Mönche mögen's heiß

Der Kult um Shaolin-Mönche in Europa

Kampfsport. Der Kult um Shaolin-Mönche trifft den europäischen Zeitgeist in die Magengrube

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Der Weg zur Erleuchtung führt in eine der ruhigeren Seitenstraßen von Wien-Erdberg. Die Gasthäuser haben hier keine Namen, die Kosmetiksalons heißen Franziska. Die Menschen gehen langsamer als in den zentrumsnahen Gegenden, schlurfen ihren Schoßhunden hinterher, vorbei an gelbgrauen und graugrauen Gemeindebauten, der Weg ist das Ziel. Nun, nicht ganz: Eigentlich liegt dieses ja in einem unscheinbaren Wohnhaus am Ende der Straße, Tür an Tür mit einem Großhandel für medizinische Notfallprodukte. Es handelt sich um den Shaolin Tempel Wien, den ersten seiner Art in Österreich, vor genau zehn Jahren gegründet von dem Linzer Kung-Fu-Fan Wolfgang Gall, alias Shi Heng Xin, Shaolin-Meister der 35. Generation. Heute ist der Tempel, nach eigenen Angaben, der größte Europas.

Nicht, dass man ihm das ansehen würde. Im Eingangsbereich – zweiter Stock, links – trifft der Besucher als Erstes auf eine verwelkte Topfpalme, als Zweites auf ein Abstellkammerl voller Schuhe. Tempelregel Nummer 3 (von 14): „Ziehe deine Schuhe aus, bevor du den Tempel betrittst.“ Außerdem wichtig: „Komm nicht zu spät zum Training“ (Regel 4), „Lehne nicht an der Wand und sitze nicht während des Trainings“ (Regel 12), „Wasche deine Hände, bevor du buddhistische Literatur liest“ (Regel 13). Eine Handlungsanweisung fehlt: Erwarte dir nicht zu viel. Jedenfalls aber kein mythisches Brimborium. Der Erdberger Shaolin-Tempel ist kein Tempel, wie man ihn sich gemeinhin vorstellt, sondern eigentlich ein ziemlich normaler Turnsaal. Am einen Ende der raumfüllenden Trainingsmatte steht zwar eine Art buddhistischer Altar, dessen spirituelle Aura aber am anderen Ende von einer kleinen Büronische mit Schreibtisch, Computer und Topfpalme (lebend) sowie einer Küchenzeile mit Kaffeemaschine, Wasserhahn und Bierkühlschrank („Shaolin Tempel Bräu“, leider vor Kurzem abgelaufen) abgemildert wird. Am Aufgang zum Turnsaal im dritten Stock hängen Bilder von chinesischen Tempelanlagen und kopfstehenden Mönchen, dazwischen Sinnsprüche von einschlägigen Fachleuten: „Man kann dir den Weg weisen, gehen musst du ihn selbst“ (Bruce Lee).

In wenigen Minuten beginnt das Abendtraining: Kung-Fu für Anfänger. Ein paar Anfänger sind schon da und wärmen sich auf, sie wippen im Ausfallschritt, gehen in die Hocke, reißen ihre Beine hoch, drei Schüler sitzen vor dem Altar und meditieren. Neuankömmlinge brüllen zur Begrüßung ein herzhaftes „Amituofo!“ in den Saal (und befolgen damit Tempelregel Nummer 1), die Anwesenden brüllen zurück. Es bleibt der einzige martialische Eindruck an diesem Abend. Niemand hier sieht aus, als würde er gleich mit seiner Schädelplatte durch Granit dringen oder schwere Holzplanken zertrümmern. Wird auch niemand. Shaolin-Kung-Fu ist im echten Leben ein bisschen anders als das, was man aus dem Fernsehen kennt.

Dass man die chinesischen Kampfmönche und ihre spektakulären Übungen überhaupt aus dem Fernsehen kennt, hat übrigens sehr naheliegende Gründe, und zwar räumlich nahe liegende: Mitte der neunziger Jahre wurde der österreichische Eventmanager Herbert Fechter von dem in Wien lebenden, aus der Shaolin-Provinz Henan stammenden Jian Wang auf das Showpotenzial der fernöstlichen Akrobaten aufmerksam gemacht. Im Jahr 1995 organisierte Fechter die erste Shaolin-Show in Europa. Sein damaliger Tourneeleiter Georg Hartmann erinnert sich: „Ganz am Anfang sind wird noch mit einer offiziellen Delegation nach Europa gereist, die zu 50 Prozent aus Provinzpolitikern und Parteifunktionären bestand. Ziel der Reise war offiziell die Freundschaftspflege zwischen Österreich und China, dazu kamen gewissermaßen als Rahmenprogramm die Auftritte der Mönche.“ Die diplomatischen Begleitumstände wurden freilich relativ schnell beigelegt, die Kung-Fu-Schausteller entwickelten sich zum Selbstläufer beziehungsweise zum Big Business: „Musikantenstadel“, „Wetten, dass..?“, Mehrzweckhallen in ganz Europa. Die Mischung aus familienfreundlichem Bambusflötenklischee und nervenkitzelnder Showgefahr stieß auf fruchtbaren Boden, die Mönche trafen mit spitzem Speer und eiserner Faust offenbar einen Nerv. Der ostwestliche Kulturtransfer lief auf Hochtouren. Und zwar in beide Richtungen: Auch im Shaolin-Kloster in Henan wurde der Pop-Appeal der Kampfmönche recht bald auf seinen touristischen Mehrwert getestet und für überaus tauglich befunden, Souvenirläden und Kung-Fu-Schulen wurden aus dem Boden gestampft, Showtruppen in alle Welt verschickt und auch vor Ort in Vorführungen nach westlichem Modell präsentiert.

Ganz China veränderte sich, und Shao­lin wurde zum Musterbeispiel der neuen, postplanwirtschaftlichen Ökonomie. Heute besuchen mehr als vier Millionen Touristen pro Jahr Shaolin und Umgebung, die „Welt am Sonntag“ nannte das chan-buddhistische Kloster treffend einen „Wallfahrtsort des chinesischen Wirtschaftens“. Eine vierspurige Autobahn leitet die Besucherströme direkt an die heiligen Berge von Songshan, wo die Geschichte der Kampfmönche vor 1500 Jahren begann – vergleichsweise trubellos. Übrigens: Im Jahr 512 soll der indische Mönch Bodhidharma das kurz zuvor gegründete Kloster erreicht, dort erst einmal seelenruhig neun Jahre in einer Höhle meditiert und dabei, laut offizieller Legende, den Stein mit seinem Blick buchstäblich durchlöchert haben. Das machte Eindruck bei den lokalen Geistlichen: Unter dem Namen Da Mo übernahm Bodhidharma – nach weiteren vier Jahren Meditation, diesmal in einer Mönchszelle – als Abt das Kloster und etablierte eine Reihe neuartiger Trainingsmethoden für seine körperlich offenbar nicht sonderlich fitten Brüder. In den folgenden Jahrzehnten wurde Shaolin zu einer Art Universität für verschiedene fernöstliche Trainings- und Kampfsportarten, die schließlich zum Shaolin-Kung-Fu verschmolzen, das – zumindest von seinen Vertretern – als Urform aller weiteren Kung-Fu-Stile angesehen wird. Dass im Zuge der maoistischen Kulturrevolution ab 1966 praktisch alle Aufzeichnungen des Klosters vernichtet wurden, trägt nicht zur Klärung der ernsthaft erbitterten Revierkämpfe bei, dass die Geschichte der Shaolin schon im 19. Jahrhundert vor allem in Form folkloristischer Fabeln verbreitet wurde, nicht zur historischen Wahrheitsfindung.

Zum Glück geht es in Wien-Erdberg im Moment eher um Selbstfindung, und dar­über lässt sich ja schwer streiten. Das ­Training beginnt in aller Ruhe, was allerdings auch an der Anzahl der Teilnehmer liegt. Bloß acht Schüler haben der Versuchung widerstanden, sich hitzewellengemäß doch lieber im Freibad zu finden, und imitieren nun, in grellorangem Kampfmönchsornat (gibt es zur Einschreibgebühr von 100 Euro gratis dazu), mehr oder weniger elegant, die Bewegungen der Vorturnerin. Was lustig aussieht, darf allerdings auf keinen Fall belächelt werden, so sehen es die Tempelregeln Nummer 2 und 7 vor, und so erklärt es auch Shi Miao Zhi, der eigentlich Matthias heißt, ebenfalls Grellorange trägt, seit über sechs Jahren im Tempel trainiert und nebenbei auch Administration und Öffentlichkeitsarbeit macht: „Eines unserer Grundprinzipien lautet: Wenn jemand etwas nicht kann, wird er nicht ausgelacht, sondern angefeuert.“ Ein zweifellos sympathischer Zug, der allerdings nicht die wesentliche Anziehungskraft des Shaolinismus darstellt. Im Grunde hätte man Shaolin-Kung-Fu erfinden müssen, wenn es Shaolin-Kung-Fu noch nicht gegeben hätte, zu perfekt fügt es sich in den westlichen Zeitgeist: Selbstertüchtigung und -findung, die fundamentalen Voraussetzungen der modernen europäischen Charakterbildung, gehen da friedlich Hand in Hand, und im Unterschied zu schnödem Jogging wird das Ganze auch noch mit poppig-mystischem Tamtam aufgeladen. Und das Beste: Der Kopf wird dabei so schön leer. Shi Miao Zhi/Matthias: „Kung-Fu-Training ist eine Art Action-Meditation. Man bewegt sich so lange und so intensiv, bis der Kopf ganz leer wird. Kung-Fu heißt wörtlich so viel wie ‚harte Arbeit’. Es geht in erster Linie darum, alles, was man tut, mit Hingabe und zu 100 Prozent zu tun. Oder noch besser zu 110 Prozent. Man lernt, sich selbst zu besiegen.

Das ist unheimlich befreiend.
Du bist da und gleichzeitig nicht da.“ Was man aus dem Büro ganz gut kennt, dort aber nicht besonders mag, gerät in der Kammer der Shaolin zur spirituellen Weisheit: Geh an deine Grenzen! Und darüber hinaus! Der Lohn: vielleicht die Unbesiegbarkeit, ganz sicher aber ein ordentlicher Muskelkater, der einen daran erinnert, dass man etwas für sich, also für die gute Sache, getan hat. Und dafür zahlt doch jeder gern 110 Euro im Monat (Mindestvertragsdauer: sechs Monate), auch wenn es vielleicht nie zum Schädel-durch-die-Wand-Trick reichen wird.

Obwohl: Die Wiener Shaolin nehmen ihre Sache eigentlich ziemlich ernst, zum Teil sogar ernster als die Kollegen in Fernost. Matthias, pardon, Shi Miao Zhi erzählt von einer „furchtbaren Erfahrung“: Vor einigen Jahren absolvierte eine Abordnung des Wiener Tempels einen Betriebsausflug nach Henan. Und war erschüttert: „Da zahlst du Eintritt, gehst durch ein Drehkreuz, bekommst erst einmal Ansichtskarten angedreht und wanderst dann durch eine Art Disneyland voller Statistenmönche. Wenn wir die Leute dort traditionell begrüßt haben, sind sie regelrecht zurückgezuckt.“ Auch externe Beobachter attestieren den Wiener Shaolin gern ihren Hang zur Authentizität. Als vor ein paar Jahren der Kung-Fu-Veteran Shi Wan Heng, damals der älteste lebende Shao­lin-Mönch, in Wien zu Gast war (das chinesische Kloster hatte ihn, aus leider nicht überlieferten Gründen, ins Exil geschickt), habe er erklärt, dass es in Wien wesentlich chinesischer ablaufe als in China. Ansonsten sei der greise Meister am liebsten in einer Ecke des Turnsaaltempels gesessen, habe sein Corona getrunken und sehr viel gelächelt.

Die fernöstliche Wertschätzung ging den Wiener Templern verständlicherweise runter wie kaltes Bier. Die Frage nach dem Original und der Kopie ist gerade in der Shaolin-Szene keine Nebensache. Es geht um die Marke. Die Zeit der großen Showtourneen ist zwar vorbei, selbst original chinesische Kampfmönche geben es heute bescheidener und arbeiten als Wellnessthermenvorturner oder Selbsterfahrungsseminarleiter, trotzdem bleibt die Authentizität ihre Geschäftsgrundlage. Schließlich lebt das Business von seiner 1500-jährigen Geschichte (und dem, was Haudrauf-Streifen wie „Die 36 Kammern der Shaolin“, „American Shaolin“ oder „Kung Fu Panda“ daraus gemacht haben).

Auch in Wien ist der Konflikt programmiert, der örtliche Tempel hat kurz vor seinem zehnjährigen Jubiläum (das am 2. September mit einem großen Festakt begangen wird, Näheres unter www.shaolintempel.at) massive Konkurrenz bekommen: Im Vorjahr eröffnete der Shaolin Tempel Kultur Zentrum in Wien-Margareten, und zwar als einzig wahrer Shaolin-Tempel Österreichs, inklusive Originalmönchen aus dem Mutterkloster und hochoffizieller Approbation von ebendiesem. Der neue Tempel wird demnächst übrigens auch wieder einmal eine große Stadthallen-Show ausrichten, und zwar „zum ersten Mal“ mit den „echten Shaolin-Mönchen“.

Den Schülern in Erdberg sind die Markenrechtsprobleme ihrer Gastgeber mutmaßlich eher egal, sie treten und drehen sich stur weiter durch ihre Trainingseinheit und haben mittlerweile wahrscheinlich schon angenehm leere Köpfe. Wenn sie später wieder hin­untergehen zur Schuhkammer der Shaolin, werden sie im Stiegenhaus wieder die Bilder von chinesischen Klöstern, kopfstehenden Mönchen und anregenden Sinnsprüchen passieren. Dann haben sie es schwarz auf weiß: „Auch wenn es viele Wege der Übung gibt, ist das Nichtdenken doch das entscheidende Ziel.“

Fotos: Philipp Horak für profil

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.