Fluch des Pazifik

Nordkorea: Fluch des Pazifik

Pazifik. Der Machtkampf um die wichtigste Region des 21. Jahrhunderts

Drucken

Schriftgröße

„Weiqi“ ist ein Strategiespiel aus China, eines der ältesten seiner Art, und es funktioniert so: Mit insgesamt 180 Steinen soll der Gegner auf dem Spielbrett umzingelt werden. Wer am Ende die größere Fläche besetzt, gewinnt. Anders als beim Schach, dem westlichen Pendant, gibt es keine Zugpflicht, ein Spieler darf also passen und ist zu keinem für ihn ungünstigen Zug gezwungen. Es gibt auch kein Schachmatt, keine große Entscheidungsschlacht; beim „Weiqi“ konzentriert man sich auf die kleinen taktischen Züge und psychologischen Manöver.

Ähnlich wie bei dem beliebten Brettspiel verfährt die aufstrebende Macht China derzeit in der Pazifik-Region. Die Lage auf der koreanischen Halbinsel gilt als extrem angespannt, seit das Regime unter Kim Jong-un Woche für Woche neue Drohungen gegen seine Erzfeinde USA und Südkorea ausstößt. Diktator Kim wollte die weltweite Aufmerksamkeit – nun hat er sie: Die gesamte Region, die ohnehin schon als äußerst fragil gilt, ist in Alarmbereitschaft. Amerika, Russland, Japan und Südkorea bringen ihre Raketenabwehrsysteme in Stellung.

Und China? Passt und verweigert den ungünstigen Zug.

Während die Welt wie nach jedem Raketenstart, jedem Atombombentest und jeder Verhandlungsrunde auf das Regime in Pjöngjang starrt, geht der Blick dafür verloren, welcher übergeordnete Konflikt den Spielraum für die Provokationen des Regimes geschaffen hat: jener zwischen China und den USA.

Derzeit ist es vor allem das gegenseitige Misstrauen der beiden Giganten, das ein gemeinsames Handeln im Nordkorea-Komplex so unwahrscheinlich macht. Amerika versteht sich seit Jahrzehnten als Weltmacht, deren Einfluss bis an die Westküste des Pazifik reicht. China sieht sich um seinen Einflussbereich, seine Sicherheit und Ressourcen bedroht. Aus den widerstreitenden Ansprüchen der beiden Großmächte resultiert „wahrscheinlich der bestimmende militärische Konflikt des 21. Jahrhunderts: wenn nicht ein großer Krieg mit China, dann eine Reihe von Kalter-Krieg-artigen Auseinandersetzungen, die sich über Jahre und Jahrzehnte hinziehen werden,“ schreibt der US-Geostratege Robert D. Kaplan.

„Die Zukunft der Politik wird in Asien entschieden"
Seit seiner Wiederwahl im vergangenen November hat US-Präsident Barack Obama die Präsenz seiner Truppen im Asien-Pazifik-Raum zur obersten Priorität erkoren. Die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton umriss die neue Militärdoktrin in einem Artikel im US-Magazin „Foreign Policy“: „Die Zukunft der Politik wird in Asien entschieden werden, und die Vereinigten Staaten werden direkt im Zentrum des Geschehens sein.“ Dieselbe Stoßrichtung hatte auch der frühere Verteidigungsminister Leon Panetta vorgegeben, als er Anfang Juni 2011 auf einer Sicherheitskonferenz in Singapur ankündigte, die USA würden bis zum Jahr 2020 rund zwei Drittel ihrer gesamten Kriegsmarine in der Region stationieren; sechs von elf Flugzeugträgern sollen dann dort patrouillieren.
Die jüngsten Drohgebärden aus Nordkorea liefern den USA einen weiteren Grund für eine noch stärkere Militärpräsenz in der Region. Da die nordkoreanischen Raketen theoretisch US-Stützpunkte im Pazifik erreichen können, fahren vor allem die USA schwere Geschütze auf: Zwei Flugzeugträger beorderte Washington in den Westpazifik, zusätzlich zu zwei Zerstörern, einer Radarplattform, einem Atom-U-Boot, dazu Langstrecken- und Tarnkappenbombern.

Der Wettbewerb zwischen den USA und China sei „beispiellos in der Geschichte“, befand im vergangenen Jahr die chinesische, offen parteitreue Zeitung „Global Times“. China sei ein „festes strategisches Ziel der USA“ geworden. „Mit seinen Bemühungen, die chinesisch-amerikanischen Beziehungen zu verbessern, hat Peking es nicht vermocht, die Sorgen der USA über seinen Aufstieg zu zerstreuen“, hieß es in dem Artikel weiter. China müsse auf seine Stärken setzen und sich der „Eindämmungspolitik der USA“ widersetzen – ein Begriff aus dem Kalten Krieg, der das „Containment“ des Kommunismus durch die Amerikaner bezeichnete.

Wiederholt sich also die Geschichte?

Das Wettrüsten findet bereits statt, auch wenn diesmal der tödliche Antagonismus des 1989 überwundenen Ost-West-Konflikts fehlt. Die Chinesen nehmen die neue Militärdoktrin der USA als Eindämmung nach Kalter-Krieg-Manier wahr. Die Strategie nennt sich „AirSea Battle“ und erinnert wohl nicht zufällig an die frühere US-Militärstrategie „AirLand Battle“, einst dazu erdacht, den Vormarsch sowjetischer Panzer nach Westeuropa aufzuhalten. Die Militärallianzen mit Japan und Südkorea, das Atomabkommen mit Indien, die gemeinsamen Manöver mit den Philippinen und Vietnam, der Militärstützpunkt im australischen Darwin: In der Wahrnehmung Chinas dient all das dazu, Pekings Macht zu begrenzen.
Charles Freeman, der in Washington am Center for Strategic and International Studies forscht, sagte 2011 gegenüber der „Zeit“: „Es liegt in unserer DNA, sowohl der amerikanischen als auch der chinesischen, dass es zum Konflikt kommen wird. Alles ist dafür vorbereitet. Erstaunlich ist, wie friedlich es bisher geblieben ist.“

Bereits unter Obamas Vorgänger George W. Bush hatte die „Verteidigung des Pazifiks“, wie es die damalige Außenministern Condoleezza Rice formulierte, überragende strategische Bedeutung. Allerdings verlagerte sich die Aufmerksamkeit der Amerikaner als Folge der Anschläge vom 11. September 2001 auf den Nahen und Mittleren Osten und die Kriege im Irak und in Afghanistan.

Das Ende des „amerikanischen Jahrhunderts“
Bei aller Rivalität ist Obama allerdings bewusst, dass es keine wichtigere strategische Beziehung gibt als jene zu China. Wirtschaftlich kooperieren die beiden Länder eng miteinander und sind schon durch die chinesischen Exporte und die amerikanischen Rekordschulden verbunden. Washington hat sich damit abgefunden, dass China die USA in absehbarer Zeit als größte Wirtschaftsmacht ablösen wird. Das Ende des „amerikanischen Jahrhunderts“ mag sich abzeichnen, so leicht aber lässt sich die alte Supermacht nicht von der neuen verdrängen.

China will im Gegensatz zur ehemaligen Sowjetunion die vom Westen geprägte liberale internationale Ordnung nicht sprengen – im Gegenteil: Kaum ein anderes Land hat von der kapitalistischen Globalisierung so massiv profitiert wie die offiziell immer noch kommunistische Führung.
Während die Finanz- und Wirtschaftskrise den Machtanspruch der USA erschüttert hat, ist China gestärkt daraus hervorgegangen. Der wirtschaftliche Aufstieg der Volksrepublik wurde durch eine massive Aufrüstung begleitet. Entsprechend selbstbewusst tritt Peking auf. U-Boote, Raketen, Tarnkappenbomber, zuletzt sogar ein Flugzeugträger, das Prunkstück jeder Armee: Im Rekordtempo hat China sein Heer in eine moderne Streitmacht verwandelt.

Offiziell liegt der Etat für die 2,3 Millionen Soldaten der Volksbefreiungsarmee bei 91,3 Milliarden Dollar. Doch selbst wenn die Ausgaben in Wahrheit laut Schätzungen viel höher sind, bleiben sie damit noch immer weit unter dem US-Verteidigungsbudget. Der Ausbau der Streitkräfte folgt daher einem klaren strategischen Ziel, das im Militärjargon „access denial“ heißt: China will in der Lage sein, den USA den Zugang zu den Seegebieten vor seiner Küste zu verwehren.
China verstärkt massiv seine Präsenz im Südchinesischen, im Gelben und im Ostchinesischen Meer. Die Regierung in Peking will ein Gebiet dominieren, das von der Mandschurei im Nordosten bis nach Malaysia im Süden reicht. Die sogenannte „Erste Insellinie“ erstreckt sich von der Südspitze Japans über Taiwan bis zur Küste Vietnams. Die „Zweite Insellinie“ verläuft laut chinesischer Auffassung weiter östlich entlang der Marianen-Inseln, Guam und Palau.

Der Anspruch Chinas macht allerdings seine Nachbarn Vietnam, die Philippinen, Malaysia und Indonesien nervös, die nicht unter Pekings Kuratel gestellt werden wollen. China verletzt regelmäßig die Hoheitsrechte anderer Staaten und ist im Westpazifik in eine ganze Reihe von Gebietskonflikten verwickelt: Mit Japan und Taiwan wird um die Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer gestritten, mit Vietnam und Taiwan um die Paracel-Inseln sowie mit Vietnam, Taiwan, Malaysia, den Philippinen und Brunei um die Spratly-Inseln.

Hinzu kommt der wachsende Ölbedarf im Reich der Mitte. China ist zum größten Energieverbraucher der Erde aufgestiegen und zum zweitgrößten Ölverbraucher hinter den Vereinigten Staaten. 2011 förderte China 204 Millionen Tonnen – und verbrauchte 415 Millionen Tonnen. Seither fixiert man langfristige Lieferungen aus dem Ausland, kauft sich in fremde Unternehmen oder Lagerstätten ein und unternimmt neuerdings Tiefseebohrungen – und das ausgerechnet im ohnehin umkämpften Südchinesischen Meer, in dem 30 Milliarden Tonnen Öl und 16.000 Milliarden Kubikmeter Erdgas vermutet werden.

Die zehn Mitgliedstaaten der Vereinigung Südostasiatischer Nationen (Asean) sind gespalten. Vier von ihnen, die Philippinen, Vietnam, Malaysia und Brunei, erheben Ansprüche in dem Seegebiet, die sich mit jenen Chinas überschneiden.

Die Hegemonialansprüche Chinas treiben die asiatischen Nachbarländer in die Arme der Vereinigten Staaten. Mit Südkorea wurde das größte Freihandelsabkommen seit dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA ausgehandelt. Aktuell arbeitet die US-Regierung mit Hochdruck daran, die Verhandlungen über das „Transpacific Partnership“-Abkommen (TPP) zu einem Ende zu führen. Seit 2011 unterhalten die USA eine eigene Vertretung beim Asean-Sekretariat in Jakarta.

Bis auf autoritär gelenkte Staaten wie Kambodscha, Laos oder Myanmar schwindet die Anzahl der Freunde Chinas in seiner Nachbarschaft. Das Reich der Mitte droht seine Übermacht im Pazifik allmählich zu verlieren.
„Chinas Nordkorea-Politik ist auch der Teil seiner USA-Politik“, schreibt Ouyang Bing, renommierter chinesischer Journalist und Mitarbeiter der NGO Asia Society in New York, die sich für bessere Beziehungen zwischen den beiden Ländern einsetzt. „Solange die beiden einander nicht vertrauen, wird sich an Chinas Politik gegenüber Nordkorea nichts ändern.“

Einer Überlieferung nach wurde „Weiqi“ vom mythischen Urkaiser Yao als Unterrichtswerkzeug für seinen Sohn entworfen, der dadurch Disziplin, Konzentration und geistige Balance lernen sollte. Die Legende spiegelt eine der grundlegenden Ideen des asiatischen Spielbretts wider: die Veranschaulichung gegensätzlicher Auffassungen von strategischem Denken. Am Ende des Spiels ist es meist gar nicht so einfach, den Sieger zu ermitteln.