanken darüber machen, wie diese übertragbar sind. Es gibt zu viele, die nur Klischees vortragen. Und das macht es jungem und wirklich talentiertem Nachwuchs nicht unbedingt leichter.

profil: Geht Ihnen das Bergsteigen ab?
Messner: Ich akzeptiere mein Alter. Ich war beim Everest-Alleingang 35 und bin heute 66 Jahre alt. Vielleicht würde ich mit der Hilfe von zwei Sherpas, die schieben, noch einmal auf den Gipfel kommen. Aber das wäre mir peinlich. Ich bin immer Touren gegangen, denen ich gewachsen war. Das Können war des Dürfens Maß. Außerdem habe ich heute andere Aufgaben. Im Moment zum Beispiel schließe ich mein Bergmuseum mit fünf Häusern ab. Es ist fast so spannend wie das Bergsteigen früher.