Endzeit im Bild

Kino: Endzeit im Bild

Kino: Michael Hanekes „Wolfzeit“

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Etwas ist geschehen, vor dem Einsetzen dieser Erzählung. Die Menschen sind seither unterwegs, auf der Flucht, auf der Suche nach Unterschlupf, Nahrung und Hilfe. Es ist unklar, was genau zu dieser Situation geführt hat, es ist nur sicher, dass unter den gegebenen Umständen nicht mehr viele der alten Lebensgewohnheiten aufrechtzuerhalten sind: Die Wege durch ein graues, namenloses Land werden zu Fuß und ohne Gepäck zurückgelegt, Frauen und Kinder versuchen, notdürftig füreinander zu sorgen, aber Trinkwasser und Lebensmittel sind kaum noch vorhanden. Und wo immer andere Menschen anzutreffen sind, herrscht das Recht des Stärkeren, die letzte existierende Ordnung. Die Macht hat der, der sie sich anmaßt.

Es ist den Figuren, die durch den Film „Wolfzeit“ irren, anzusehen, dass sie von der Nähe ihres Endes wissen, denn die Ruhe, die sie alle haben, scheint auf einen Schock, ein Trauma hinzuweisen und auf die Abwesenheit jeder Hoffnung: Gespenster sind sie alle, lebende Tote auf ihren letzten Wegen durch eine Zone, die das Irdische schon mit dem Infernalischen verbindet und das Diesseits mit der nächsten Welt.

Lücken schlagen. Das ist die Situation, die „Wolfzeit“ akribisch beschreibt: Lebenszeichen kurz vor dem Tod, Bewegungen zum Stillstand hin. Michael Haneke ist ein Regisseur, der lieber schwer Erträgliches fokussiert als leicht Verdauliches – und einer, der es mag, Lücken zu schlagen ins Gefüge der Geschichten, mit denen er sein Publikum konfrontiert. Er gibt den Grundbedürfnissen seiner Zuschauer ungern nach, das macht seine Filme, je nach Blickwinkel, zu quälenden Erfahrungen oder zu intellektuellen Herausforderungen: Das Kino, wie Haneke es sieht, ist keine Wunscherfüllungsanstalt, sondern ein Härtetest.

Dass einer wie Haneke, der unbeirrt – und nie ganz ohne pädagogische Untertöne – daran festhält, die Unterhaltungslust seiner Konsumenten zu enttäuschen, dass ein „anmaßender“ Künstler wie dieser nicht nur auf Gegenliebe stößt, ist selbstverständlich. Haneke polarisiert, das weiß und schätzt der Filmemacher selbst, denn bisweilen ist die vehemente Ablehnung, die ihm mancherorts entgegenschlägt, natürlich auch Beweis des Gelingens seines Lebensprojekts. Die Klage über die Unverträglichkeit seiner Kunst kommt dem, der nichts mehr ablehnt als künstlerische Verträglichkeit, in jedem Sinn entgegen.

Zu dunkel? Als aber „Wolfzeit“ im vergangenen Mai im Rahmen der Filmfestspiele in Cannes seine Weltpremiere erlebte, klafften die Meinungen auch der seriösen Kritiker deutlicher noch als üblich auseinander. Das ist umso merkwürdiger, als gerade „Wolfzeit“ sich mehr als jede andere Kinoarbeit Hanekes vordergründiger, schneller Schockmomente enthält. Vor allem das deutsche Feuilleton trat dennoch fast geschlossen gegen den Film auf: „Wolfzeit“, stand da zu lesen, führe einen Haneke vor, der nicht in Form sei, nicht auf der Höhe seines Talents, der Film sei langatmig, was er zu sagen habe, sei banal, und überhaupt könne man vieles darin ja gar nicht richtig erkennen, weil seine Bilder schlicht zu dunkel seien.

Ganz falsch waren diese Einwürfe nicht, nur suggerierten sie, dass die beanstandete Form des Films ungeplant oder ungewollt zustande gekommen sei; dabei handelt „Wolfzeit“ sehr bewusst, sehr kalkuliert von ebendiesen Dingen und Stimmungen. Das ist alles, worum sich der Film dreht: der nahende Stillstand, die „Trivialität“ des Untergangs, das Ende des großen Dramas und der Entzug des Lichts. Man kann das nun zu wenig nennen oder auch genug, langweilig oder mutig – mit der künstlerischen Qualität dieser Arbeit haben persönliche Reaktionen wenig zu tun. So kommt man Hanekes Inszenierungen nicht bei: Sie als öde oder zu wenig zugänglich zu brandmarken zielt an ihrem Kern und an der Rolle, die sie spielen wollen, weit vorbei.

Dabei ist es nicht so, dass an Hanekes Filmen nichts zu beanstanden wäre: Man kann mit einigem Recht etwa ihr Übermaß an Kalkül kritisieren, ihre oft fast versteinerte Form oder auch die Ambition des Filmemachers, sich praktisch ausschließlich mit den großen, den weltbewegenden und letzten Dingen auseinander zu setzen.

Aber „Wolfzeit“ geht in gewisser Weise weiter als alle bisherigen Filme Hanekes. Diesmal treibt der Filmemacher die Prinzipien der Leere und der filigranen Erzählung voran, denkt sie, wenn nicht zu Ende, so doch erstaunlich weit: Man könnte von einer Art radikaler Stille sprechen, auf die Hanekes Arbeit gegenwärtig zusteuert. (Der Beginn des Films bietet allerdings eine zusätzliche Irritation, ein Haneke-Déjà-vu, das jedenfalls zunächst auf eine falsche Fährte führt: „Wolfzeit“ eröffnet mit einer Szene, die den Meta-Thriller „Funny Games“ zu zitieren scheint, beginnt mit dem gewaltsamen, plötzlichen Tod eines Unschuldigen.)

Seit Michael Hanekes Kinodebüt „Der siebente Kontinent“ (1989) bestehen seine Filme nur noch aus Splittern, aus Fragmenten von Geschichten, gehen von einem Drama im landläufigen Sinn nicht mehr aus: Es geht in Hanekes Kino immer weniger um „Geschichten“, um echte Plots und Handlungswendungen, vielmehr um die möglichst detaillierte, möglichst plastische Etablierung von Situationen, die die Basis jener Geschichten sein könnten, die der Filmemacher hier eliminiert.

In diesem Sinn betreibt Haneke Grundlagenforschung: Ihn interessiert, wie sich die Menschen im Extremfall verhalten, wie sie einander begegnen, was sie, wenn man sie aus der Fassung bringt, einander und sich selbst anzutun bereit sind. Wie der Extremfall, der sie so weit gebracht hat, tatsächlich aussieht, enthält Haneke seinen Zuschauern vor. So nimmt er, auch wenn man das als unangenehm empfinden mag, dem Grauen seine Attraktion. Der marktübliche Katastrophenfilm geht den umgekehrten Weg: Indem er das Desaster als Unterhaltung verkleidet, zwingt er dazu, sich mit den sozialen Fragen, denen Hanekes Werk so sehr gilt, bestenfalls nebenbei zu befassen.

Verfall. Haneke zeigt, so ungeschminkt wie möglich, wie es aussehen könnte, wenn man den Menschen jene vage Sicherheit entzöge, die sie als gegeben angenommen haben: Ob „Wolfzeit“ ein Endspiel ist, lässt Haneke dahingestellt; er wendet nur ein, dass die Zeit, die er zeige, ebenso gut „ein Zwischenspiel“ sein könne. Jedenfalls ist „Wolfzeit“ ein Film über den Verfall, studiert eine zerfallende Gesellschaft – und wie sich in ihr neue Regeln, Allianzen und Hierarchien bilden.

Seit Jahren arbeitet Haneke vornehmlich in Frankreich, wo er als zwar kompromissloser Filmemacher, aber auch als Regiestar gilt – und somit Zugriff auf die Stars des französischen Kinos hat. Isabelle Huppert, vor drei Jahren noch Hanekes „Klavierspielerin“, dominiert als flüchtige Mutter auch „Wolfzeit“, allerdings hat sie sich – genau wie die namhaften Nebendarsteller Béatrice Dalle, Patrice Chéreau und Olivier Gourmet – Hanekes Vision unterzuordnen, die schauspielerische Virtuosität hier nicht vorsieht. Die weite, desolate Landschaft, in Nebel und Nacht versinkend, ist der Star dieses Films. Wer das Land durchquert, kann darin nicht mehr zur Geltung kommen; die Menschen haben seine matten Farben angenommen, unterwegs in ihr Verschwinden.

Gegen Ende hin avanciert „Wolfzeit“, ganz gegen die vertrauten Haneke-Stimmungen, zu einem fast warmherzigen Film, der sich in reine Bewegung auflöst, in vorwärts drängende Bilder, die den Untergang, alles Grauen hinter sich lassen. Etwas wird bleiben.

„Wolfzeit“ läuft ab 23. Jänner im Kino.