Kino: Last Days - Gift in heilsamen Dosen

Kino: Gift in heilsamen Dosen

Gus Van Sants Film ist inspiriert von Kurt Cobain

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Dass die Guten jung sterben, ist ein hartnäckiges Rock ’n’ Roll-Klischee. Es hält sich, weil immer wieder Gute jung sterben. Der Schauspieler River Phoenix starb am 31. Oktober 1993 vor einem Nachtclub in Los Angeles an einer Überdosis Drogen. Er war 23 Jahre alt. Für den Regisseur Gus Van Sant war dieser Moment von prägender Bedeutung: „Man möchte die Uhr zurückdrehen“, erzählte er später in einem Interview, „und man kann nicht.“ Der Rockstar Kurt Cobain, Sänger und Gitarrist der Band Nirvana, starb am 5. April 1994 an Schusswunden, die er sich selbst zugefügt hatte. Er hatte außerdem eine tödliche Menge Drogen im Blut. In einem Abschiedsbrief zitierte er Neil Young: „It’s better to burn out than to fade away.“ Wieder war eine Uhr stehen geblieben, die niemand zurückzudrehen vermochte.

Die Trauer über diese Verluste hat viele popkulturelle Formen angenommen. Gus Van Sant hat in den vergangenen Jahren für das Kino eine Form der Trauerarbeit entwickelt, die er mit einem passenden Wort als „Meditationen“ bezeichnet. Sein jüngster Film „Last Days“ ist „inspiriert“ von den letzten Tagen Kurt Cobains, besteht aber auf Fiktionalität. Der junge Mann, der zu Beginn durch den Wald irrt, in einem kalten Fluss badet, am Lagerfeuer übernachtet und schließlich bei einem geräumigen, alten Haus ankommt, heißt Blake. Er sieht Kurt Cobain ähnlich, schon der blonden Haare wegen. Aber es geht in „Last Days“ nicht um die Wahrheit über den Tod des Grunge-Idols (dazu gibt es die Berichte der Polizei und die Verschwörungstheorien der Fans – siehe Kasten Seite 116), sondern um eine Wahrheit im Inneren der Rock ’n’ Roll-Klischees. Gus Van Sant hat den Kern der Geschichte so formuliert: „In meinen Augen geht es um einen, der nach Hause zurückkehrt, weil er einen Ort sucht, an dem er allein sein kann. Aber dort, wohin er zurückkehrt, sind andere Menschen. Es wird nichts mit dem Alleinsein. Er bemüht sich, Menschen aus dem Weg zu gehen, aber es gelingt ihm nicht, allein zu sein. Allerdings gehört das Haus ihm, er lässt sich also nicht wirklich auf ein Abenteuer ein. Er kehrt einfach nur nach Hause zurück.“

Absolute Freiheit. Michael Pitt spielt diesen jungen Mann mit einem paranoiden Gehör. Das Glockenspiel einer Uhr, die Gebete der Menschen in einer fernen Kirche, ein R&B-Video im Fernsehen – alles überlagert sein eigenes Gemurmel, in dem kaum einmal ein sinnvolles Wort zu vernehmen ist. Blake ist nicht allein in dem kalten Haus. Aber seine Freunde nehmen kaum Notiz von ihm, während er sich ein schwarzes Frauenkleid anzieht, durch die Räume streift und gelegentlich mit der Flinte spielt, die er später auf sich selbst richten wird. Eine bestürzende Melancholie liegt über diesen Szenen abgebrochener Kommunikation. Blake erscheint unerreichbar, als wäre er schon in einer anderen Welt.

Ein Drehbuch im herkömmlichen Sinn lag nicht vor, als „Last Days“ in den herbstlichen Wäldern um Garrison im Bundesstaat New York gedreht wurde. Stattdessen konnten die Schauspieler ihre Ideen einbringen. Ein Vertreter, der Anzeigen für die Gelben Seiten verkaufte, bekam kurzerhand eine Szene. Zwei Mormonen durften ihre religiöse Botschaft darlegen, ohne dabei lächerlich zu wirken. Die Darsteller, die von der „absoluten Freiheit“ sprachen, die bei Dreharbeiten mit Gus Van Sant herrscht, schwärmten hinterher von der „Reinheit“ der künstlerischen Erfahrung.

Tatsächlich erzielt Gus Van Sant in seinen jüngsten drei Filmen, die jeweils von Jugendkultur und Tod handelten, immer wieder wie beiläufig Momente größter Luzidität. In „Gerry“ (2002) verloren zwei junge Männer in den Salzwüsten von Nevada die Orientierung, am Ende fand nur einer in die Zivilisation zurück. In „Elephant“ (2003) versuchte Van Sant, das Schulmassaker, das sich 1999 in Littleton, Colorado, ereignet hatte, aus der Perspektive von Opfern wie Tätern nachzuempfinden. Schon damals entwickelte er eine eigenartige Mischform, die zugleich historisch korrekt und poetisch frei erschien. „Es ist alles zugleich“, erklärte Gus Van Sant in einem Interview, das der deutsch-französische Kultursender arte in Cannes mit ihm führte. „Meiner Ansicht nach ist es ein Bericht, aber er wird in Form eines Art-Doku-Dramas vorgebracht.“ Die amerikanische Kritikerin Amy Taubin bezeichnete die Filme von Gus Van Sant als „homöopathisch“ – sie verabreichten ein Gift in heilsamer Dosis. Man könnte auch sagen: Sie erzählen auf friedliche Weise von Gewalt.

Zu dem Drama von Kurt Cobain hatte Gus Van Sant durchaus auch persönliche Bezüge. Er lebte selbst in Portland, Oregon, als der Hype um Grunge und die Westküstenszene in der amerikanischen Rockmusik ausbrach. Während die Bands aus Seattle die Clubs verließen und die Arenen der Welt zu füllen begannen, machte Van Sant mit Independent-Filmen auf sich aufmerksam. „Mala Noche“ (1985) kostete 20.000 Dollar, die er aus seinen eigenen Ersparnissen aufbrachte. Deutlich von Jean Genet beeinflusst, erzählte er von einem schwulen Außenseiter, der einen mexikanischen Illegalen verehrt. Vier Jahre später kam „Drugstore Cowboys“ heraus, eine provokante Drogenballade mit Matt Dillon, die der Dichter William Burroughs durch einen Gastauftritt adelte. Vor diesem Hintergrund konnte er 1991 seinen ehrgeizigsten Film realisieren: „My Own Private Idaho“ ist halb Roadmovie, halb Traumgespinst, und wieder hält homosexuelles Begehren den Film zusammen. Die beiden Hauptdarsteller Keanu Reeves und River Phoenix standen zu diesem Zeitpunkt bereits mit einem Bein im Mainstreamkino. Umso mehr erregte dieser für amerikanische Verhältnisse geradezu avantgardistische Film die Gemüter.

Arthouse-Welterfolg. „My Own Private Idaho“ war ein Arthouse-Welterfolg, und Gus Van Sant, das homosexuelle Multitalent aus Louisville, Kentucky, konnte sich danach die Projekte aussuchen. Der selbstzerstörerische Appeal seiner Figuren hatte dabei durchaus eine Parallele im Leben der Boheme von Seattle. Kurt Cobain und River Phoenix, Keanu Reeves und Matt Dillon (den Star aus „Drugstore Cowboys“) verband eine ähnliche Sensibilität. Erst in Matt Damon fand Van Sant in den späten neunziger Jahren noch einmal einen jungen Schauspieler, über den er eine ähnliche Patronage übernahm. „Good Will Hunting“ (1997) war ein Rührstück über einen Hochbegabten, das Van Sant in ähnlicher Form in „Finding Forrester“ (2000; unter anderem mit Sean Connery) wiederholte. Zweimal arbeitete er dabei für ein großes Hollywood-Studio (als „Leiharbeiter“, wie er sagte), der kommerzielle Erfolg konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Visionen seiner frühen Filme darin nur mehr als dünne Spuren erkennbar waren. Das irritierende Bild-für-Bild-in-Farbe-Remake von Alfred Hitchcocks „Psycho“ trug 1998 weiter zum allgemeinen Unverständnis bei, und bald sah es stark danach aus, als wäre Gus Van Sant von seinem Weg abgekommen, als hätte er die Orthodoxie des unabhängigen Films dem Kitsch geopfert und seine eigene Kreativität in das Korsett abstrakter Ideen oder schlicht der Regeln des Mainstream-Kinos gepresst.

Grenzerfahrungen. Die erste Einstellung von „Gerry“ wirkt in diesem Zusammenhang fast wie ein Befreiungsschlag: Minutenlang fahren zwei junge Männer auf einer Straße durch den amerikanischen Südwesten, begleitet nur von einem Musikstück von Arvo Pärt. Beide Figuren heißen Gerry (gespielt von Casey Affleck und Matt Damon), sie wirken nicht wie Zwillinge, sondern wie Facetten eines gemeinsamen Charakters. Während sie durch die Wüste irren, vertreiben sie sich die Zeit noch mit kindischen Späßen. Erst allmählich begreifen sie den Ernst ihrer Situation.

„Gerry“ ist ein Irrlicht in der Filmografie von Gus Van Sant. Er greift viele Motive auf, die den Regisseur immer schon beschäftigt haben (latente Zuneigung zwischen Männern, außergewöhnliche Bewusstseinszustände und Grenzerfahrungen, nomadisches Existieren), und arbeitet sie vor einem vollständig reduzierten Hintergrund noch einmal durch. Alles, was in den frühen Filmen noch Motiv war, ist in „Gerry“ ein Rätsel. Diese Methode beruht auf improvisierten Dreharbeiten und ist auch eine Konsequenz aus den dramaturgischen Anforderungen eines konventionellen Hollywood-Films, denen Van Sant nicht mehr genügen will.

Es ist kein Zufall, dass das experimentierfreudige Pay-TV-Unternehmen HBO ihm bei „Elephant“ und „Last Days“ eine neue künstlerische Heimat geboten hat. Van Sant ist nun wieder dort, wo er in den achtziger Jahren war. Er dreht mit geringem Budget, aber es sind nicht mehr die eigenen Ersparnisse, die er investiert. „Elephant“ sorgte für Kontroversen, weil der Schulbetrieb darin wie ein Uhrwerk des Zufalls erscheinen mag, das mit seiner unabwendbaren Abfolge von gelenkten Bewegungen zur Folge hat, dass bestimmte Jungen und Mädchen zu einer bestimmten Zeit an dem Ort sind, an dem sie von einem tödlichen Schuss getroffen werden. Diese Absurdität, die jedem Massaker innewohnt, schien Van Sant allzu planvoll ins Werk zu setzen.

Rock ’n’ Roll-Klischee. Gerade darin jedoch liegt die Qualität seiner neueren Filme. Sie schaffen Raum für das Tragische, aber sie versuchen nicht, es abzuschaffen. In „Last Days“ gibt es eine Szene, in der eine Frau von einer Schallplattenfirma kommt, um Blake wieder in Gewahrsam zu nehmen. Sie redet wenig engagiert auf ihn ein und lässt ihn dann mit einem resignierten Satz allein: „Dann bleib eben in deinem Rock ’n’ Roll-Klischee.“ Gus Van Sant ist inzwischen an einem Punkt in seiner Karriere, wo er selbst Klischees in ihr Gegenteil verkehren kann. Statt den Tod von Kurt Cobain zu zeigen (den Schuss, das Blut, das Röcheln – was immer sich die Fans davon ausmalen wollen), zeigt er nur den toten Blake, dem wie ein Schatten ein nackter Blake entsteigt. „Es ist ein poetisches Bild, das uns sagt, dass er geht – nicht mehr“, sagte Van Sant in einem Interview. Er weist jede religiöse Referenz zurück. Stattdessen verweist er darauf, dass sein Film auch eine Reaktion auf die exzessive Berichterstattung der Medien ist: „Bei meinem einzigen Treffen mit Kurt Cobain und Courtney Love las Courtney aus einem Zeitschriftenartikel über andere Bands in Seattle vor. Sie las vor, was andere Bands über seine Band sagten, und machte auch noch einen sehr witzigen Dialog daraus. Ich verstand aber nicht, worum es eigentlich ging, weil es so spezifisch war: irgendwelche Bands, die sich in Hotel-Lobbys über andere Bands ausließen. Die ganze Geschichte – sogar mein Treffen mit ihnen – hatte also viel mit Medien zu tun.“

In seinem Film dagegen ist Cobains Beziehung zu Courtney Love die Leerstelle, die Van Sant durch Cross-Dressing und die androgyne Aura von Blake gewissermaßen ersetzt. An die Stelle der Medienfigur Kurt Cobain tritt eine Figur, die selbst wie ein Medium wirkt, verbunden mit einer Welt, aus der nur ein Murmeln zu hören ist. „Last Days“ ist ein völlig innerweltlicher Film, der aber die Transzendenzhoffnungen der Popkultur nicht verrät.

Von Bert Rebhandl