Alexander von Humboldts Biss

„Karl May für Wissenschaftsinteressierte“

Interview mit Hans Magnus Enzensberger

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profil: Warum haben Sie ausgerechnet ein Krokodil zum Logo Ihres soeben gestarteten Humboldt-Projekts gemacht?
Enzensberger: Das Krokodil war ein Lieblingstier des Alexander von Humboldt. Auf seiner höchst gefahrvollen, berühmten Lateinamerikareise der Jahre 1799 bis 1804 wäre er fast einmal von einem Krokodil gefressen worden. Vielleicht soll das Logo auch sagen, dass Alexander von Humboldt nach wie vor über einen gewissen Biss verfügt. Es ist keine harmlose Antiquität, mit der wir es hier zu tun haben.
profil: Sie schenken sich das Humboldt-Projekt gewissermaßen zum 20-Jahr-Jubiläum Ihrer „Anderen Bibliothek“ und zu Ihrem eigenen 75. Geburtstag am 11. November. Was macht denn Humboldt zum passenden Geburtstagsgeschenk?
Enzensberger: Das ist das geringste meiner Motive, denn Jubiläen interessieren mich nicht und mein eigener Geburtstag noch viel weniger.
profil: Dann haben Sie zumindest den Zusammenfall der Anlässe klug genützt.
Enzensberger: Von mir aus gesehen ist das reiner Zufall. Die Medien sind es, die eine Vorliebe für Jubiläen haben, denn ein guter Redaktionskalender ersetzt alle Ideen. Die Tatsache, dass jemand vor 100 Jahren geboren wurde oder gestorben ist, ist an und für sich noch kein Grund, sich mit ihm zu beschäftigen.
profil: Deshalb ist es umso bemerkenswerter, dass es Ihnen gelingt, Humboldt quasi ansatzlos auf die Agenda des Jahres 2004 zu setzen. Es erschreckt einen fast, wie hervorragend Sie zugunsten Humboldts das Marketinginstrument spielen.
Enzensberger: In eigener Sache würde ich das auch nicht machen. Dieses Projekt bedeutet für einen relativ kleinen Verlag wie Eichborn eine sehr große Investition. Humboldt ist diesen Einsatz wert.
profil: Woher nimmt Eichborn die 1,5 Millionen Euro, die das Humboldt-Projekt insgesamt kostet?
Enzensberger: Da müssen Sie den Vorstand der Eichborn AG fragen. Jedenfalls haben wir die Leute, die darüber zu entscheiden haben, überzeugen können. Das ist ein Jahr her. Auch von deren Seite gehört ein gewisser Mut dazu, so etwas zu riskieren.
profil: In Südamerika ist Humboldt jedem Kind ein Begriff. Wieso ist er im deutschsprachigen Raum viel weniger stark im allgemeinen Bewusstsein verankert?
Enzensberger: Das ist tatsächlich ein Paradox. Die Tatsache, dass wir nach 200 Jahren die deutsche Erstausgabe eines wichtigen Humboldt-Werks – seine „Ansichten der Kordilleren“ – veröffentlichen können, spricht Bände. Das hat mit einer gewissen Geschichtsvergessenheit zu tun und damit, dass die letzten 70 Jahre in Deutschland, aber auch in Österreich so obsessiv besetzt sind. Nur so kann ich mir erklären, dass eine Figur von Weltrang wie Humboldt, der in der ganzen Welt berühmt ist, in Deutschland zwar im Munde geführt wird, aber im Grunde schon halb vergessen ist. Das ist doch wirklich sonderbar, denn so viele Leute dieses Kalibers haben wir gar nicht zu bieten. Man hat nicht verstanden, dass es gut für eine Gesellschaft ist, wenn sie Vorbilder hat.
profil: Der „Spiegel“ hat Humboldt jetzt aufs Titelblatt gehoben und als „Vorzeige-“ und „Mutmacher-Deutschen“ bezeichnet. Gefällt Ihnen das?
Enzensberger: Es gehört zur normalen Sozialisation eines jungen Menschen, dass er sich jemanden sucht, den er bewundern, an dem er sich orientieren und Maß nehmen kann. Das ist im Individuellen genauso wie in der Gesellschaft. Wo der Durchschnitt zum Maß aller Dinge gerät, wo man Ausnahmeerscheinungen nicht mehr ertragen kann, entsteht eine fatale Dynamik. Das Ergebnis ist eine falsche Art von Gleichheit, nämlich eine Gleichheit von unten.
profil: Ist Humboldt nicht eine so gigantische Ausnahmeerscheinung, dass er als Vorbild einschüchternd wirken muss?
Enzensberger: Das Faszinierende an Humboldt ist die Vielfältigkeit seiner Tätigkeiten und Interessen. Der eine wird den Abenteurer Humboldt bewundern, den Mann im Dschungel, in den Stromschnellen, im kenternden Boot, der furchtbare Mückenplagen übersteht und auf Sechstausender steigt. Man könnte sagen: Karl May für Wissenschaftsinteressierte. Anderen Leuten wird es vielleicht imponieren, dass er alles auf die eigene Kappe genommen, sich außerhalb der Institutionen bewegt und seine Unabhängigkeit bewahrt hat – unter Einsatz seines Vermögens. Er war das Gegenteil eines zaghaften Menschen. Wieder andere werden es fantastisch finden, dass er die Klimakunde zu einer Großwissenschaft gemacht hat, was ja heute noch von größter Aktualität ist. Er hat auch als einer der Ersten verstanden, welche ökonomische Bedeutung Wissenschaft und Forschung für die Zukunft haben.
profil: Die massive Spezialisierung der Geistes- und Naturwissenschaften, die 150 Jahre nach seinem Tod herrscht, hat er wohl kaum vorausgesehen.
Enzensberger: Er hat sich nicht damit begnügt, die Dinge zu beobachten und zu klassifizieren – sozusagen die Schmetterlinge aufzuspießen –, sondern er hat die Biosphäre als ungeheuer komplexes Gesamtsystem gesehen. In diesem Sinne ist er natürlich auch ein Vorläufer des ökologischen Denkens.
profil: Was imponiert Ihnen selbst besonders an Humboldt?
Enzensberger: Mich persönlich fasziniert sein geradezu triebhaftes Streben nach Unabhängigkeit. In all seinen Unternehmungen hat er sich nie auf irgendwelche Institutionen gestützt. Man hat ihm ja alle möglichen Ämter angeboten, aber er wollte weder Minister noch Botschafter werden.
profil: Er konnte es sich auch leisten. Er war vermögend.
Enzensberger: Er kam aus guter Familie, hatte wunderbare Lehrer, kannte Moses Mendelssohn und hat in jungen Jahren die jüdischen Salons von Berlin besucht. Er hatte einen guten Start. Sein Vermögen, das nach heutigen Maßstäben sicherlich über eine Million Euro betrug, investierte er in die Expedition der Jahre 1799 bis 1804 und in sein 30-bändiges riesiges Reisewerk über Lateinamerika. Am Schluss war das Vermögen weg. Das entbehrt nicht einer gewissen Kühnheit.
profil: Später war er Kammerherr des preußischen Königs. Warum hat er sich das als Republikaner angetan?
Enzensberger: Es gab damals schon eine Linke, die das äußerst anstößig fand. Schon Goethe wurde ja vorgeworfen, er sei ein Fürstenknecht. Aber Humboldt wusste genau, was er tat. Als Republikaner und Atheist, zumindest Agnostiker, als Judenfreund und Kosmopolit war er den tonangebenden Kreisen im damaligen Preußen ein Dorn im Auge. Die Reaktionäre hätten ihn am liebsten des Landes verwiesen. Aber sie konnten ihm nichts anhaben, weil er den König auf seiner Seite hatte. Da duckten sich alle.
profil: Napoleon, der gleich alt war wie Humboldt, konnte ihn auch nicht leiden. Was passte ihm nicht an Humboldt?
Enzensberger: Man darf nicht vergessen, dass Humboldt, als er 1804 von seiner großen Reise zurückkam, eine Weltberühmtheit war. Er war nicht nur in jedem Pariser Salon, sondern auch international ein Superstar. Der kleine Korse konnte das natürlich nicht ertragen. Seine ägyptische Expedition war ja nicht nur eine militärische, sondern auch eine wissenschaftliche Unternehmung von hohem Rang. Napoleon hatte selbst den Ehrgeiz, in die Geistesgeschichte einzugehen. Es hat ihm missfallen, dass dieser feindliche Ausländer – denn Humboldt kam aus Preußen, das gerade von Napoleons Armeen besiegt worden war – in Paris ein bravouröses Heimspiel absolvierte.
profil: Die weißen Flecken auf der Weltkarte sind getilgt. Wohin sollte sich denn jemand wenden, der heute mit derselben Weltsucht geboren wird wie Humboldt?
Enzensberger: Humboldt spricht an einer Stelle von dem Meer der Unwissenheit, in dem die Menschheit lebt. Bei allen Fortschritten, die wir in der Forschung gemacht haben, tauchen doch mit jeder Frage, die die Wissenschaft beantwortet, 100 neue Fragen auf.
profil: Aber heute könnte es sich wohl niemand mehr vornehmen, das ganze Wissen über die physische Welt in einem Buch zu beschreiben, wie Humboldt das in seinem Großwerk „Kosmos“ versuchte, das Sie gerade neu herausgegeben haben.
Enzensberger: Das kann man sich tatsächlich schwer vorstellen. Aber Humboldts Energie, seine Ambition und seine Weltsucht verschwinden nicht einfach aus der Welt. Es gibt sonderbare Erscheinungen wie Stephen Hawking, der sich nicht damit zufrieden geben kann, dass die Teleskope besser geworden sind. Er entwirft unerhörte kosmologische Thesen und versucht, sie nachzurechnen. Es mag nicht viele solcher Figuren geben, aber sie gehen uns nicht aus. Es ist auch kein Zufall, dass sie zu Ikonen werden.
profil: Es gibt fast nichts, wofür man Humboldt nicht reklamieren könnte – von der Ökologie über die Meereskunde, die Ethnologie und den Antirassismus bis hin zur PR, was man am breiten Publikumserfolg, den seine „Kosmos“-Vorlesungen in Berlin hatten, ermessen kann.
Enzensberger: Es gibt Leute, die es ganz indezent finden, dass wir in den Medien ein solches Humboldt-Theater veranstalten, aber Humboldt hätte das bestimmt gebilligt.
profil: Kann man Humboldt ohne jede Vorbildung lesen?
Enzensberger: Davon bin ich überzeugt. Ein Buch wie seinen „Kosmos“ liest man nicht wie einen Roman. Es gibt darin ein 30-seitiges Inhaltsverzeichnis, in dem man herumblättert und sich fragt: Was interessiert mich? Humboldt ist auch ein Verführer. Seine Prosa hat etwas Ansteckendes, weil er selbst so begeistert ist und den Leser ernst nimmt.
profil: Was wird Ihre Humboldt-Edition im Idealfall bewirken?
Enzensberger: Das ist kein Saisonprojekt. Wir haben langfristige Pläne. Es gibt in Deutschland 50 Humboldt-Gymnasien, in die wir gehen werden. Besonders aussichtsreichen Studienanfängern und denjenigen unter den Begabten, die keine 99 Euro für ein „Kosmos“-Buch auf den Tisch legen können, wollen wir die Bücher schenken. Wahrscheinlich hängt die Zukunft einer Gesellschaft weniger von ihren Ministern und Managern ab als von unsichtbaren Minderheiten, denen etwas Neues einfällt. Ein Mann wie Humboldt könnte für sie ein Leitstern sein.
profil: Humboldt als Inspirator zukünftiger Visionäre?
Enzensberger: Man muss es zumindest probieren.