US-Kino: Schock und Entertainment

Kino: Schock und Entertainment

„Departed“: Scorceses Tribut ans Hongkong-Kino

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Im kommerziellen amerikanischen Kino sind individuelle Signale ungern gesehen; sie gelten als Irritationen, die sich den Regeln der Gewinnmaximierung widersetzen, weil sie ihr Publikum, dessen Unterhaltungsansprüche unteilbar sind, zu spalten drohen. Davon geht man in Hollywood aus. In den Filmen des New Yorker Regisseurs Martin Scorsese ist dieses Anonymitätsgebot seit Jahrzehnten außer Kraft gesetzt. Seine Arbeiten sind persönlich gemeint, sogar und gerade dort, wo Persönliches undenkbar scheint. „Departed: Unter Feinden“ heißt Scorseses neuer Film, ein mit teurer Kinoprominenz (Jack Nicholson, Leonardo DiCaprio, Matt Damon) besetztes Remake eines hochpolierten Triadenthrillers aus Hongkong. Scorseses irisch-amerikanisches Mafia-Drama (österreichischer Kinostart: 8. Dezember) ist auf den ersten Blick alles andere als ein Autorenfilm: ein hochverdichtetes Genre-Planspiel, eine Cop- und Gangster-Doppelgängergeschichte als komplexe interkulturelle Liaison west-östlicher Suspense-Techniken.

Und doch ist auch „Departed“ nur mit Blick auf das Gesamtwerk Scorseses wirklich zu verstehen. Nahezu jede Szene des Films, der sich mit einiger Werktreue zwar dem Original verbunden sieht, das unter dem Titel „Infernal Affairs“ vor vier Jahren weltweit Aufsehen erregte, verweist auch auf Scorseses eigene Zwangsvorstellungen: „Departed“ setzt erneut auf die Faszination einer ritualistischen kriminellen Subkultur, die der Regisseur als Kind in New Yorks Little Italy selbst erlebt und später als Vorlage für Gangster-Fresken wie „Mean Streets“ (1975), „GoodFellas“ (1990) und „Casino“ (1995) benutzt hat. Man ist versucht, sogar den Geschwindigkeitsrausch, in den sich seine Paranoia-Spektakel meist verlässlich steigern, noch persönlich zu deuten, als künstlerische Korrektur eigener physischer Fehlfunktionen: Außer Atem gerät, bei aller Raserei, im artistischen Kino des Asthmatikers Martin Scorsese nichts und niemand.

Die geradezu fanatische Zuneigung, die Scorsese dem Kino entgegenbringt, ist unmittelbar zu spüren, wenn man dem Regisseur gegenübersitzt. Schon sein Sprechtempo erinnert ganz direkt an die hochbeschleunigenden, harten Montagen seiner Filme. Scorsese betrachtet die Welt, indem er durch das Kino auf sie blickt: Er sieht sie klarer durch die Augen jener, die so viel von ihr begriffen haben, durch den Blick Vincente Minnellis, William Wylers und Roberto Rossellinis. In dem filmverrückten Visionär Howard Hughes hat sich Scorsese, mit dem Millionärsdrama „Aviator“, vor zwei Jahren unmissverständlich auch selbst porträtiert. Die radikalen Träumer, von denen Scorsese so gern erzählt, sind ihm geistesverwandt, auch wenn sie dem Wahnsinn und der Selbstzerstörung meist gefährlich nah sind: Der Amok laufende Vietnamveteran Travis Bickle in „Taxi Driver“ (1976) und der ins Bodenlose stürzende Starboxer Jake La Motta in „Raging Bull / Wie ein wilder Stier“ (1980) sind Alter Egos ihres Regisseurs, heimliche Angstbilder eines sich im Kino planvoll Verbarrikadierenden: Scorseses Antihelden reüssieren in ihren Fantastereien und scheitern am Leben. Auch deshalb ist das Kino der perfekte und vermutlich einzige Ort, an dem Martin Scorsese, ein Getriebener, existieren kann.

Die Obsession mit der Geschichte des Kinos geht bei ihm weit; sogar während der Arbeit am Filmschnitt, den er stets gemeinsam mit seiner kongenialen Cutterin Thelma Schoonmaker erledigt, bombardiert sich Scorsese unaufhörlich mit den Filmbildern anderer. Auf zwei Monitoren zugleich spielt er sich im Schneideraum nebenbei leise Szenen aus Arbeiten Luchino Viscontis, John Fords oder Edgar Ulmers zu, weil er deren Puls und deren Atem spüren will: Das Kino ist Scorseses natürlicher Lebensraum.

Neben seiner Filmarbeit tritt Scorsese, der übrigens seit ein paar Jahren Präsident des Österreichischen Filmmuseums ist, auch als Kinovermittler und Konservierungsspezialist auf: In zwei vierstündigen Dokumentarfilmen hat er seine persönliche Sicht auf amerikanische und italienische Filmgeschichte festgehalten; er agitiert gegen die unlautere Einfärbung schwarz-weißer Filmklassiker und beteiligt sich aktiv an der Sicherung und Restaurierung gefährdeter Kinokunstwerke. Zudem produziert er seit Langem auch die Filme junger Kollegen, unter anderem Arbeiten von Stephen Frears („The Grifters“, 1990), John McNaughton („Mad Dog and Glory“, 1993) und Kenneth Lonergan („You Can Count on Me“, 2000).

Scorseses Lieblingsfilme illustrieren das Arbeitsfeld dieses Regisseurs, stecken dessen ästhetischen Rahmen ab: von den tänzerischen Zauberbildern in Powells und Pressburgers Kinomärchen „Die roten Schuhe“ (1948) und der kunstvoll fragmentierten Epik in Orson Welles’ „Citizen Kane“ (1941) über die kritische Amerikabefragung in John Fords Western „The Searchers“ (1956) zu den selbstgrüblerischen italienischen Klassikern „8 1/2“ (Federico Fellini, 1963) und „Der Leopard“ (Luchino Visconti, 1963). Die filmische Hochkultur zwischen 1940 und 1965 wird in Scorseses Werk gefeiert, das präzise am Ende dieser Spanne selbst einsetzt.

Der Nimbus des „Wunderkinds“ unter Amerikas Filmregisseuren wird Scorsese früh verpasst. Schon sein Debüt, „Who’s That Knocking at My Door“ (1965–1969), eine an den Filmen John Cassavetes’ orientierte Jugendstudie um den jungen Harvey Keitel, erregt Aufsehen in der Branche.

Die vitale Kleinkriminellenstudie „Mean Streets“ bedeutet 1973 den endgültigen Durchbruch des Filmemachers als Hoffnungsträger eines alternativen, stilistisch grenzüberschreitenden amerikanischen Kinos. Während andere Regisseure an solchen Hypes und Erwartungen schnell verglühen, wird Scorsese diesen langfristig gerecht. Den Status der zentralen Regiegestalt eines „guten“ Hollywood hat der inzwischen 64-Jährige nie eingebüßt, auch wenn er längst Filme mit Superstars dreht und nicht selten 100-Millionen-Dollar-Budgets zu verwalten hat. Der Ruf des Filmindustrie-Dissidenten fordert allerdings auch seinen Preis: Selten geraten die Arbeiten Scorseses wirklich profitabel, kaum einer seiner Filme hat an US-Kinokassen mehr als seine Produktionskosten wieder eingespielt, viele davon nicht einmal das. (Eine Änderung ist jedoch in Sicht: „Departed“ hat sich in den vergangenen Wochen zu einem moderaten US-Kinohit entwickelt, zu Scorseses bislang lukrativstem Film.)

„Heute mögen sie mich in Hollywood“, sagte Scorsese vor ein paar Jahren. „Aber sie halten mich an einer kurzen Leine. Ich werde eingeschränkt, von Budgets und Filmstars. Ich muss Menschen filmen, die Kassenstars sind, sonst geht gar nichts. Ich habe fast drei Jahrzehnte Kampf hinter mir. Man kann in diesem Geschäft niemandem trauen.“ In einem profil-Interview vor knapp zwei Jahren präzisierte Scorsese seinen Kampf ums Filmemachen: Die Produktionsquerelen, die er zu erdulden habe, seien „Teil des enormen Drucks, unter dem man steht, wenn man in Hollywood Filme macht“. Der Widerstand der Industrie gegen ihn sei groß, und das sei „die schlimmste Art von Druck“. Der Erfolg seines neuen Films scheint das Blatt gewendet zu haben: Vor wenigen Tagen hat Scorsese einen hochdotierten Vierjahresvertrag mit dem Paramount-Studio abgeschlossen.

Rhythmus, Farbe. Scorseses Formalismus wurde und wird ihm gern zum Vorwurf gemacht. Tatsächlich dreht sich Scorseses Kino stets erst in zweiter Linie um jene Tragikomödien und Dramen, die ihm die Drehbücher vorgeben; in Wahrheit berichtet es vor allem von Sprache und Stil, von Bildkomposition, Rhythmus und Farbe. Deshalb bevorzugt Scorsese seit jeher Stoffe, die große Bilder versprechen, arbeitet sich an Motiven ab, die seiner speziellen Art der Bewegungsmalerei entsprechen: an den Spieltischen und Rouletterädern in den Neonpalästen von Las Vegas in „Casino“; an den Salons und Ballsälen der in ihren Zeremonien gefangenen guten New Yorker Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts in „Zeit der Unschuld“ (1993); an den kriminellen Biotopen und ihren heruntergekommenen Spelunken im New York der siebziger Jahre in „Mean Streets“ (1973) und „GoodFellas“ (1990). Dass sich Scorsese nun auch des streng formalistischen Aktionskinos Hongkongs angenommen hat, dessen zentrale Regisseure, etwa John Woo, schon in den achtziger Jahren gern Scorsese zitiert haben, ist somit nur konsequent.

Strikte Codes, meint Scorsese selbst, der in seiner Jugend ernsthaft damit spekulierte, Priester zu werden, seien ihm von Kindheit an vertraut gewesen. Von den Gangstern seiner Adoleszenz, den wise guys, gamblers und hustlers in den Straßen von Little Italy, berichtet er oft: „Die Gangster waren immer präsent, deshalb habe ich wohl diese Nostalgie für ehrliche, moralische Amoral: Die taten nicht so, als wären sie jemand anderer. Sie sind die Gosse, und so leben sie.“

Die Intensität jenes Paktes, den Scorsese mit seinen männlichen Hauptdarstellern schließt, zielt durchaus auch ins Teuflische: Von Robert De Niro, seinem langjährigen Komplizen und „King of Comedy“, ist er vor ein paar Jahren, wohl auch aus Finanzierungsgründen, zu einem jüngeren Superstar des US-Kinos übergetreten: zu Leonardo DiCaprio, dem Protagonisten in Scorseses „Gangs of New York“ (2002), „Aviator“ (2004) und nun auch in „Departed“. Die Zusammenarbeit soll prolongiert werden – und demnächst in höchste Ämter führen: DiCaprio ist auch als Titelheld in Scorseses geplantem Historienfilm „The Rise of Theodore Roosevelt“ vorgesehen.

Wie niemand sonst im gegenwärtigen Erzählkino beherrscht Martin Scorsese die Sprache Film, so sehr, dass er sie längst wie ein Lyriker für sich verwenden kann: Er biegt und bricht die Regeln, um aus dem Alten neue, persönliche Sinnzusammenhänge herzustellen. Er kommuniziert mit der Filmindustrie, ohne ihr branchenüblich blind zu gehorchen. Scorseses Arbeiten bieten – und seine neue macht da keine Ausnahme – sinnliche Extremzustände, Kompositionen aus gleichgewichtsgestörten Kameras, aus unerwarteten freeze frames und beunruhigenden Überblendungen, aus schwindelerregenden Weitwinkeln und Reißschwenks, aus nervösen, in die Tiefe stürzenden und in den Himmel schießenden Kamerabewegungen. Schock und Entertainment, das ist Scorseses Programm.
Von Stefan Grissemann