Katastrophe: Als das Wasser kam

Katastrophe: Als das Wasser kam - Ein Erdstoß und hunderttausend Tragödien

Ein Erdstoß und hundert-tausend Tragödien

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Eigentlich sollte die Ebbe erst nach Mittag einsetzen. Aber schon jetzt, Stunden vor der Zeit, beginnt der Meeresspiegel rapide zu sinken. Meter um Meter fällt der Strand trocken. Aus dem Wasser tauchen Korallenriffe und Felsformationen auf, die sonst nur Taucher zu Gesicht bekommen. Wo gerade noch eine träge Brandung schwappte, bildet sich ein weites Watt. Boote liegen auf Grund, Fische zappeln im Sand, Thai-Kinder laufen hinaus, um Muscheln und Krabben zu suchen.

In Khao Lak, hundert Kilometer nördlich der Ferienhochburg Phuket, späht Eduard Issel, Immobilienfachmann aus Wien, durch seinen Feldstecher auf die leer gelaufene Lagune und das vorgelagerte Riff.

Mit einem Mal beginnt das Meer draußen zu brodeln.

Dann kommt es zurück: als meterhohe Wand aus Wasser, mit enormer Geschwindigkeit und verheerender Wucht, die weit über die Küstenlinie hinausschießen und das größte Überschwemmungsdesaster der bekannten Geschichte verursachen wird.

In Issels Feldstecher scheint das Riff zu explodieren, als die Welle an ihm bricht. Es ist, als würden im Wasser auf einen Schlag hunderte Bomben gezündet: Vierzig, fünfzig Meter hoch schießen Fontänen in die Luft, dann strömt die Flut weiß schäumend in die Lagune herein.

Issel starrt auf die Woge, die auf ihn zurast. Er starrt auf die Frau, die neben ihm in ihrem Liegestuhl sitzt und sich gerade noch mit ihm unterhalten hat: eine gehbehinderte Pensionistin, Langzeiturlauberin aus Deutschland.

„Laufen Sie!“, sagt die Frau zu ihm. „Bitte! Laufen Sie! Mal kucken, was da kommt.“ Und legt die Hände in den Schoß. Und schaut in Erwartung ihres eigenen Todes aufs Meer hinaus.
Und Issel läuft.

Es ist, genauer kann das im Chaos keiner sagen, knapp vor elf Uhr Ortszeit, als die erste von insgesamt drei Flutwellen die thailändische Westküste überrollt, Schnorchler über scharfkantige Korallen an den Strand schleift, Sonnenanbeter ins Meer hinaussaugt, Autos und Mopeds von den Promenaden und Straßen, Tische und Sessel von Terrassen spült, in Hotellobbys, Restaurants und Geschäfte donnert.

Fast zur gleichen Zeit verheeren die Wasserberge 2000 Kilometer weiter westlich die Küste von Sri Lanka, wenig später die Fischerdörfer des südindischen Bundesstaats Tamil Nadu. Schon Stunden zuvor haben sie Indonesien und die Inselgruppe der Nikobaren und der Andamanen verwüstet. Sie jagen mit mehr als 700 km/h Richtung Westen, über das Atoll der Malediven hinweg, und weiter, immer weiter, auf Ostafrika zu.

Mancherorts kommen sie als steil aufragende Brecher, anderswo als brodelnde Gischt, die Unrat und Müll mit sich schwemmt. Als Fontänen, die an Uferdämmen entlangpeitschen. Als reißender Strom, der Hütten, Hausrat und Menschen vor sich herschiebt. Oder auch nur als still, aber schnell und unaufhaltsam steigendes Wasser.

Aber alle sind vor ihnen gleich: die Bewohner der windschiefen Wellblechhütten von Chennai und die Pauschalurlauber von Phuket, die Fischer in Indonesien und die Tauchsportler auf den Malediven. Sie werden von Treibgut unter Wasser gedrückt, gepfählt, zerquetscht, sie ertrinken.

Die Studentin Carmen Handle aus Tirol und Poom Jensen, der Enkel des thailändischen Königs Bhumipol Adulyadej. Und all die anderen.

Am Morgen des Stefanitages 2004 sterben an den Küsten des Indischen Ozeans letzten Schätzungen zufolge 130.000 Menschen, darunter möglicherweise 100 Österreicher. Millionen verlieren ihr Heim, ihr Hab und Gut, ihre Existenzgrundlage. Die Zahl der Opfer dürfte in den nächsten Tagen und Wochen noch weiter steigen: Nach der großen Flut kommt die große Wassernot. Und dann kommen die Krankheiten.

Es ist die schlimmste Überschwemmung seit Beginn der Aufzeichnungen – schlimmer noch als jene, die im Jahr 1883 der Explosion des Vulkans Krakatau in der Sunda-Straße zwischen Java und Sumatra folgte. Damals wurden in Indonesien 36.400 Todesopfer gezählt.

Ihren Anfang hat sie wenige Stunden zuvor tief im Erdinneren genommen: mit einem Seebeben vor der indonesischen Insel Sumatra.

Sonntag Früh, im Indischen Ozean

Um 7.58 Uhr und 50 Sekunden Ortszeit schiebt sich im Epizentrum des Bebens, auf 3298 Grad nördlicher Breite und 95.779 Grad östlicher Länge, rund zehntausend Meter unter der Erdoberfläche die Indisch-Australische Kontinentalplatte unter die Eurasische Platte und hebt diese mit einem Ruck um dreißig Meter an.

Der Druck der Gesteinsmassen presst den Meeresboden entlang einer mehrere hundert Kilometer langen Bruchlinie ruckartig um zehn Meter nach oben. In diesem Moment werden im Golf von Bengalen kaum vorstellbare Energiemengen freigesetzt – umgerechnet so viel, wie die gesamten USA im Verlauf eines Jahres an Strom verbrauchen. Durch den Stoß kippt die Erdachse um 2,5 Zentimeter.

Wenig später registriert das Pacific Tsunami Warning Center (PTWC) in Ewa Beach auf Hawaii den Erdstoß, zwölf Minuten nach dem Beben zeichnet auch ein Seismograf an der Wiener Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik die Schockwellen auf. Ihre Stärke wird erst mit 8,9, später mit 9,0 auf der Richterskala angegeben. Der höchste jemals gemessene Wert lag bei 9,5, im Jahr 1960 vor Chile.

„Die Weltkugel vibriert nach dem Seebeben im Indischen Ozean wie eine Glocke und wird es noch einige Tage tun“, sagt Enzo Boschi, Direktor des nationalen italienischen Geophysikinstituts INGV.

Dann erzittert nördlich der Andaman-Inseln der Meeresboden erneut, diesmal mit einer Stärke von 7,3 auf der Richterskala.

In den Hotels am Strand von Khao Lak, rund hundert Kilometer nördlich von Phuket, nehmen die Urlauber nur ein leichtes Rütteln wahr.

Im Doppelbett ihres Bungalows scherzen Michaela Dörflinger und ihr Lebensgefährte Otto Skrube angesichts der Erschütterung noch dösig vor sich hin: Seltsames Weckservice, das die hier haben. Sie verzichten darauf, ihren 13 Jahre alten Sohn Mario zu wecken. Und schlafen weiter bis halb zehn.

Während sich auf Phuket Waltraud und Johann Marold, wie jeden Tag um viertel nach neun, aus dem Hotel Cabana, hundert Meter vom Meer entfernt, auf den Weg zum Strand machen.

Während vor der Küste Sri Lankas eine Flotte von Holzbooten dümpelt. Mohamed Sabib, Fischer aus Maradana, wirft die Netze aus. Sein Dorf zählt vielleicht hundert Häuser, die Bewohner leben vom Fischfang oder von der Arbeit in einer der Hotelanlagen. Sonntag ist ein Arbeitstag wie jeder andere.

Während der Regisseur Helmut Voitl im nahe gelegenen Bentota ein Bad nimmt und die Filmemacherin Elisabeth Guggenberger auf der Terrasse meditiert. „Irgendetwas ist in der Natur los“, sagt Voitl beim anschließenden gemeinsamen Frühstück, es ist acht Uhr in Bentota: „Irgendetwas stimmt da nicht.“ Die Fliegen schwirren mit einem Mal wie aufgescheucht im Zickzack hin und her, ganz anders als sonst. Voitl hat lange für den Verhaltensforscher Konrad Lorenz gearbeitet, er kennt sich ein bisschen aus in der Tierwelt. Er denkt an ein herannahendes Gewitter. Oder einen Wetterumschwung.

Während auf der Malediveninsel Bandos der Pilot Dieter Malina seine Sachen zusammenpackt, um zum Flughafen von Male zu fahren. Dort steht seine Maschine – eine Turboprop ATR 42, die er von Dänemark nach Jakarta überstellen soll, Abflug in drei Stunden. Auch Malina hat, mehr als 2500 Kilometer vom Epizentrum entfernt, das Beben gespürt.

Während im Nordosten der Inselgruppe Emmerich Steiner, Regierungsrat der niederösterreichischen Landesregierung i. R., über einen Teller Eierspeise mit klein gehackten Pilzen auf den Bilderbuchstrand des Meeru Island Resorts hinausblickt und überlegt, ob er noch einen Abstecher zum Kuchenbuffet unternehmen soll.
Während ein ganz normaler Sonntagmorgen seinen Lauf nimmt, ist Banda Aceh bereits zerstört.

Sonntag Früh, Banda Aceh, Indonesien

65 Kilometer liegen zwischen dem Epizentrum des Erdbebens und der nächstgelegenen Küste: dem Nordwestrand der indonesischen Insel Sumatra, mit der Provinz Banda Aceh und der gleichnamigen Provinzhauptstadt. 65 Kilometer sind nicht viel. Auch in Banda Aceh bebt die Erde mit einer Stärke von 9,0, und schon allein das würde reichen, um Häuser dem Erdboden gleichzumachen. Doch dann ist auch schon das Wasser da, die Welle braucht für die Distanz nur unwesentlich länger als die Bodenerschütterungen.

In Banda Aceh leben 4,3 Millionen Menschen. Es sind die ärmsten Indonesiens, und es sind die gläubigsten Moslems im Inselstaat. Man hat von den Menschen in Banda Aceh nicht viel gehört in den letzten Jahren. Sie sind gefangen zwischen den Fronten eines fruchtlosen militärischen Konflikts, seit 28 Jahren schon.

GAM, „Bewegung für ein freies Aceh“, heißen die angeblich 5300 bewaffneten Rebellen, die vom schwedischen Exil aus befehligt werden und für die Unabhängigkeit der Provinz kämpfen. 13.000 Kriegstote gab es bisher, die Kosten für die staatliche Militäroperation sind dreimal so groß wie das gesamte Budget der Provinz. Seit einer Militäroffensive Anfang 2003 herrscht das Kriegsrecht, seit Mai dieses Jahres immer noch ein „ziviler Ausnahmezustand“.

Das bedeutet: Hilfsorganisationen und Journalisten ist der Zutritt verwehrt. Der Krieg hat die Menschen von der Außenwelt abgeschnitten.

An diesem Sonntagmorgen hört man aus Banda Aceh deswegen gerade noch, dass der Kontrollturm des Flughafens kaputt ist, das Flugfeld unter Wasser steht, keine Flugzeuge mehr landen können. Dann sind die Telefonleitungen unterbrochen, und man hört lange nichts mehr.

Banda Aceh ist das schwarze Loch dieser Katastrophe und wird es noch bleiben, tagelang.

Sonntag Früh, Europa

Die ersten Nachrichten aus der Region klingen noch nicht sonderlich dramatisch: Ein Tsunami habe in Indonesien mehrere Menschenleben gefordert, berichtet eine lokale Radiostation, Küstenbewohner seien ins Landesinnere geflüchtet. Viele Europäer wissen da noch nicht einmal, was ein Tsunami eigentlich ist.

Um 4.23 Uhr mitteleuropäischer Zeit – knapp vor halb elf Uhr in Indonesien und Thailand – sendet die Austria Presse Agentur (APA) eine erste Meldung aus: „Starkes Erdbeben mit Flutwelle in Indonesien – neun Tote.“

Nur die internationalen Hilfsorganisationen hören zu diesem Zeitpunkt schon genauer hin – dafür sind sie da. Sie haben ein Alarmsystem und detallierte Einsatzpläne für Krisen wie diese. „Ärzte ohne Grenzen“ etwa kann innerhalb von 24 Stunden seine Helfer samt Ausrüstung mobilisieren. Die Organisation ist bekannt dafür, dass sie oft als erste vor Ort ist, und zwar vor allem dort, wo sonst keiner ist. Dafür braucht es Erfahrung, eine nüchterne Einschätzung der Lage und Informationen.

Sonntag Früh liegt schon alles bereit, falls es gebraucht werden sollte: In Bordeaux und in Brüssel stehen die Logistikzentren von „Ärzte ohne Grenzen“, samt Lagerhallen. Jedes Katastrophenszenario hat einen Code, je nach Art des Unglücks, klimatischen Verhältnissen, Krankheitsgefahren im betroffenen Gebiet, und für jedes Szenario gibt es vorab gepackte Kits, vom Zoll bereits abgefertigt, bereit zum Verladen. Ein Notfallkit enthält Medikamente, Verbandsmaterial, Hygieneartikel, einfache medizinische Geräte – 24 Kisten, 830 Kilo, 3,1 Kubikmeter, die ausreichen, um 10.000 Flüchtlinge drei Monate lang zu versorgen.

Sonntag Früh, wenige Stunden nach dem Beben, ist noch nicht klar, welcher Code eingegeben wird – und ob überhaupt. Das Chaos ist erst dabei, sich seine Schneisen zu schlagen.

Sonntagvormittag, Thailand

„Der furchtbarste Moment“, sagt Michaela Dörflinger, „war der, als das Wasser unseren Sohn weggerissen hat.“ Als der Tsunami über Khao Lak zusammenschlägt, sind sie, ihr Lebensgefährte Otto Skrube und Mario gerade dabei, sich anzuziehen. Sie flüchten aus ihrem Bungalow, Skrube schreit nur ein Wort: „Baum!“ Die beiden Erwachsenen schaffen es, sich an einen Stamm zu klammern, der Dreizehnjährige erwischt nur einen Palmwedel. Er verschwindet in der braunen Suppe.

„Es war eine todbringende Walze, die da über die Küste gerollt ist“, sagt Eduard Issel, „in der alles enthalten war: Abfall, Sand, Geröll, Liegestühle, Mauerteile, Menschen, Palmen.“

Allein in Khao Lak sterben in diesen Stunden mehr als tausend Menschen, darunter vermutlich auch dutzende Österreicher. „Ich habe Menschen gesehen, denen Körperteile von Splittern durchbohrt wurden“, sagt Issel. „Menschen, denen Hände oder Arme abgetrennt wurden.“

Mario ist ein guter Schwimmer und hat Glück. Er wird von den Wassermassen hundert Meter mitgespült und hangelt sich dann, mit gebrochenem Arm, über einen Balkon ins Hotel.

Auf Phuket wird Johann Marold von der ersten Flutwelle erfasst, als er hinter seiner Frau Waltraud zum Hotel flüchten will. Der Brecher spült ihn über einen Zaun und durch den Hotelpool. Irgendwo kann er sich festhalten und dabei noch eine Frau mit einem Kind an der Hand zu sich ziehen. Kurz bevor die dritte und größte Woge kommt, rettet er sich in die Lobby.

Auf Phi Phi Island, jener thailändischen Insel, die als Drehort für die Verfilmung des Psychothrillers „The Beach“ diente, kommt der Schriftsteller Josef Haslinger beinahe unter einem Wellblechstück zu Tode, das ihn ins Wasser drückt. „Das ist so, als wäre man eine Ameise, die den Abfluss hinuntergespült wird“, wird er später erzählen.

Sonntag Früh, Österreich

In Kärnten, wo Ursula Plassnik die Weihnachtsfeiertage verbringt, klingelt im Morgengrauen das Telefon. Die ÖVP-Außenministerin, erst seit kurzem im Amt, wird vom Journaldienst ihres Hauses über die Lage informiert: Routinesache, sobald die Vermutung besteht, dass Staatsbürger im Ausland ums Leben gekommen sein könnten. In der Region befinden sich an die 3000 Landsleute.

In Österreich ist es jetzt knapp nach fünf Uhr Früh. Das Land schläft sich in den zweiten Weihnachtsfeiertag.

APA-Meldung 0024, 5.41 Uhr Mitteleuropäische Ortszeit (MEZ): Flutwelle reißt Touristen auf thailändischer Ferieninsel ins Meer.

APA 0025, 5.50 Uhr MEZ: Zehn Tote bei Flutwelle nach Erdbeben an Küste Sri Lankas.

APA 0028, 6.04 Uhr MEZ: VORRANG – Erdbeben in Südostasien. 160 Tote nach Flutwelle in Sri Lanka, 100 Verletzte in Thailand.

Bei den Nothilfe-Organisationen laufen die Telefone heiß. Wie schlimm ist es wirklich? Welche Mitarbeiter sind bereits in der Nähe der Krisengebiete? Sie werden losgeschickt, um sich ein Bild der Lage zu machen. Es wird noch ein paar Stunden dauern, bis man Entscheidungen treffen kann.

Sonntagvormittag, Sri Lanka

Die Einwohner der besseren Viertel in der Hauptstadt Colombo bekommen von der Welle gar nicht so viel mit. Colombo liegt an der Südwestküste der Insel. Im Hafen krachen ein paar große Schiffe gegen die Kaimauern. In den Kanälen, die die Stadt durchkreuzen, schwappt der Wasserspiegel hoch und schwemmt Möbel, Matratzen und andere Habseligkeiten an. Es hat die Slums weggerissen, die nah am Wasser standen, die Schaulustigen stehen auf den Brücken und schauen zu, was vorbeitreibt. Sie ahnen das Ausmaß der Verheerung nicht, nur wenige Kilometer weiter im Süden.

Matara liegt dort, 60 Kilometer weit weg, an der Küste. Jeden Sonntag findet hier der Wochenmarkt statt, auch heute. Chandana Wickremaratne ist der örtliche Polizeichef, und er kann es nicht fassen: „Es hat alles einfach weggewaschen“, sagt er. Standler, Kunden, Waren, Spaziergänger, alle, alles. Im örtlichen Hochsicherheitsgefängnis drückt das Wasser die Mauern ein, 300 Gefangene nützen die Gelegenheit zur Flucht.

Eine vollbesetzte Eisenbahngarnitur ist auf der Strecke zwischen Colombo und Galle unterwegs. Es reißt sie weg, samt Schienen und 1500 Fahrgästen, von denen keiner überlebt, aber das wird man erst zwei Tage später erfahren.

Die Mauern von Galle, einer historischen Hafenstadt an der Südspitze der Insel, haben schon viel ausgehalten. Sie gehören zu den Befestigungsanlagen des alten Forts aus der holländischen Kolonialzeit. Im vergangenen Jahr erst sind sie renoviert worden; Galle ist von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt worden. Jetzt reicht den Menschen plötzlich das Wasser bis zum Kinn, sie klammern sich an umgestürzte Busse, an aus den Angeln gehobene Türen, im Hintergrund kreischen die Alarmanlagen der fortgeschwemmten Autos.

Der Geschäftsmann Thivanka Kandy beobachtet eine Gruppe von sechs halbwüchsigen Mädchen, die zum Einkaufen durch die Altstadt schlenderten. „Sie klammerten sich an eine Säule. Dann verlor eine von ihnen den Halt, und alle anderen ließen ebenfalls los. Wahrscheinlich wollten sie ihrer Freundin helfen. Mögen sie im Jenseits dafür belohnt werden.“

„Ocean is coming!“: Die Warnrufe der Hotelangestellten haben am späten Vormittag auch die Filmemacher Helmut Voitl und Elisabeth Guggenberger aus der Ruhe gerissen. Ihre Unterkunft liegt sicher auf einer Anhöhe. Von dort aus müssen sie mit ansehen, wie die Küste ertränkt wird. Voitl sieht 15 Meter lange Fischerboote, die von der Wucht des Wassers hunderte Meter ins Landesinnere katapultiert wurden. Er sieht einzelne Hausmauern, die aus dem Trümmerfeld ragen. An manchen hängt noch ein gerahmtes Familienfoto oder ein Spiegel.

Mohamed Sabib hingegen hat von der Killerwelle, die unter seinem Fischerboot durchgelaufen ist, nicht mehr gemerkt als ein leichtes Schaukeln. Er hat sich nichts dabei gedacht. Gegen Mittag tuckert er langsam zurück zum vermeintlich sicheren Hafen. Als er dort ankommt, steht in Maradana kein Haus mehr.

APA-Meldung 035, 7.35 Uhr MEZ: EILT – Erdbeben in Südasien: Über 300 Tote auf Sri Lanka. Anzahl der Toten in Südindien auf 74 gestiegen. Evakuierungen in Thailand.

Sonntagvormittag, Malediven

Auf dem Flugplatz von Male sitzt Pilot Dieter Malina im Cockpit seiner Turboprop ATR 42, ein Rotor läuft bereits, der Tower hat „Taxi clearance“ erteilt – die Erlaubnis, zur Startbahn zu rollen. In diesem Moment strömt zwischen den Hangars die See auf das Flugfeld. Sie schiebt Ölfässer und Mülltonnen vor sich her, das Wasser steigt an den Rädern der Turboprop empor. Malina und sein Copilot klettern auf den höchsten Punkt, den sie erreichen können: das Flugzeugdach. Ein Autobus wird an ihnen vorbei auf die Startbahn gespült. Aus dem Becken des Wasserflugplatzes ragen die Heckflossen versunkener Maschinen.

Im Hotel gleich neben dem Flughafen ist der britische Parlamentsabgeordnete Jim Fitzpatrick untergebracht. Er hat seine Frau dabei. Die hat ihn in der Früh noch ermahnt, nicht so zu wackeln, als das Bett bebte. Um neun Uhr muss Fitzpatrick bei seiner ersten Sitzung sein, denn er ist hier, um die Wahlen zu beobachten, die am 31. Dezember stattfinden sollen.

Wahlen sind nicht üblich auf den Malediven. Parteien sind verboten, Dissidenten werden immer wieder eingesperrt, seit über 26 Jahren regiert Präsident Maumoon Abdul Gayoon, ein Patriarch der alten Schule.

Aber weil ein bisschen Demokratie langfristig besser fürs Touristengeschäft ist, hat er sich zu Reformen durchgerungen. Ihm ist wichtig, was die Welt von ihm denkt. Er braucht ihre Hilfe. Seit Jahren schon warnt Gayoon vor den Gefahren durch die Erderwärmung. Sein Reich besteht aus 1200 Inseln, 200 davon bewohnt, die meisten seiner 300.000 Einwohner leben nur einen knappen Meter über dem Meeresspiegel.

Sein Reich ist bedroht; wie sehr, das bestätigt sich an diesem Vormittag. Als die Welle über die Atolle schwappt, verschwinden die Malediven einen Moment lang von der Erde. Emmerich Steiner, Regierungsrat in Ruhe, sieht im Meeru Island Resort mit Entsetzen, wie der Frühstückstisch, den er gerade verlassen hat, weggerissen wird.

Die Flut ist auf den Malediven nur mehr knietief. Die Wellen haben auf ihrem 2500 Kilometer langen Weg schon einiges an Kraft verloren. Doch ihre Kraft reicht aus, um die geplanten Wahlen zu verhindern; sie werden auf später verschoben. Wenn die Natur zuschlägt, muss die Demokratie warten. Radio Maledu sendet Gebete.
Ist es vorbei?
Es fängt gerade erst an.

Sonntagmittag, Wien

Noch hat das Wiener Außenamt keine Vorstellung davon, was sich im Indischen Ozean tatsächlich abgespielt hat. Die Rede ist von ein paar Leichtverletzten unter einer österreichischen Reisegruppe in Sri Lanka. Immerhin: Man richtet eine Notruf-Hotline mit sieben Telefonisten und einen achtköpfigen Krisenstab ein.

In Khao Lak schleppt sich Michaela Dörflinger derweil mit zerschnittenen Füßen die Stiegen in den zweiten Stock des Hotels Muktara hoch, weil Gerüchte über eine neuerliche Flutwelle herumgeistern. Auf ihrem Weg dorthin tappt sie an mehreren Toten vorbei. Über dem Hotel knattern die Rotorblätter eines Helikopters. Es heißt, dass die Tochter des Königs von Thailand evakuiert wird.

APA-Meldung 140, 12.49 Uhr MEZ: VORRANG – Zahl der Flutwellen-Opfer auf mindestens 4000 gestiegen.

Ortszeit Thailand: knapp vor 19 Uhr. Ortszeit Sri Lanka: 18 Uhr. Die Sonne geht unter. Es wird dunkel.

Das Außenministerium ist völlig unvorbereitet auf die Zahl von Anfragen: Tausende wollen Informationen über das Schicksal ihrer Angehörigen. Viele kommen nicht weiter als in die Warteschleife. Dann wird es auch in Österreich dunkel.

Am Abend starten zwei Linienflüge der AUA planmäßig nach Colombo und Bangkok.

APA 249, 18.12 Uhr MEZ: Vorrang – Seebeben: Mehr als 10.200 Tote in Südostasien.

Montag Früh, Tamil Nadu, Indien

Tamil Nadu, die südöstlichste Provinz Indiens, ist keine gängige Destination für Pauschaltouristen. Über den Hafen von Chennai, der Provinzhauptstadt, werden Leder, Erdnüsse und rohe Baumwolle exportiert; im Hinterland gibt es Chemiewerke, Textilfabriken und ein Atomkraftwerk, und südlich davon, entlang der 2000 Kilometer langen Küste, erstreckt sich Indien, wie es indischer nicht sein könnte: ein Fischerdorf neben dem anderen, Hunde, Ziegen, Hühner. Die Menschen, die hier leben, sind tief verwurzelt in Traditionen, pflegen archaische religiöse Zeremonien mit Hingabe. Sie leben von ihren Netzen, den Booten und dem Meer.

Jetzt schwimmen im Meer die Leichen. Die Trauerschreie der Frauen gellen über den Strand. Überall Kessel, Kochtöpfe, Plastikschlapfen, zerbrochene Möbelstücke. Verletzte, blutende Ziegen stolpern unter den Palmen umher. Es riecht nach Fisch, Kerosin und Kadavern. „Warum hat mich das Meer am Leben gelassen?“, klagt die Fischersfrau Kalyani der Zeitung „Hindu News“. Ihre Söhne waren draußen in den Booten fischen, ihre Tochter war am Strand, jetzt sind sie alle weg, die Hütte samt allen Habseligkeiten ebenfalls. „Das Wasser hätte mich gleich mitnehmen sollen.“

Montag Früh, Phuket, Thailand

Raus. Nur raus hier. Auf den Straßen von Phuket herrscht heilloses Chaos: Urlauber irren kaum bekleidet zwischen den Trümmern herum, Verletzte werden in die überfüllten Spitäler geschleift, Angehörige suchen nach Vermissten, Leichen liegen im Schutt, Medikamente fehlen, die Ärzte in den Notfallambulanzen nähen Wunden ohne Betäubungsmittel.

Waltraud und Johann Marold entschließen sich, die Katastrophenzone auf eigene Faust zu verlassen, fahren zum Flughafen von Phuket und ergattern zwei Plätze in einer Maschine nach Bangkok.

Michaela Dörflinger, Otto Skrube und ihr Sohn Mario haben die Nacht, mit Handtüchern zugedeckt, im Freien verbracht. Am Morgen bringt sie ein Thai auf einem Pritschenwagen zu einem Nothospital, das in einem buddhistischen Tempel eingerichtet wurde. Marios gebrochene Hand und die Schürfwunden werden versorgt, später ruckeln sie in einem überfüllten Bus nach Phuket. „Ich weiß nicht mehr, wie es gegangen ist, aber irgendwann hatten wir mithilfe einer einheimischen Frau, die unsere Verletzungen bemerkt hat, ein Flugticket in der Hand“, sagt Michaela Dörflinger.

In Phuket versucht der österreichische Diplomat Erwin Ferner derweil, eilends aus der thailändischen Hauptstadt eingeflogen, die Lage einsam und allein unter Kontrolle zu bringen. Im Büro des Honorarkonsulats, das stundenlang nicht besetzt war, drängen sich dutzende verstörte und verzweifelte Urlauber.

APA 032, 7.41 Uhr MEZ: EILT Seebeben: In Thailand laut Konsul drei Österreicher tot.

Während sich die Regierung in Berlin schon auf hunderte deutsche Opfer einstellt, weist das Außenministerium in Wien Befürchtungen über österreichische Tote hartnäckig zurück. Die Telefonzentrale bricht zusammen, E-Mails mit Anfragen gehen verloren.

Die AUA weigert sich, Auskunft über die Identität der Passagiere zu geben, die mit den ersten Flügen aus der Krisenregion nach Österreich zurückkehren sollen: Datenschutz.

Montagvormittag, Galle, Sri Lanka

Es war eine Nacht in kompletter Finsternis, in Galle gibt es keinen Strom mehr. Als es wieder hell wird, beginnt das große Taumeln: „Die Stadt füllt sich mit Flüchtenden, Umherirrenden, Suchenden“, berichtet der BBC-Mitarbeiter Ronald Buerke. Die Touristen von den umliegenden Stränden wollen nach Hause, irgendwie; die Einheimischen von den umliegenden Stränden haben kein Zuhause mehr. Die Straßen sind kaputt, von Armee und Polizei ist außer ein paar kreisenden Hubschraubern nichts zu sehen, und das Wasser wird knapp.

„Die Menschen graben den ganzen Tag im Schlamm und in den Ruinen, nach Essen, nach Wasserflaschen, nach irgendetwas. Dabei graben sie viele der Leichen wieder aus, die man eben erst hastig verscharrt hat“, berichtet Buerke. Dann gräbt man die Leichen wieder ein, denn sie werden bald zu stinken beginnen, und für Zeremonien ist keine Zeit.

In Sri Lanka ist kein einziger österreichischer Diplomat. Das Außenamt muss erst einen im arabischen Raum stationierten Beamten suchen, der sich über Abu Dhabi nach Colombo durchschlägt. „Wir waren völlig auf uns allein gestellt“, ärgert sich Amir Taheri, Grafikdesigner aus

Wien: „Es gab keine österreichische Ansprechperson, keinen Telefonkontakt, nichts.“

Die Filmemacher Elisabeth Guggenberger und Helmut Voitl haben sich entschieden, Sri Lanka nicht zu verlassen, wie tausende andere: „Dass jetzt alle flüchten, hat für die Einheimischen eine fatale psychologische Wirkung“, sagt Voitl. Stattdessen organisieren die beiden eine Hilfsaktion und beginnen, Geld zu sammeln. In kürzester Zeit kommen rund 2000 Euro zusammen. Sie kaufen Medikamente und Nahrungsmittel und verteilen sie mithilfe von Mönchen eines buddhistischen Klosters.

APA 174, 11.26 Uhr MEZ: EILT – Erdbeben in Asien: Zahl der Flutopfer auf rund 20.000 gestiegen.

Montagabend, Tamil Nadu, Indien

In den Fischerdörfern von Tamil Nadu war das Leben nie einfach. Die Alten können sich an mehrere Hungersnöte erinnern, erst im vergangenen Jahr kam eine Flut nach vier Jahren Dürre. Es gab Cholera, brennende Schulen und einen Skandal um vergiftetes Bier. Doch so etwas gab es noch nie.

Dutzende Dörfer an der Coromandelküste sind vom Erdboden verschwunden. Die lokalen Zeitungen berichten, es gebe nicht genügend Überlebende, denen man die toten Verwandten zum Begraben übergeben könne. Die Spitäler ersuchen dringend, keine Toten mehr zu ihnen zu bringen. Die Behörden ordnen an, die Toten zu fotografieren und zu verbrennen, bevor Geier und andere Aasfresser sich ihrer bemächtigen können und Krankheiten übers Land tragen.

Am Abend fliegt ein Hubschrauber über die Küste. Drin sitzt die Regierungschefin von Tamil Nadu, Jayaram Jahalithaa, ehemals Schauspielerin. Sie ist eine schillernde Figur, korrupt, aber wird immer noch mit einer Hingabe geliebt, wie man sie nur in Südindien zustande bringt. Zu ihrem 54. Geburtstag schnitt sich ein Verehrer ihr zu Ehren die Zunge ab, zu ihrem 55. Geburtstag opferte einer seine Finger, und heuer, zum 56., malte einer 56 Bilder mit eigenem Blut.

Sie finde „keine Worte“, sagt Jahalithaa nun. Aber „ich werde nicht von eurer Seite weichen, um den Schmerz mit euch zu teilen“.

Montagabend, Brüssel

„Ärzte ohne Grenzen“ hat sich, wie die anderen Nothelfer, einen Überblick verschafft. Bilanz: In Indien haben die Behörden die Sache im Griff. Es gebe genug Nahrung und Medikamente, die Wasserpumpen werden instand gesetzt, und unter Zeltplanen hat das Gesundheitsministerium Erste-Hilfe-Stationen errichtet.

In Bangladesch ist, entgegen ersten Befürchtungen, kaum etwas passiert. Thailand stand, aufgrund seines gut funktionierenden Gesundheitswesens, nie auf der Liste der dringenden Fälle. Aber in Indonesien sieht es böse aus. Erst war von 5000, dann von 15.000, schließlich von 25.000 möglichen Todesopfern allein in Banda Aceh die Rede.

Das Charterflugzeug mit den fertigen Hilfskits steht bereit. Aber es gibt immer noch keine Einreisegenehmigung der Behörden.

Am Montagabend tritt der indonesische Außenminister Yusril Ihza Mahendra vor die Presse. Die „korrekten Prozeduren müssen eingehalten werden“, lässt er sie in dürren Worten wissen, die Regierung will erst „komplette Daten über die Lage sichern“, bevor man dem Ausland erlauben werde zu helfen.
Was ist dort bloß los?

Dienstag, Banda Aceh, Sumatra

APA 012 4.24 Uhr MEZ: Erdbeben in Asien – bis zu 40.000 Tote befürchtet.

48 Stunden sind vergangen, und immer noch ist Indonesien ein schwarzes Loch. Es gibt eine E-Mail des Polizisten Rilo Pambudi aus der Küstenstadt Meulaboh: Es gebe nichts mehr zu essen, verzweifelte Plünderungen, man erwarte ein Massensterben. Es gibt den Bericht des Vizepräsidenten Jusuf Kalla, der sich im Hubschrauber über die Region fliegen ließ, sich mit einem weißen Tuch den Schweiß der Erschütterung vom Gesicht wischte und meinte, es sei alles „viel, viel schlimmer als erwartet“. Es gibt ein paar Fotos von der großen Moschee mit den schwarzen Zwiebeltürmen in Banda Aceh, in deren Parkanlage Leichen gestapelt sind.

Die BBC-Korrespondentin Rachel Harvey ist eine der ersten Augenzeugen, die ins Epizentrum der Katastrophe vordringen. „Ich gehe, wo früher die Marktstraße war, mit Gemüsehändlern, Cafés. Jetzt sind da Schlamm, Schutt, ineinander verkeilte Teile von Autos und Motorrädern, dazwischen die Gliedmaßen von Menschen. Alles liegt noch genau dort, wo es das Wasser zurückließ, bevor es sich wieder ins Meer zurückzog. Niemand hat bisher etwas von der Stelle bewegt. Und mein Satellitentelefon ist das einzige Kommunikationsmittel, das funktioniert.“

Dass es in Banda Aceh immer noch keine Hilfe gibt, liegt an der Militärregierung. Sie ändert ihre Verhaltensmuster nicht, auch nicht im Augenblick der höchsten Not. Eine ganze Polizeibrigade wird seit der Flut vermisst, außerdem 500 Mann Militärpersonal samt ihren Familien. 15.000 Soldaten wurden ins Feld geschickt, um Leichen zu bergen, doch gleichzeitig fürchtet die Regierung in Jakarta, die Rebellen könnten das Chaos für einen Umsturzversuch nützen.

Deswegen also steht das Charterflugzeug von „Ärzte ohne Grenzen“ mit 32 Tonnen Medikamenten und Hygienematerial Dienstagmittag immer noch in Oostende abflugbereit, aber ohne Landeerlaubnis. Deswegen weiß niemand, ob es in Banda Aceh eine Million Obdachlose gibt oder noch mehr. Ob es stimmt, dass 6000 von den Wellen angeschwemmte Leichen bereits am Strand verwesen.

Die Rebellenführung in Schweden hat ihren Kämpfern befohlen, die Waffen niederzulegen und zu helfen. In Ermangelung jeder funktionierenden Telefonleitung ist diese Botschaft wohl nicht angekommen.

Dienstag, Wien

48 Stunden sind vergangen, doch erst jetzt erfährt die Welt von der Tragödie, die sich in Khao Lak abgespielt hat. Meldungen sprechen von 700 toten Touristen, darunter möglicherweise viele aus Österreich. Erste Reaktion des Außenministeriums: „Blödsinn“. Das Haus Plassnik will nur die Zahl von fünf Opfern bestätigen und über mögliche Vermisste gar nichts sagen.

Kann es auch gar nicht. Die gesammelten Informationen müssen von den Telefonisten einzeln in Computerfiles eingegeben werden und sind nicht vernetzt. Tags zuvor sind bei Systemabstürzen zudem zahlreiche Datensätze verloren gegangen. Die Rettungsteams, die am nächsten Tag losgeschickt werden, brechen ohne eine auch nur annähernd vollständige Liste der Vermissten auf.

Mittwoch, Sri Lanka, Ostküste
Nach drei Tagen unter tropischer Sonne wird das Wasserproblem akut – überall. Brunnen sind überschwemmt, Leitungen geborsten, Pumpen kaputt, und je mehr Leichen und Tierkadaver noch herumliegen, umso größer wird die Seuchengefahr. Noch sind keine Cholera- oder Typhusepidemien gemeldet, doch Nothilfe-Profis wissen, dass sie kommen werden. Deswegen revidiert die UNO ihre Prognosen nach oben: Die Opferzahl, die die Flut gefordert hat, wird sich durch Krankheiten noch einmal verdoppeln.

Und immer noch öffnen sich neue Fenster auf bisher versteckte Schauplätze. An der Ostküste Afrikas, in Somalia, haben die Tsunamis ganze Dörfer weggeschwemmt. Die Andamanen und Nikobaren, zwei Inselgruppen ganz nahe am Epizentrum, muss es schwer erwischt haben, doch Genaues weiß man nicht. Aus Sri Lanka hat man zwar erfahren, dass der deutsche Exkanzler Helmut Kohl erfolgreich aus seinem Ayurveda-Hotel evakuiert wurde, es gehe ihm gut. Doch von der Ostküste sickern Informationen nur ganz spärlich durch.

Dort, im Osten, gibt es kaum schicke Touristenresorts. Es ist ein Bürgerkriegsgebiet, vermint, geschunden, mit Flüchtlingsbaracken, mit einem brüchigen Waffenstillstand, und Teile davon regieren die Tiger von Eelam (LTTE), die tamilischen Rebellen. Wenn die Regierung Sri Lankas Opferzahlen meldet, dann sind jene aus den Rebellengebieten nicht mitgezählt; wenn Hilfslieferungen in Colombo ankommen, dann sind sie nicht für die Tiger bestimmt. Doch in ihrem Gebiet muss das Wasser am allergrimmigsten gewütet haben.

Im Küstenort Kallapaadu etwa lagen vor drei Tagen noch 1500 Fischerboote, heute seien noch sechs oder sieben übrig, melden die Tiger über das Internet, das ihre wichtigste Verbindung nach außen ist. Im örtlichen Waisenhaus waren 150 Kinder, von denen sie nur 20 retten konnte, berichtet Frau Vaitheki, die örtliche
LTTE-Chefin. „Ich hörte welche kreischen, die von der Welle ins Meer gezogen wurden, während ich versuchte, die anderen wiederzubeleben, die am Ersticken waren.“

Es klingt bei diesen Berichten Verbitterung durch. Darüber, dass die 8000 Vermissten, die es allein in Ampara gibt, ignoriert werden. Darüber, dass angeblich mehrere Lkws mit Hilfsgütern an den Grenzen zum Rebellengebiet gestoppt und anderswohin umgeleitet werden. Über die Hinterlassenschaft des Kriegs, die alles noch unerträglicher macht: Die Flut hat die Landminen aus dem Boden geschwemmt, mit denen Regierungstruppen und Rebellen ihre Stützpunkte befestigten – schon in den ersten Stunden nach der Flut soll es Explosionen gegeben haben.

Und dann geschieht in dieser gottverlassenen Gegend doch noch ein kleines Wunder: 3000 der Vermissten von Ampara tauchen wieder auf. Ein Armeehubschrauber findet sie auf einer schmalen Anhöhe, auf die sich Männer, Frauen, Kinder geflüchtet haben. Ein kreisender Armeehubschrauber hat für Tamilen noch selten etwas Gutes bedeutet. Diesmal wirft er Wasser und Nahrungsmittel ab.

Mittwoch, Sri Lanka, Westküste

Die Hilfsaktion von Elisabeth Guggenberger und Helmut Voitl läuft derweil gut. Besser jedenfalls als die Maßnahmen mancher großer Organisationen. In Colombo beobachtet Gerhard Kero, Urlauber und Sri-Lanka-Kenner aus St. Pölten, die Hilflosigkeit der Helfer. Vor dem Colombo Plaza, einem Fünfsternehotel, türmen sich Paletten mit Medikamenten. Und nichts geschieht damit, weil die Infrastruktur für ihre Verteilung fehlt. Im Plaza sitzt indessen ein professionell ausgerüstetes Katastrophenteam aus Frankreich den ganzen Mittwoch untätig herum, weil Anweisungen für den Einsatz fehlen. Immerhin: Man lässt sich das Buffet schmecken.

Im Süden der Insel, hört Kero von einem Freund, sei eine Lieferung mit Trockenmilch für Babys angekommen. Allerdings kann niemand etwas damit anfangen – es gibt keine Fläschchen, und sauberes Wasser zum Anrühren schon gar nicht.

Mittwoch, Wien

Unter dem Druck der Öffentlichkeit stockt das Außenministerium seine Krisenhotline auf 30 Plätze auf und schickt weitere Hilfsteams in die Region. Es sei in den Tagen zuvor schwierig gewesen, die Situation dort korrekt zu beurteilen, rechtfertigt man die Verspätung.

Michaela Dörflinger, die Khao Lak überlebt hat, liegt inzwischen im Spital von Leoben – mit Schnittwunden, Abschürfungen und einer Knieverletzung. „Das ist nichts“, sagt sie. „Das kann alles wieder heilen.“

APA 535, 18.12 Uhr MEZ: Rotes Kreuz und UNO befürchten mehr als 100.000 Tote.
Am Abend erwähnt Ursula Plassnik in einer Sondersendung der „Zeit im Bild“ erstmals „bis zu sechzig ums Leben gekommene Österreicher“. Man sieht ihr an, wie ungern sie darüber spricht.

Donnerstag, Banda Aceh, Indonesien

Das Flugzeug von Ärzte ohne Grenzen ist endlich in Banda Aceh gelandet, die Mitarbeiter sind an der Arbeit, und auch die UNO hat Hilfe versprochen. Erste Berichte bestätigen die schlimmsten Befürchtungen. Wo Lebensmittel abgeworfen werden, erzählen Helfer, brechen Kämpfe aus, so groß muss der Hunger sein.

Man hat nach Banda Aceh Bulldozer geschickt, Gruben ausgehoben und mit dem Begraben der verwesenden Leichen begonnen. Die Opferschätzungen stehen mittlerweile bei 80.000, doch keiner hat wirklich mitgezählt. „Wir zählen die Massengräber, nicht die Toten“, erklärt Provinzgouverneur Azwar Abu Bakar und schätzt 400 Leichen pro Grube. Identifiziert, fotografiert oder registriert wird hier kein Toter mehr. Es wird keine Totenscheine geben, keine Renten für die Hinterbliebenen.

Donnerstag, Tamil Nadu, Indien

Es hat eine obskure Erdbebenwarnung gegeben, an der Küste ist noch einmal Panik ausgebrochen. Die Nerven liegen blank in Indien. Eine Tageszeitung bringt eine aufsehenerregende Enthüllungsstory: Das Massensterben hätte vermieden werden können, wenn bloß die Behörden richtig funktioniert hätten. Bereits um 7.30 Uhr am Sonntag, erzählt General Krishnaswamy, war die indische Luftwaffe über das Erdbeben und die drohende Flut informiert. Die Information wurde an ein Ministerium weitergefaxt, allerdings mit der falschen Faxnummer.

So vieles weiß man heute, so vieles erfährt man erst jetzt, für so vieles ist es zu spät.

Donnerstag, Wien

APA 222, 11.47 Uhr MEZ: VORRANG – Außenministerium: 100 tote Österreicher in Khao Lak befürchtet.

APA 354 , 14.10 Uhr MEZ: EILT – Erdbeben in Asien: Fast 120.000 Todesopfer verzeichnet.

APA 443, 15.35 Uhr MEZ: Seebeben in Asien forderte über 130.000 Opfer.
Die österreichische Regierung beschließt, als Nothilfe eine Million Euro zur Verfügung zu stellen. Halb so viel, wie sie sich ihre neue Audi-Dienstwagenflotte kosten lässt. Noch immer warten hunderte Touristen darauf, ausgeflogen zu werden.
Vermisst werden: David Baumgartner, elf Jahre alt, blond, kurze Haare, zuletzt gesehen im Khao Lak Lagoon Resort. Elfriede Liesbauer, genannt Fritzi, 56, blond, blaue Augen, und ihr Mann Otto, 58, graues Haar, braune Augen, zuletzt gesehen im Khao Lak Seaview Resort & Spa. Karin Gartner, 38, schwarze Haare, 170 groß, grüner Kolibri mit Orchidee am linken Arm eintätowiert, zuletzt gesehen am Bang-Niang Beach.
Und viele andere.