Kino: Ausgetrickst - Die Anti-Disneys

Kino: Ausgetrickst

Europas neue Trickfilmszene

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Der amerikanische Trickfilm alter Schule hat seine große Zeit, wie es scheint, hinter sich. Zwar floriert das digitale Animationskino der Firma Pixar („Findet Nemo“), doch dem ehemaligen Supermarktleader Disney geht es schlecht. Pixar hat die langjährige Vertriebspartnerschaft mit Disney vor kurzem erst aufgekündigt; und Disneys verkitschte „Bärenbrüder“ haben nach einem knappen halben Jahr Kinoeinsatz in den USA nicht mehr als 85 Millionen Dollar eingespielt. Pixars „Nemo“ schaffte fast das Vierfache. Dabei ist Disney keineswegs der einzige Verlierer: Für klassische Zeichentrickware interessiert sich gegenwärtig offenbar kaum jemand mehr, wie unlängst auch Steven Spielberg feststellen musste, dessen DreamWorks-Studio mit dem „Sinbad“-Film für desaströse Einspielergebnisse gesorgt hat.

Während in der Neuen Welt also über Wege aus der Krise nachgedacht wird, haben die Trickfilmemacher in Europa längst ästhetisch spannende Alternativen gefunden: Der Franzose Sylvain Chomet etwa bestätigt mit „Das große Rennen von Belleville“ (siehe Kasten) die qualitative und quantitative Aufwärtsbewegung in der europäischen Trickfilmszene. Wurden zwischen 1994 und 1998 nur 27 abendfüllende Arbeiten in Europa produziert, so sind seit 1999 68 solcher Filme fertig gestellt worden. Die Animationsfilmproduktion hat sich in den vergangenen Jahren somit fast verdreifacht.

Langfristige Originalität. Künstlerische Relevanz kann dabei allerdings nur ein Bruchteil dieser Filme für sich beanspruchen. (Der derzeit in den Kinos laufende „Derrick“-Trickfilm steht in puncto Witzlosigkeit und Erfindungsmangel leider immer noch für ein Gutteil der europäischen Animationsfilmproduktion.) Aber Originalität scheint sich langfristig durchzusetzen: Die britische Aardman-Animations-Manufaktur, deren unverkennbare Plastilintechnik – unter Fachleuten „claymation“ genannt – für ein paar Filmwelterfolge in den neunziger Jahren sorgte, ist dafür wohl das prominenteste und erfolgreichste Beispiel.

Aardman-Mastermind Nick Park, verantwortlich für Meisterwerke wie die „Wallace & Gromit“-Filmserie (1991–1995) oder den abendfüllenden Hühnerrevolutionsfilm „Chicken Run“ (2000), arbeitet bereits mit Hochdruck am nächsten „Wallace & Gromit“-Film, der die Kinos 2005 erreichen soll – „The Curse of the Wererabbit“ signalisiert schon verbal die Lust am Bruch mit überkommenen Klischees. Im Aardman-Universum zieht man den diabolischen Werhasen dem alten Werwolf jedenfalls vor. Auch den Übertritt nach Hollywood hat Aardman längst vollzogen: Mit „Wererabbit“ intensiviert Park die bereits in „Chicken Run“ erprobte Kooperation mit der Firma DreamWorks. Übrigens ist dies nicht die einzige laufende Aardman-Großproduktion: Die 40-Millionen-Dollar-Trickkomödie „Tortoise vs. Hare“ (Regie: Richard Goleszowski) soll ebenfalls 2005 in die Kinos kommen.

Freude an der Animation. Dem kommerziellen Trickfilm, erklärte Nick Park vergangenen Sommer, fehle vor allem eines: Imagination. Viele Arbeiten würden heutzutage von ihrem Kommerzialismus deformiert, es gehe immer nur um „Bedeutung“ – darum, wie sich eine Figur „motiviere“ und was sie „am Ende gelernt“ habe. Die Freude an der Animation komme dabei immer zuletzt.

Solche Freude ist „Belleville“-Regisseur Sylvain Chomet, 40, indes nicht abzusprechen. Fünf Jahre lang hat der Ex-Comiczeichner an seinem Debüt gearbeitet, einer französisch-kanadisch-belgischen Koproduktion, die achteinhalb Millionen Euro gekostet hat. Die Finanzierung solcher Filme steht in Europa stets auf der Kippe: Erst der unerwartete Erfolg des animierten Kinderfilms „Kirikou und die Zauberin“ (1998) hat Chomets Produzenten dazu bewogen, „Das große Rennen von Belleville“ zu riskieren. Der Film, dessen eigenartige Story um einen entführten Tour-de-France-Teilnehmer kreist, nutzt jede Gelegenheit, um nebenbei auch das Kino selbst und dessen mechanische Magie zu feiern. Die Slapstick-Komik von Jacques Tati, die bizarre Bilderwelt des Dreißiger-Jahre-Trickfilm-Pioniers Max Fleischer, Frankreichs poetischer Realismus, aber auch Monty Pythons extratrockener Surrealismus: All das fließt in „Das große Rennen von Belleville“ ineinander. Er glaube, sagt Chomet im Gespräch mit profil, „dass Trickfilm nicht nur absolut Teil des Kinos ist, sondern sogar schon vor dem Kino da war. Aber in Frankreich, ganz anders als in England, Amerika oder Japan, wird man dieses Vorurteil gegen den Animationsfilm nicht los. Das sei Kindersache, heißt es immer noch, nicht wirklich Kino.“

Respektvoller Umgang. Seinen Film, sagt Chomet, habe er nicht für Kinder geplant, sondern für Leute wie ihn selbst. „Denn um ehrlich zu sein, ich weiß überhaupt nicht, was Kinder mögen.“ Gegen „die alten Disney-Filme“ hat Chomet nichts, im Gegenteil: Er hält sie für „absolut brillant“ – nicht nur die Kurzfilme, auch „Aristocats“ oder „101 Dalmatiner“. Neueren Produktionen wie dem Kassenschlager „Findet Nemo“ attestiert er dagegen bloß, Standardware zu sein. „Das Problem mit den Filmen, die Disney und Pixar heute liefern, ist, dass man stets exakt weiß, was einen im Kino erwartet. Ich hasse das. Mein Film sollte an keiner Stelle je ahnen lassen, was im nächsten Moment passieren wird. Ich liebe surrealistische Filme: Luis Buñuel, Federico Fellini, Terry Gilliam.“

Dem britischen Trickfilm fühlt sich Chomet grundsätzlich näher als dem französischen. „In England geht man einfach respektvoller mit dem Medium um. Wenn es etwas gibt, das man sich vom europäischen Animationsfilm erwarten darf, dann wird es aus England kommen. Definitiv nicht aus Frankreich: Wie kann man dieses Land ernstlich ein Trickfilmland nennen, wenn jede Produktionsfirma ihre Animation in China oder Korea machen lässt? Frankreich ist eben ein Land, das sich nicht entwickeln oder gar ändern will. In England dagegen und sogar in Amerika gibt es den Drang, Neues zu versuchen.“ Derzeit lebt Chomet in Paris, aber sehr lange will er nicht mehr bleiben, „denn meine Produzenten hier versprühen nicht gerade Enthusiasmus, was mein nächstes Projekt betrifft“.

Surreales Österreich. Auch Österreich verfügt über eine kleine, aber international durchaus präsente Animationsfilmszene, der es traditionellerweise weniger um Familien-Entertainment geht als um die Kontaktaufnahme mit der Avantgarde: Virgil Widrichs handgemachter „Fast Film“ (2003) hat dies versucht, noch deutlicher geht die in Wien arbeitende Luxemburgerin Bady Minck in diese Richtung. „Im Anfang war der Blick“, ihre mit 45 Minuten Laufzeit bislang längste Arbeit, ist ein auf Realbildern basierendes, tricktechnisch aber völlig denaturiertes Spektakel, in dem die Gesetze der Schwerkraft und der Logik suspendiert sind.

Der Schriftsteller Bodo Hell sieht sich, als Filmheld, in eine Innenwelt zwischen Dichterstube und Kitschpostkartensujets versetzt, die unversehens zum makabren Österreich-Bild mutiert. Bady Mincks bizarrer Austro-Essay, stilistisch stets nah an den Motiven und Techniken des großen Prager Surrealisten Jan Svankmajer, hat vor einem Jahr auch die Programmmacher des Filmfestivals in Cannes zu einer Einladung bewogen. Eigensinn und Sarkasmus, das ist der europäische Weg. Das Prinzip Disney lebt hier nicht mehr.