Kampusch-Dokumente

Kampusch: Innenministerium vertuschte die entscheidenden Ermittlungsfehler

Affäre. Das Innenministerium vertuschte die entscheidenden Ermittlungsfehler

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Von hinten liest sich jeder Krimi leichter. Es darf also angenommen werden, dass Kriminalbeamte einen abgeschlossenen Fall gedanklich Revue passieren lassen und den Ermittlungsverlauf hinterfragen. Fehler passieren, aber nur selten dürfen sie benannt werden. Vor Wahlen wiegt das Parteiinteresse der Vorgesetzten immer schwer.

2006 war ein Wahljahr.
Im August tauchte Natascha Kampusch wieder auf. Sie war aus dem Haus ihres Entführers Wolfgang Priklopil – er beging daraufhin Selbstmord – geflüchtet. Das Innenministerium versuchte, politisches Kapital daraus zu schlagen: Der Druck der Fahnder sei dem Täter nicht verborgen geblieben, behauptete die damalige Ressortchefin Liese Prokop, und: Ermittlungspannen habe es nicht gegeben.

Aktennotizen und Mails aus dem Innenministerium sowie interne Vernehmungsprotokolle einer 2008 eingerichteten Sonderkommission (Soko), die profil nun vorliegen, belegen das Gegenteil. Die Unterlagen erzählen von wiederholten Versuchen, Fehler mittels politischer Weisungen zu vertuschen; und sie decken auf, wie Zeugen mit politischem Druck zum Stillhalten gedrängt wurden. Dies alles diente einem Zweck: das Innenministerium vor den Wahlen nicht anzupatzen und einer Amtshaftungsklage durch Natascha Kampusch zu entgehen. Die involvierten Beamten wurden von profil mit den Vorwürfen konfrontiert, sie wollten sich dazu aber nicht äußern.

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Natascha Kampusch wird am 2. März 1998 um 7.30 Uhr auf dem Weg zur Schule am Rennbahnweg entführt. Zeugen sprechen von einem weißen Kastenwagen, in den das Mädchen gezerrt worden sei. Nach einem Hinweis wird Wolfgang Priklopil am 4. April 1998 von Beamten aufgesucht, sein Fahrzeug – ein weißer Kastenwagen – inspiziert. Obwohl Priklopil für die Tatzeit kein Alibi vorzuweisen hat, ziehen die Beamten wieder ab. Am 14. April 1998 liefert ein polizeilicher Hundeführer entscheidende Personen- und Charakterbeschreibungen Priklopils. Dieser Spur wird nicht nachgegangen. Erst am 23. August 2006 gelingt Natascha Kampusch aus eigener Kraft die Flucht.

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Am Abend des 23. August 2006 wird bei einer rasch einberufenen Pressekonferenz des Bundeskriminalamts eine Frage gestellt, die sich in der Folge zu einem handfesten Problem für die damalige Innenministerin Liese Prokop und ihr Kabinett auswachsen sollte. Nikolaus Koch, Landespolizeikommandant des Burgenlands, erinnerte sich 2008 bei seiner Einvernahme durch die Soko: „Bei dieser Pressekonferenz wurde ich vom Redakteur des Nachrichtenmagazins profil gefragt, ob wir gegen den inzwischen aufgefundenen Entführer Priklopil bereits ermittelt hätten. Ich gab dem Redakteur zur Antwort, dass während unserer Zeit der Aktenführung … nicht gegen eine Person Priklopil ermittelt worden sei, weil dazu kein Hinweis eingegangen sei. Ich ging nach der Pressekonferenz aber zurück ins Sicherheitsbüro und fragte meine Beamten, ob der Name Priklopil im Akt aufscheint. Im Zuge dieser Nachfrage erhielt ich dann die Information, dass Wolfgang Priklopil im Jahre 1998 … im Zuge der Erhebungen zu der Entführung durch Beamte des SB Wien überprüft worden war.“

Auch andere Spitzenbeamte begannen, den elektronischen Akt zu durchforsten – und stellten fest: Nicht nur der Name Priklopil taucht auf, sondern auch konkrete Vermerke zu seiner Person und seinem Fahrzeug, einem weißen Kastenwagen.

Am nächsten Tag, dem 24. August 2006 um sieben Uhr morgens, fand im Büro von Herwig Haidinger, damals Leiter des Bundeskriminalamts, eine Besprechung statt. „Diese Aktenteile verursachten natürlich Aufregung“, erinnert sich ein Teilnehmer der Sitzung später gegenüber der Soko, „Dr. Haidinger erteilte folglich Genmjr Mahrer (Generalmajor Karl Mahrer, heute Landespolizeikommandant von Wien, Anm.) den konkreten Auftrag, die Sache aufzuklären.“

Am 25. August 2006 stellten sich Prokop und Koch erneut der Presse. Koch, der es mittlerweile besser wusste, behauptete dort: „Der Tatverdächtige hat ein Alibi vorweisen können.“

Das war glatt gelogen. Ungefähr zu gleichen Zeit saß Herwig Haidinger in seinem Büro und setzte ein Mail an Mahrer ab, in dem er die beiden entscheidenden Hinweise vom April 1998 zusammenfasste und um „interne Abklärung“ ersuchte.

Anweisungen.
Mahrer befolgte diese Weisung nicht. Warum, erklärte er 2008 gegenüber der Soko folgendermaßen: „… weil … von GI Lang (Bundeskriminalamtschef Franz Lang, damals stellvertretender Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit, Anm.) oder/und Genmjr Treibenreif (Cobra-Kommandant Bernhard Treibenreif, damals Ministerbüro, Anm.) mir mitgeteilt worden war, dass weitere Erhebungen dazu nicht mehr erforderlich seien … Ich glaube mich zu erinnern, dass von beiden Seiten … diese Anweisung gekommen ist.“

Das Kabinett hatte offenbar beschlossen, die Causa nicht mehr aufzurollen.
Mahrer informierte Haidinger, „dass ich den Auftrag … aufgrund der Anweisungen/Feststellung von GI Lang und KBM/Treibenreif nicht ausführen werde“.

Doch Haidinger blieb hartnäckig. Zwei Tage später, am 28. August 2006, mailte er erneut an Mahrer: „Bitte um Erledigung des Auftrages. … Die Darlegung dieser Umstände … hat möglicherweise Auswirkungen hinsichtlich eines allfälligen Amtshaftungsanspruchs des Opfers.“ Damit sprach Haidinger erstmals an, was für das psychisch schwer beeinträchtigte Entführungsopfer von essenziellem Interesse war: eine Klage gegen die Republik Österreich.

Reaktion: keine.
Am 29. August 2006 – keine Woche war seit dem Auftauchen Kampuschs vergangen – bestellte Haidinger Lang, Koch, Mahrer und weitere Beamte in sein Büro. Erneut wurde debattiert: Soll eine Evaluierung der Ermittlungen stattfinden oder nicht? Die Runde einigte sich auf einen Kompromiss, der von vornherein zum Scheitern verurteilt war: Man wolle den Diensthundeführer, der 1998 den Hinweis auf Priklopil gab, nochmals befragen, allerdings „in enger Abstimmung mit dem KBM (Kabinett der Ministerin, Anm.)“, wie in einem Aktenvermerk des Bundeskriminalamts festgehalten wird.

Nach der Sitzung kam es zu einer kurzen Unterredung zwischen Haidinger und Koch. Koch sagte, Vize-Generaldirektor Lang habe ihm, Koch, Weisung erteilt, er möge die Erhebungen koordinieren und den Kontakt zur Staatsanwaltschaft halten.

Das war ein offener Affront gegen Haidinger. Doch so einfach war der höchste ­Beamte des Bundeskriminalamts nicht zu übergehen, auch nicht vom Ministerbüro: Haidinger forderte Koch auf, Lang möge ihm diese Weisung persönlich erteilen, andernfalls akzeptiere er diesen Bruch in der Hierarchie nicht.

Was dann passierte, grenzt an Amtsmissbrauch. Noch am Abend des 29. August 2006 rief der von Koch beauftragte Chefinspektor K. den Hundeführer P. an.

P. hatte am 14. April 1998 um 14.45 Uhr beim Wiener Sicherheitsbüro angerufen, der Anruf war wie folgt protokolliert worden: „Betreffend der Fahndung nach dem weißen Kastenwagen mit dunklen Scheiben im Bezirk Gänserndorf in Bezug zur Abgängigkeit der KAMPUSCH Natascha gibt es in Straßhof/Nordbahn eine Person, welche mit dem Verschwinden in Zusammenhang stehen könnte und auch in Besitz eines weißen Kastenwagens Marke Mercedes mit abgedunkelten Scheiben ist. Dieser Mann sei ein so genannter ‚Eigenbrötler‘, welcher mit seiner Umwelt extreme Schwierigkeiten habe und Kontaktprobleme habe. Er soll gemeinsam mit seiner Mutter in Straßhof/Nordbahn, Heinestraße 60 (Einfamilienhaus) wohnen, welches jedoch elektronisch voll abgesichert sei. Auch soll der Mann eventuell Waffen zu Hause haben. … Eventuell lebt der Mann mit seiner betagten Mutter in diesem Haus und soll er einen Hang zu ‚Kindern‘ in Bezug auf seine Sexualität haben, ob er diesbezüglich bereits vorbestraft ist, ist unbekannt.

Der Name des Mannes ist dem Anrufer unbekannt, ist er ihm nur aus der Nachbarschaft bekannt. Der Mann soll ca. 35 Jahre alt sein, blondes Haar haben und 175–180 cm groß sein und schlank sein.“

Ein entscheidender Hinweis also, dem die Ermittler nie nachgegangen sind. Nun war diese Meldung zum Sicherheitsrisiko geworden. Am Abend des 29. August 2006 wurde P. also von zwei Beamten aufgesucht. Die Unterredung verlief informell, Kollegen befragten einen Kollegen, ohne Niederschrift. Warum, erklärt Chefinspektor K. der Soko später so: „Die näheren Hintergründe … sagte mir Genmjr Koch nicht, er sagte aber klipp und klar – auf meine Frage hin –, dass wir keine Niederschrift aufnehmen müssen.“
Als sie am Esstisch von P. saßen, sagte K.: „Bitte sag nichts, zu keinem was, sonst können wir zusperren.“ P.s Frau, ebenfalls Polizistin, erinnerte sich bei ihrer Einvernahme 2008: „Der stärkere der Beamten sagte, dass ‚wir uns in Zeiten wie diesen keinen Polizeiskandal leisten könnten‘. Wir wussten sofort, was dieser meinte, Wahlen standen ja vor der Türe, konkret angesprochen haben die Beamten diese Wahlen jedoch nicht. Ich hatte den Eindruck, dass wir über die Sache und die Pannen niemandem etwas sagen sollten.“

Schweigegelübde.
Zusammengefasst heißt dies: Koch hatte – in wessen Auftrag auch immer – zwei Beamte losgeschickt, um einen Kollegen, der 1998 eine wertvolle Beschreibung Priklopils geliefert hatte, zum Schweigen zu überreden. So kurz vor den Wahlen wollte sich das schwarz regierte Ministerium keinen Skandal leisten.

Die beiden Beamten informierte Koch noch, bevor sie das Haus P.s verließen. „Kollege K. hat mit Koch telefoniert, und dieser hat angeordnet, von einer Einvernahme Abstand zu nehmen, da nichts wesentlich Neues bekannt geworden ist und ihm auch glaublich mitgeteilt wurde, dass P. in dieser Sache kein Aufsehen machen wird. Es ging auch darum, dass wir in der Presse diesbezüglich nicht ‚zerrissen‘ würden“, wird einer der beiden Chefinspektoren der Soko später erzählen.

Von einem Missverständnis kann keine Rede sein, denn Haidinger hatte „eine schriftliche Weisung an … Karl Mahrer erteilt, wonach dieser Polizist (Hundeführer) sofort niederschriftlich einzuvernehmen sei.“

Von der Anweisung Kochs – „keine Niederschrift aufnehmen“ – wusste Haidinger nichts. Und er sollte offenbar auch nichts davon erfahren. Ein Abteilungsleiter des Kriminalamts teilte Haidinger per Mail mit: „Er (Hundeführer P., Anm.) war zu einer Niederschrift bisher nicht bereit.“

Gegenüber der Staatsanwaltschaft wird Haidinger später zu Protokoll geben: „Nach kurzer Zeit kam von Kabinettsmitarbeiter Bernhard Treibenreif eine – glaublich mündliche – Weisung, dass diese niederschriftliche Einvernahme deshalb nicht erfolgen soll, weil die Gefahr besteht, dass die Sache öffentlich würde. Die Frau Bundesminister wolle nach den Aussagen von Treibenreif vor den Wahlen keinen Polizeiskandal haben.“

Jetzt reichte es dem Leiter des Bundeskriminalamts. Er legte am 31. August 2006 einen Aktenvermerk über die bisherigen Vorgänge an, der mit den Worten schloss: „Damit verstärkt sich mein Eindruck, dass hier ‚etwas vertuscht‘ werden sollte. Abgesehen vom Umstand, dass die Nichtbefolgung meiner Weisungen disziplinarrechtlich zu ahnden ist. Ich hatte mehrfach darauf hingewiesen … dass durch diese Vorgangsweise allenfalls entstehende/entstandene Amtshaftungsansprüche des Opfers verkürzt werden könnten.“

Am 14. September ersuchte Kabinettsmitarbeiter Treibenreif Haidinger via Mail, „die Angelegenheit (gemeint sind die Emittlungspannen, Anm.) ohne größere Eklats abzuschließen – wäre ja schade darum.“

Erst am 26. September beugte sich Haidinger der Erkenntnis, dass der Fall Kampusch nicht im Interesse des Opfers, sondern im Interesse des Ministeriums aufgearbeitet wird: „Sehr geehrter Herr Brigadier! Lieber Bernhard! Inhalt der ersten Weisung an mich war, dass keine Erhebungen zum zweiten Hinweis (Stichwort: Hundeführer aus Wien) gemacht werden dürfen. Dem Willen der Ressortleitung folgend habe ich mich – wenn auch unter Protest – an diese Weisung gehalten. Inhalt dieser Weisung war auch eine zeitliche Komponente: nämlich bis zu den Nationalratswahlen damit zuzuwarten. Dieser Termin ist mit kommendem Sonntag erreicht. Danach beabsichtige ich, eine Evaluierung des Falls zu beauftragen. Ich hoffe, die Ressortleitung ist damit einverstanden“, mailte Haidinger an Treibenreif. Und: „Lieber Bernhard, wir waren in diesem Fall nicht so gut, wie ich mir das vorstellte. Das schmerzt, aber es muss (!) behandelt werden.“

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2008 wird die vom Innenministerium eingesetzte Sonderkommission in ihrem Bericht festhalten, dass dem Hinweis des Diensthundeführers „vermutlich“ deshalb nicht nachgegangen worden sei, weil keine „EDV-Registratur zur Verfügung“ gestanden habe. Die von Haidinger geforderte Evaluierung der Ermittlungsfehler sei von Entscheidungsträgern „weder unterstützt noch forciert“ worden.

Weitere Informationen zur Chronologie der Affäre Kampusch unter www.peterpilz.at