Nur Mut!

Kinder. Die Bedeutung von Wagniserfahrungen für die kindliche Entwicklung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden

Drucken

Schriftgröße

Von Verena Ahne

Lassen wir uns diesen Satz auf der Zunge zergehen: „Kinder müssen lernen, mit Risiken fertigzuwerden, und das kann auch zu Prellungen, Quetschungen und gelegentlich zu gebrochenen Gliedmaßen führen.“ Prellungen? Quetschungen? Knochenbrüche gar? Jede kindliche Verletzung ist doch eine zu viel!

Tatsächlich erstaunt die Deutlichkeit der seit 2008 gültigen EU-Norm für Spielplatzgeräte und -böden. Sie scheint dem gegenwärtigen Trend völlig zuwiderzulaufen, Kinder mit allen nur erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen vor jeder Blessur zu schützen, weil Eltern, Kindergärten und Schulen sich zunehmend davor fürchten, beim aufregenden, wilden, freien Spiel der Mädchen und Buben könnte „etwas passieren“. Das geht inzwischen so weit, dass empört der Rechtsweg beschritten wird, wenn ein Mädchen im Kindergarten vom Apfelbaum fällt, statt den ­dabei gebrochenen Arm als zwar unerfreulichen, aber nicht immer vermeid­baren Teil kindlicher Entwicklungserfahrung hinzunehmen – und dass den klagenden Eltern hier noch Recht gegeben wird, wie in Kärnten im Frühjahr 2012 geschehen.
Fachleute sehen den Trend mit Besorgnis. Sie warnen, diese Überbehütung könnte mehr Schaden anrichten als verhindern, und fordern das Recht des Kindes auf seine eigenen Beulen und Kratzer. Einer, der diese Meinung vertritt, ist Dieter Breithecker. „Jedes Fachgutachten hätte die Eltern mit ihrer Klage abblitzen lassen“, sagt der Leiter der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung (BAG) in Wiesbaden. „Fahrlässig wäre, Kinder auf morschen Ästen turnen zu lassen. Aber sicher nicht, sie Dinge tun zu lassen, die für ihre Entwicklung sinnvoll sind.“ Wie zum Beispiel auf Bäume zu klettern.

Komplexe Tätigkeiten
Denn Erfahrungen brauchen sie für ihre Hirnentwicklung: Ein Baby steht auf, wackelt, fällt. Steht wieder auf, macht ein paar Schritte, wackelt, fällt. Das aktiviert Verschaltungen im Gehirn: Synapsen feuern, Neuronen verbinden sich – das Gehen wird sicherer. Glückshormone fluten das Gehirnchen und spornen zu weiterem Üben an. Sobald das Trippeln halbwegs funktioniert, beschleunigt das Kind – und läuft. Nun gilt es, die Koordination zu verfeinern: Zuerst versucht es das auf ebenem Boden, entlang von Linien und Bordsteinkanten, bald erklimmt es breite Mauern.
Wird eine Aufgabe beherrscht, erhöht das Kind die Dosis: drei Sprossen, fünf, dann ganz die Leiter rauf; zögerlich, schneller, dann Kopf voran die Rutsche runter. Bald balanciert es auf schmalen Balken, Baumstämmen und wackligen Ästen. Es steigt immer höher, läuft immer schneller, fährt wilder, kreiselt rasanter, will ständig rutschen und gleiten und schaukeln und springen. All das lässt die kleinen grauen Zellen unaufhörlich neue Verbindungen knüpfen.

Vor allem in den ersten zwölf Lebensjahren bräuchten Kinder möglichst komplexe Tätigkeiten, sagt Bewegungsforscher Breithecker – je vielfältiger und alle Sinne beanspruchender, desto umfassender die Lernerfahrung. Im Alter zwischen drei und sechs Jahren leben Kinder ganz im Hier und Jetzt. In dieser Zeit, so der in Erlangen tätige Zoologe und Hirnforscher Ralph Dawirs, gelte es für ein Kind, Schlüsselqualifikationen zu erwerben: „Seine motorischen, emotionalen, kognitiven und sozialen Kompetenzen.“ Reflektieren, Bewerten, Vergleichen, Abwägen kommen erst ab der Schulzeit.

Die Psychologen Ellen Sandseter und Leif Kennair interpretieren die gewagten Übungen auch als Antiphobie-Training.„Das Kind verringert dadurch seine Angst vor Situationen, die gefährlich waren, als es noch kleiner war“, schreiben sie in der Zeitschrift „Evolutionary Psychology“. Angst in kleinen Dosen desensibilisiert gegenüber großer Angst – eine Methode, die erfolgreich zur Behandlung von Angststörungen eingesetzt wird.

Sandseter, Psychologin am Queen Maud University College, fand sechs Formen des gewagten Spiels, die Vorschulkinder besonders reizen: hohe Geschwindigkeit; wildes Toben und Raufen; die Nähe von Gefahrenstellen wie Wasser, Klippen, Abhängen; Hantieren mit gefährlichen Geräten; außer Sichtweite von Erwachsenen unbekanntes Terrain erkunden oder sich verstecken. Und, mit Abstand am beliebtesten, Kletterübungen aller Art, Abspringen von festem oder wackligem Untergrund, Balancieren, kopfüber Hinunterhängen, Schwingen und Schaukeln, je höher (nach) oben, desto besser.

Dabei wollen Kinder auch „außer Kontrolle geraten“, betont Helen Little von der Macquarie-Universität in Sydney: etwa kreischend einen Berg hinunterlaufen, gleichsam jede Sekunde in Sturzgefahr. Wie viel davon Eltern, aber auch Betreuungseinrichtungen, zulassen und wie sie in solchen Situationen reagieren, so Little, habe entscheidenden Einfluss darauf, wie gut ein Kind ein Risiko selbst einzuschätzen lernt. Hier geht es freilich um jene überschaubaren Risiken – oder besser Wagnisse –, bei denen ein Kind selbst entscheiden kann, ob es sie eingehen will oder nicht. Wirkliche Gefahrenmomente wie Kletterübungen am offenen Fenster müssen Eltern natürlich verhindern.

Die selbst gewählten Mutproben aber, empfiehlt der Psychologe Siegbert Warwitz, der einen Teil seiner Karriere dem Thema Risiko und Wagnis gewidmet hat, sollten Eltern ihre Kinder eingehen lassen: Sie sollten dabei zusehen, Vertrauen in das Kind gewinnen, es ermunternd anleiten, mit der Situation richtig umzugehen. „Eine gute Wagniserziehung begleitet behutsam beim Hineinwachsen in Wagnisse“, so Warwitz. Das kann beim Klettern sein, aber auch bei der Vorbereitung auf ein Referat oder im Verkehr. Warwitz fordert, Kinder allein zur Schule gehen zu lassen: „Das kann ein Schulanfänger nach einer sachgerechten Vorbereitung, das gehört zur Schulreife.“

Vertrauen in die Fähigkeiten des Kindes
Kinder, die sich auf all diese Arten erproben dürfen, sind später selbstbewusster und haben weniger Ängste – und ihre Eltern auch: Ein Baby gewähren zu lassen ist ein tolles Eltern-Desensibilisierungstraining für später. Denn „große Höhe“ ist für ein Kleinkind schon die mehrsprossige Leiter zur Babyrutsche. Selbst wenn es herunterfällt, wird es sich kaum verletzen. Und beim relaxten Zusehen gewinnen die Eltern das nötige Vertrauen in die kindlichen Fähigkeiten.
„Gerade auf Spielplätzen können sich Eltern wirklich entspannen und die Kinder tun lassen“, so Breithecker mit Blick auf die Tatsache, dass Spielplätze weit abgeschlagen in jeder Unfallstatistik rangieren. Klettern etwa ist sehr sicher: „Kinder wollen in die Höhe, damit bauen sie ihre Höhenangst ab. Aber sie gehen nur so weit, wie sie können.“ Und wer runterfällt, macht es beim nächsten Mal besser. Keine Ermahnung kann das lehren.

Der Londoner Risikoforscher David Ball stellte übrigens fest, dass ein weicher Untergrund auf Spielplätzen die – ohnehin niedrige – Zahl von Knochenbrüchen erhöht, nicht gesenkt hatte: Offenbar überschätzten die Kinder die Stoßdämpfung des Bodens und ließen sich auf gewagtere Manöver ein als über harten Böden, wo sie wussten, wie weh ein Aufprall tut.

Das ständige „Pass auf! Halt dich fest! Komm da runter! Nicht so hoch! Nicht so schnell! Du tust dir weh! Du wirst fallen! Warte, ich helf dir!“, das heute über alle Spielplätze hallt, zeigt jedenfalls Wirkung: Die gemaßregelten Kinder lernen zwar nicht, worin die Gefahr besteht – die Erfahrung dürfen sie ja nicht machen. Auch nicht, wie sie gefährliche Momente überwinden. Sie verbessern nicht ihre Koordination und Sicherheit und werden eines Erfolgserlebnisses beraubt. Dafür lernen sie, dem eigenen Urteil zu misstrauen: Offenbar ist die Welt ein Ort der Gefahren, die sie angeblich nicht alleine bewältigen können.

Das Problem wird dadurch verschärft, dass Kinder heute kaum mehr ohne Aufsicht im Freien spielen dürfen. Der ständige Erwachsenenblick aber behindert ihre freie Entfaltung. „Hätten meine Eltern von allem gewusst, was ich so treibe, sie hätten mir wohl auch so manches verboten“, schmunzelt der Bewegungsforscher Breithecker, der mit dieser Erfahrung sicher nicht alleine ist (siehe auch Kommentar von Robert Buchacher ab Seite 58). Ständig präsente ängstliche Erwachsene erzeugen jedoch ängstliche Kinder – vielleicht sogar angstgestörte, wie Sandseter und Kennair befürchten. „Und Risikoaversion zieht sich dann durchs ganze Leben“, bestätigt Breithecker.

Das fängt in Kindergarten und Schule an: Ängstliche, bewegungsunsichere Kinder werden öfter gehänselt – und bewegen sich dann noch unsicherer. Bewegungsmangel wiederum hemmt und verunsichert noch weiter. Die Verletzungsgefahr steigt. „Bei drei von vier verunfallten Kindern haben motorische Defizite zum Unfall geführt“, berichtete Peter Schober von der Klinischen Abteilung für allgemeine Kinder- und Jugendchirurgie in Graz im Vorjahr bei einer Tagung. Ungeschickte Kinder, die nicht einmal mehr einen Purzelbaum schlagen können, so der Sportmediziner, seien zum Beispiel eher suchtgefährdet. Außerdem sind bewegungsarme Kinder anfälliger für psychische Probleme wie Depressionen, soziale Auffälligkeiten, Haltungsschäden, Rückenschmerzen, Kopfweh, Übergewicht, möglicherweise ADHS. Sie sind weniger konzentriert und lernen schlechter als Kinder, die sich gern und viel austoben.

Und das alles, weil wir unseren Kleinen ein bisschen Blut, ein paar blaue Flecken, einen gebrochenen Arm ersparen wollen? „Ist den Leuten einmal klar, wie wichtig solche Lern- und Lebenserfahrungen für Kinder sind, können sie auch an sich arbeiten, um mehr davon zuzulassen“, rät Breithecker.

Man braucht dazu nicht viel: nur einen Satz, eine Zauberformel. Wann immer Warnworte auf den Lippen liegen oder es gar in Fingern und Beinen juckt, hinzuspringen und einzugreifen, ist der Moment gekommen, tief durchzuatmen und die weisen Worte von EU-Norm „DIN EN 1176–1“ zu wiederholen: „Kinder müssen lernen, mit Risiken fertigzuwerden … “

Hintergrund

4 bis 5 Jahre: Das Kind entwickelt immer mehr ein Ich-Bewusstsein, was sich auch an der Sprach­entwicklung festmachen lässt. Konnte es mit zwei Jahren ungefähr 200 Worte sprechen, sind es ­nun mehr als 2000. Kinder setzen sich intensiv mit dem eigenen Geschlecht auseinander. In dieser Phase können sie Spaß am Lügen und Schummeln haben.

5 Jahre: Der Körper beginnt sich stark zu verändern. Das kleinkindhafte Aussehen schwindet, die Extremitäten beginnen verstärkt zu wachsen. Auch der psychische Zustand der Kinder wandelt sich. Kinder werden häufig labil, neigen zu Stimmungsschwankungen. Das Spiel mit gleichaltrigen Freunden wird wichtig, eine Loslösungsphase von den Eltern und Geschwistern tritt ein.

Betriebsanleitung für Elternmut
l Vertrauen Sie Ihrem Kind – und staunen Sie, was es alles kann. Kinder brauchen ständig neue Herausforderungen.

l Wann immer möglich, wählen Sie Natur statt Spielplatz. Schon ein unverbautes Grundstück in der Wohnumgebung oder ein paar tiefe Pfützen im Wald bieten Kindern herrlichste Spiel-, Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten. In unstrukturierten Umgebungen lernen sie, sich viel sicherer zu bewegen; und ohne vorgegebenes Spiel‑ gerät entwickeln sie eigene, buntere Ideen. Besonders beliebt sind Wasser, Matsch, Klettern, Verstecken, Bauen.

l Nehmen Sie auf Ihre kleinen Abenteuerausflüge Nützliches mit wie Bindfaden, Seile, Taschenmesser – und immer ein paar Pflaster.
l Ziehen Sie Ihrem Kind alte Kleider und Schuhe an, die dreckig, nass, kaputt werden dürfen. Praktisch in der Übergangszeit, auch wenn es nicht regnet: billiges Matsch-Gewand.

l Auch Überforderung vermeiden: nicht zu Dingen zwingen, zu denen das Kind noch nicht bereit ist, und es nie (schon gar nicht laut) mit anderen Kindern vergleichen. Mobbing etwas ungeschickterer Kinder nie zulassen! Vermitteln Sie, dass jedes Kind sein eigenes Tempo, andere Stärken hat.

l Väter, übernehmt so viel Spielzeit mit euren Kindern wie möglich (und Frauen: lasst sie auch)! Männer spielen meist ganz anders, lassen tendenziell mehr Wagnis, Abenteuer, Dreck und Wildheit zu. Besonders für Kinder, die viel Zeit in weiblicher Betreuung sind, ist das eine wichtige Zusatzerfahrung.

l Kultivieren Sie die Kunst des Ja-Sagens: Ja, du darfst in den Matsch, auf den Baum klettern, in den Hof runter …

l Schließen Sie Bekanntschaften in Ihrem direkten Wohnumfeld. Je mehr Leute Sie kennen, umso einfacher ist es, ein etwas größeres Kind „hinaus zum Spielen“ zu ­schicken – das entlastet die Eltern und verschafft Kindern den so wichtigen Freiraum ohne Beobachtung.

l Erinnern Sie sich: Was durften Sie alles als Kind? Was war besonders schön, welche Verbote empfanden Sie als Einschränkung?
l Arbeiten Sie an Ihrer Wahrnehmung: Ein Sturz, ein offenes Knie, ein paar Beulen sind kein Drama. Überbehütung schon.