Kino: Jenseits von Dogville

Kino in Europa: Jenseits von Dogville

Wohin entwickelt sich der europäische Film?

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Die Freude hielt sich am Abend des 23. Mai 2004 in Grenzen. Mit der Einsicht, dass der europäische Autorenfilm gegenwärtig nicht seine beste Zeit habe, kann man sich in Frankreich noch weniger anfreunden als anderswo. Im Land der kostbar gehegten Filmkultur geht man bekanntlich seit Jahrzehnten völlig selbstverständlich davon aus, dass das französische Kino erstens die Speerspitze des europäischen Films ist und zweitens sowieso das beste der Welt. Immerhin produziert Frankreich rund 200 abendfüllende Kinoarbeiten im Jahr, mehr als die Hälfte davon mit ausländischen Partnern. Bei den vor wenigen Tagen zu Ende gegangenen Filmfestspielen in Cannes war vom derzeitigen Produktionshoch dennoch wenig zu spüren: Am Abend der Preisvergabe stand Europas Kino dann nicht einmal mehr andeutungsweise im Zentrum. Fast alle wesentlichen Auszeichnungen gingen an Amerika und Asien, einige wenige europäische Beiträge wurden mit Nebenpreisen abgespeist.

Der Filmlandschaft der Europäischen Union geht es, so viel steht fest, nicht gut – in künstlerischer wie in finanzieller Hinsicht. 2003 wurden in den nunmehr 25 Mitgliedsländern der EU um fast fünf Prozent weniger Kinokarten verkauft als 2002; in Deutschland verbuchte man gar ein Minus von 9,1 Prozent, und auch in Österreich gingen die Kinobesuche 2003 um fast acht Prozent zurück. Die Märkte schrumpfen (nur jener des US-Kinos wächst in nahezu allen EU-Ländern weiterhin), während die Produktionskosten unaufhaltsam steigen. Ein weiteres beunruhigendes Detail: Lokale europäische Filmerfolge finden kaum je Anklang außerhalb des Landes, in dem sie produziert wurden.

Durchaus besorgniserregend. Der Ernst der Lage ist mit freiem Auge allerdings kaum festzustellen: Die Spitzenkräfte des europäischen Kinos – von Almodóvar und Angelopoulos bis Zanussi und Zonca – verstellen mit ihren Welterfolgsprodukten nicht selten den Blick auf die durchaus besorgniserregende Marktsituation ihrer Branche. Die Meinungen darüber, wohin sich Europas erweiterte Filmindustrie entwickeln wird, sind geteilt. Während die einen mit deutlichen Kostensteigerungen rechnen und in einer immer komplizierteren Koproduktionslandschaft Identitätsverluste der nationalen Kinematografien befürchten, sehen die anderen keine gravierenden Veränderungen kommen: Die künstlerische Verantwortung, sagen sie, liege letztlich stets beim Filmemacher selbst. Das Kino Europas werde immer nur so gut sein wie die Ideen derer, die es herstellen.

An Ideen mangelt es einstweilen keineswegs; der neue europäische Film verfügt offensichtlich über einiges Potenzial, um sich längerfristig sowohl Prestige als auch Profit zu sichern: Wolfgang Beckers Mauerfallkomödie „Good Bye, Lenin!“ kam auf über zehn Millionen Besucher in ganz Europa, Lars von Triers „Dogville“ wurde international ebenso heftig diskutiert wie jede neue Arbeit etwa von Pedro Almodóvar oder Michael Haneke. Aber unterhalb der dünnen Schicht solcher weithin sichtbarer EU-Kinoerfolge gähnt ein Abgrund. Die Konstruktion eines echten europäischen Gegengewichts zur amerikanischen Kinohegemonie ist nach wie vor ein ferner Traum.

Unter den neuen Beitrittsländern finden sich indes nicht nur Kino-unerfahrene Nationen wie Zypern, Malta, Litauen und Estland, die jährlich zwischen null und drei Filme produzieren: Polen und Tschechien beispielsweise verfügen über eine starke cineastische Tradition, über berühmte Filmschulen und Studios – ein gutes Geschäft ist das Kino aber auch in diesen Regionen nicht: In den Lichtspielhäusern der zehn neuen Länder der Europäischen Union hat man 2002 nur vier Prozent des Kinokassenertrags der 15 anderen EU-Mitglieder geschafft. Noch geringer fällt der Einfluss der in Zentral- und Osteuropa produzierten Filme aus: Die wenigen Arbeiten, die es zwischen 1996 und 2002 zu einem Verleih in der EU brachten, kamen auf einen Marktanteil von sagenhaften 0,005 Prozent. Als künftige Koproduktionspartner sind die neuen Länder jedenfalls ein Problem: Sie sind schlicht zu arm – und dadurch kaum in der Lage, selbst in Filmprojekte zu investieren.

Wege, dieser (absehbaren) Krise zu begegnen, soll das bereits etablierte Media-Programm der EU, das Entwicklung und Vertrieb europäischer Filme unterstützt, sowie der Eurimage-Fonds des Europarats, der Koproduktionen und Verleih fördert, bieten. Aber auch diese Institutionen werden mit den Fakten leben müssen: Die Studiokosten (etwa im viel gebuchten, bestens ausgestatteten Prag) werden mit der Einführung des Euro unausweichlich steigen – und ausländische Filmfirmen wohl lieber in weiterhin billige Regionen wie Bulgarien und Rumänien weiterziehen.

Gute neue Europäer. Die zehn neuen Länder, so vermutet der belgische Filmfinanzierungsexperte Jan Vandierendonck, werden außerdem „beweisen wollen, dass sie gute Europäer sind, und es darauf anlegen, so viele Koproduktionen wie möglich an Land zu ziehen“. Dies könnte aber, befürchtet nicht nur Vandierendonck, dazu führen, dass die lokale, eigentlich wertvolle Filmproduktion zum Erliegen komme.

EU-Kulturkommissarin Viviane Reding, eine filmpolitische Weltreisende, glänzt inzwischen vor allem mit leeren Formeln: Sie sei, so predigt Reding bei allen öffentlichen Auftritten, für „Diversität“ („ein offenes Konzept für ein offenes Europa“) und natürlich „Wettbewerb“. Zudem bekenne sie sich aber auch zur staatlichen Filmförderung sowie zur Intensivierung neuer PR-Strategien, die zur weiteren Verbreitung des europäischen Kinos beitragen sollen.

Auch im Rahmen des Filmfestivals in Cannes wurde Reding aktiv: Ein groß angelegter „Europe Day“ sollte für produktives Brainstorming unter Filmexperten sorgen. Die Ergebnisse waren eher dürftig: Am Ende ergab sich wenig mehr als die Versicherung, dass man in den Filmnachwuchs investieren und die Kinoschulen besser vernetzen wolle – und dringend den Typus des „europäischen Filmemachers“ suche. Eher desillusioniert angesichts solcher Resultate zeigte sich auch der Filmemacher Michael Haneke, den man – neben renommierten Kollegen – aus diesem Anlass extra eingeflogen hatte (siehe auch nebenstehendes Haneke-Interview). Der „Europäische Tag“ schien insgesamt vor allem der schnellen Harmonie, nicht so sehr der intensiven gedanklichen Auseinandersetzung vorbehalten zu sein: Alles sei „sehr konsensual“ abgelaufen, gab etwa Maltas Kultur- und Tourismusminister Francis Zammit Dimech zufrieden zu Protokoll.

Über Leben und Tod. In Tschechien und Ungarn wurde die staatliche Filmförderung – ein Thema, das über Leben und Tod des seriösen europäischen Kinos entscheiden wird – erst unlängst wieder hart erkämpft und immerhin vorläufig gesichert. Die Filmförderung steht in Brüssel schon länger zur Debatte, denn sie wird, wenn sie – wie absolut üblich – mehr als 50 Prozent eines Produktionsbudgets ausmacht, von manchen Hardlinern weiterhin als prinzipiell wettbewerbsverzerrend betrachtet.

Als kaum weniger problematisch könnte sich die dieser Tage wieder ernsthaft angedachte Idee der Europäischen Kommission erweisen, nur „kulturell bedeutende“ Film zu schützen: Dies werde, befürchten Branchenpessimisten, zu einer neuerlichen – und vielleicht endgültigen – Spaltung des europäischen Kinos in „Kunstfilme“ und „kommerzielles“ Kino führen. Wie sehr solche künstlichen Trennungen aber in die Irre führen, beweist nicht nur der Welterfolg von „Good Bye, Lenin!“, der weder dem strengen Autorenfilm noch dem klassischen Mainstream zugerechnet werden kann. Die Grenzen zwischen ernster und unterhaltender Kultur liegen weiterhin, glücklicherweise, im Auge des Betrachters.