Kino: Bilderblut - Haneke in Cannes

Kino: Bilderblut

Ein Bild kann verletzen, kann ein Verbrechen sein

Drucken

Schriftgröße

Im globalisierten Filmfestivalbetrieb, dessen Zugriff längst bis in die hintersten Winkel Argentiniens, Südkoreas und Sri Lankas reicht, sind künstlerische Ausnahmeleistungen, wo immer sie sich auch ereignen mögen, kaum mehr zu verheimlichen. Die Kartografen des Weltkinos haben in den vergangenen Jahrzehnten praktisch alle noch offenen Territorien erschlossen; Filmemacher zu entdecken, die nicht bereits als analysiert und kanonisiert gelten dürfen, fällt somit schwer. Die Programmmacher der Filmfestspiele in Cannes gehen mit dieser Tatsache gelassen um; der Schluss, den sie daraus ziehen, ist so simpel wie affirmativ: Statt riskante Forschungsreisen an die Ränder entlegener Filmkulturen zu unternehmen, unterstützen sie vielmehr gezielt und langfristig die großen Namen der Branche. So hat sich in Cannes über die Jahre eine Art Starsystem der Kinohochkultur etabliert, eine cinephile Elite, die von Hou Hsiao-hsien aus Taiwan bis zu Ousmane Sembène aus Senegal reicht.

Quasireligiöse Prozessionen. Das Epizentrum des wichtigsten Filmfests der Welt liegt paradoxerweise dennoch weder in den unaufhörlich bespielten Kinosälen noch in den Büros und Hotelsuiten der angereisten Geschäftemacher, sondern unter freiem Himmel, vor der Tür, buchstäblich auf der Straße. Ohne „les marches“, die Aufmärsche der Filmprominenz und ihrer Entourage auf dem roten Teppich vor dem Palais du Festival im Hafen der Stadt, könnte Cannes nicht sein, was es ist – erst dort, im Spektakel, das der Kunst ihren Rahmen gibt, findet die Kinoindustrie ihre große Ekstase, ihr Glück und Ende: In den täglichen quasireligiösen Prozessionen wird das Evangelium des Entertainments und der Megalomanie zelebriert, unterschiedslos vollzogen von Show- und Glamour-Profis (Sharon Stone, Catherine Deneuve), von Branchengrößen, denen ein gewisses Unbehagen angesichts des auf sie konzentrierten Interesses anzusehen ist (Charlotte Gainsbourg, Woody Allen), und von kreativen Eigenbrötlern, denen der Aufwand, der um sie herum betrieben wird, offenbar herzlich egal ist (Jean-Luc Godard, Bill Murray). Der Filmemacher Michael Haneke, 63, kann mit solchen Selbstdarstellungen, die Glanz und Elend der Filmindustrie gleichermaßen sichtbar machen, wenig anfangen.

Sein rigoroses Kino, das so sehr der Verknappung der Mittel und der Desillusionierung des Betrachters gilt, ist der Volksfest-Atmosphäre, in der die Filmfestspiele traditionell ablaufen, denkbar fern. Dennoch zieht es Haneke seit seinem Kinodebüt („Der siebente Kontinent“, 1989) immer wieder nach Cannes zurück. Mit dem Thriller „Caché“ hat Haneke soeben seinen achten Festivalauftritt an der Côte d’Azur absolviert. In Cannes finde eben, meint er lakonisch, das einzige Festival statt, das er ernst nehmen könne. Kein Wunder: Die Zuneigung beruht auf Gegenseitigkeit. Die privilegierte Position, die Haneke im inneren Kreis der Regiestars einnimmt, zu denen ihn zweifellos auch Cannes-Direktor Thierry Frémaux zählt, bedeutet für einen Künstler, der nicht das Wohlgefühl seines Publikums sucht, sondern vor allem dessen Destabilisierung, eine veritable Existenzsicherung.

Die erstaunliche Reputation, die Haneke in Frankreich genießt, hat nicht nur mit der Tatsache zu tun, dass er dort – beginnend mit „Code inconnu“ (2000) – mittlerweile vier Filme produziert hat; Hanekes Arbeit wird vor allem in Paris, jener letzten Hochburg der Cinephilie, bereits seit „Benny’s Video“ (1992) von Kritikern und Kinogängern aufmerksam verfolgt. Seit damals wird sein Werk in honorablen Filmzeitungen wie „Cahiers du Cinéma“ oder „Positif“ analysiert, aber auch in den großen französischen Tageszeitungen en détail verhandelt. Seine Arbeiten sind in Frankreich, auch der weltweiten Festivalerfolge des Regisseurs wegen, längst keine kleinen Filmstarts mehr, sondern aufsehenerregende Ereignisse: Anders als in Österreich ist es hier keineswegs unrealistisch, sich von einem Haneke-Film an der Kinokasse hervorragende Einspielergebnisse zu erwarten. Die vitale französische Kinokultur hat gleichsam einen Schutzmantel über Hanekes Werk gebreitet und den Regisseur gegen die Zumutungen einer normativen Unterhaltungsindustrie dauerhaft immunisiert. Die Grande Nation zählt Haneke ganz selbstverständlich zu den großen Filmemachern seiner Zeit, in einer Liga mit Abbas Kiarostami, Pedro Almodóvar, Gus Van Sant und Wong Kar-wai.

Natürlich hat Haneke auch in Frankreich nicht nur Freunde; von dem Misstrauen beispielsweise, das ihm als Österreicher in der – trotz allem chauvinistischen – französischen Filmbranche bisweilen entgegenschlägt, berichtet Michael Haneke auch heute noch. Aber Rückzug ist seine Sache nicht: Die französisch-österreichische Koproduktion „Caché“ (Produktionsbudget: acht Millionen Euro) sieht nun, schon der Pariser Schauplätze wegen, deutlich „französischer“ aus als „Die Klavierspielerin“ (2001) und „Wolfzeit“ (2003), schließt somit eher an „Code inconnu“ an als an die beiden jüngeren Filme; zudem spielt Juliette Binoche, wie schon in „Code inconnu“, in „Caché“ erneut eine der Hauptrollen.

Ein Bild kann verletzen, kann ein Verbrechen sein: Davon geht „Caché“ aus. Schon die erste Einstellung des Films ist ein Täuschungsmanöver: Sie zeigt eine Straßenecke, einen Hauseingang, scheinbar nichts Besonderes. Aber das Bild ist nicht einfach nur der Einstieg in die Erzählung; es ist schon der Blick eines Täters, eine Provokation: ein heimlich hergestelltes Videobild, das aus dem Off kommentiert und manipuliert wird. Ein Fernsehmoderator (Daniel Auteuil) und seine Frau (Binoche) erhalten anonyme Videobänder, die solche Überwachungsbilder zeigen, aufgenommen direkt vor ihrem Haus; den Paketen liegen kindliche Zeichnungen bei, die Gewaltakte darzustellen scheinen. Der bourgeoise Alltag des Paars wird von der rätselhaften Post nachhaltig erschüttert; aber die Bänder liefern Indizien, die den Mann auf eine Spur bringen. Eine lange verdrängte Geschichte aus seiner Kindheit, die mit persönlicher Schuld, mit Klassenverhältnissen und Frankreichs kolonialer Historie zu tun hat, taucht unversehens wieder auf: „Caché“ ist der Versuch, sich von den unerledigten Schrecken der Vergangenheit ein Bild zu machen. Die Gegenwart stößt sich am Vergangenen blutig: nicht versöhnt.

„Caché“ ist ein Thriller, aber einer, der sich die Freiheit nimmt, nicht nur das Uhrwerk des Suspense, sondern auch die Politik, das Soziale und die jähen Machtverschiebungen zwischen den Menschen im Auge zu behalten. Man kann diesen Film, so spannend er ist, ebenso gut auch ein Melodram nennen oder eine politische Allegorie. Haneke ist als Auteur zu stark und zu genau, um bloß ein Genre zu bedienen.

Hanekes Arbeit, die seit je – durchaus im Sinn Robert Bressons – größtmöglicher Einfachheit, aber auch potenzieller Wandelbarkeit verpflichtet ist, hat sich mit „Caché“ weiter verändert: Äußerlich gibt sie sich noch simpler, noch klarer und noch unverstellter; innerlich aber, in seinem Kern, wirkt „Caché“ sogar komplexer noch als alle früheren Filme Hanekes, weil er, ohne jede Prätention, auf mindestens drei Ebenen zugleich agiert: auf der „kriminellen“, der medialen und der historischen. „Caché“ ist ein Film über den Schock des Verlusts an Privatheit, ein Film übers Bildermachen und über Frankreichs Geschichtstraumata.

Äußerste Ambiguität. In den Branchenblättern und Feuilletons wurde dieser Tage übrigens ein Aspekt breitgetreten, der auf ein bemerkenswertes Missverständnis schließen lässt: Hanekes Kino, so die veröffentlichte Meinung, sehe „zugänglich“ aus wie nie zuvor, erstmals zeichne sich eine Aussöhnung von Kunst und Unterhaltung ab. Von einer stilistischen Kehrtwendung kann jedoch keine Rede sein, auch wenn „Caché“ linearer, weniger episodisch als die meisten Werke dieses Filmemachers konstruiert ist; Hanekes Kino war nie unzugänglich – und es bleibt eines der äußersten Ambiguität: In dieser Hinsicht trifft er sich übrigens mit seinem kanadischen Kollegen David Cronenberg, dessen jüngste Arbeit, „A History of Violence“, interessanterweise ebenfalls von den korrosiven Spätfolgen einer gewalttätigen Vergangenheit handelt.

Das Bild des Künstlers Haneke hat sich während der vergangenen paar Tage jedenfalls seltsam erneuert: Während die internationale Filmkritik die Weltpremiere des apokalyptischen Haneke-Dramas „Wolfzeit“ vor zwei Jahren in Cannes noch mit reichlich Unverständnis und zwiespältigen Reaktionen bedachte, wurde „Caché“ heuer mit fast ungeteiltem – und keineswegs nur französischem – Lob bedacht.

Wer an Projekten dieser Größe arbeitet, sieht sich gezwungen, weit voraus zu denken. All die Partys, Galadiners und Interviews, die er in Cannes absolviert hat, müssen Haneke ein wenig surreal vorgekommen sein, denn derzeit befasst er sich eigentlich mit ganz anderen, älteren Geschichten: Ende Jänner 2006 wird Haneke an der Pariser Oper Mozarts „Don Giovanni“ inszenieren.

Von Stefan Grissemann, Cannes