Zeit läuft

Filmfestspiele Venedig. Pracht und Grauen des internationalen Autorenfilms

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1 Zeit

Zu den entscheidenden Ereignissen des diesjährigen Filmfestivals in Venedig gehörte eine Arbeit, die in den Kinos am Lido gar nicht zu sehen war. Christian Marclays 24-Stunden-Video "The Clock“, als Teil der diesjährigen Kunst-Biennale im Arsenale installiert (und dort schon vor Wochen mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet), hatte Erkenntnisse zu bieten, zu denen kein Film im Programm der ehrwürdigen Mostra fähig war - und galt daher unter Festivalbesuchern bald als Fluchtpunkt, an dem die Grundfragen des Mediums sinnträchtiger erkundet wurden als im Gros der diesjährigen Festivalfilme.

Sechs Rechercheure haben "The Clock“ in Marclays Auftrag aus Tausenden von Film- und Fernsehschnipseln kompiliert, in denen auf die exakte Tageszeit angespielt wird, die entweder im Dialog genannt oder auf den Zifferblättern der Stand-, Armband- und Kirchturmuhren, auf Weckern, Bahnhofs- oder Sonnenuhren ablesbar wird. Es gelang Marclays Team, Filmszenen für jede einzelne Minute, jede mögliche Tages- und Nachtzeit zu finden. Die Phantome der Kinogeschichte - von den anonymen Darstellern vergessener B-Produktionen bis zu Stars wie Bette Davis, Alain Delon, Colin Firth und Marilyn Monroe - werden zur Statisterie der verrinnenden Zeit.

"The Clock“ ist eine paradoxe Serie von wilden Zeitsprüngen, quer durch die Geschichte des Kinos, bei absolut gewahrter Einheit der Zeit: Die real time des Kunstwerks - seine präzise Dauer, die mit der Zeit seiner Betrachtung exakt übereinstimmt - schlägt gegen die fiktive Zeit des Spielfilms. Dabei hängt Marclay nicht einfach gefundene Filmbilder hintereinander, sondern ordnet sie in einer Montage neu, deren Eleganz verführerisch wie der Fluss der Zeit selbst erscheint. Die Fragen, die Marclay aufwirft, sind komplex: Wie viele Schichten hat die Zeit im Kino? Mit welchen Mitteln wird sie gedehnt und verdichtet? In welchem Verhältnis steht die Laufzeit eines Films zur manipulierten Zeit der Inszenierung? Und welche kollektiven Fantasien sind an welche Tageszeiten gebunden? Kleine Irritationen und bewusst gesetzte "Fehler“ in den Abläufen komplizieren das Spiel noch. "The Clock“ ist ein Novum in der Geschichte des Films: eine Arbeit über Film- und Realzeit, die selbst als Uhr fungiert.

Ein Spiel mit der Zeit veranstaltete, zwar nicht annähernd so erfolgreich wie Marclay, auch der US-Maverick Abel Ferrara: In "4:44 Last Day on Earth“ wartet die Welt seltsam gefasst auf ihr angekündigtes Ende, und Hauptdarsteller Willem Dafoe erledigt in seinem New Yorker Loft letzte Skype-Gespräche. Ferraras apokalyptisches Kammerspiel verfügt über eine sympathisch unaufwändige Inszenierung und einen sarkastischen Grundton, aber die geringe philosophische Substanz dieses Films ist offensichtlich. Die Zeit läuft ab - und sehr konkret auf nichts hinaus.


2 Tanz

An den besten Inszenierungen dieses Jahrgangs konnte man studieren, wie sehr das Kino an choreografischen Fragen hängt. Dazu musste man nicht erst den Dokumentaristen Fred Wiseman und "Crazy Horse“, sein Porträt der Pariser Erotikshow-Institution, konsultieren. Das Tänzerische ist eine Basis der Bewegtbildkunst: Der griechische Wettbewerbsbeitrag "Alpis“ (Regie: Yorgos Lanthimos) demonstrierte den inneren Zusammenhang von avanciertem Kino und stilisierter Figurenchoreografie - anhand der beunruhigenden Geschichte einer Arbeitsgruppe, die sich darauf spezialisiert hat, in fremden Familien den Platz von frisch Verstorbenen einzunehmen, um deren Verlust erträglicher zu machen. Familiäre Rollenspiele rätselhafter Art finden auch in Jessica Krummachers "Totem“, einer der Entdeckungen dieses Filmfests, statt: Ein junges Hausmädchen droht an den alltäglichen Demütigungen und am kleinbürgerlichen Terror, der an seinem Arbeitsplatz herrscht, zu ersticken. Die Depression, die in "Alpis“ ebenso wirkt wie in "Totem“, trägt den Keim des Widerstands dagegen schon in sich. In der Bewegung, die der Tanz verlangt, deutet sich ein Ausbruch an.


3 Raum

Kammerspiele waren in Venedig 2011 allgegenwärtig. Der Rückzug in die Innenräume hängt mit dem Versuch der Konzentration auf die Feinmechanik im Inneren der Menschen, auf ihr Seelenleben zusammen. Die engen Zimmer, auf die sich etwa David Cronenbergs kluges Psychoanalyse-Drama "A Dangerous Method“ und Roman Polanskis trivialere Gesellschaftsgroteske "Carnage“ beschränken, gaben sich als mentale Räume schnell zu erkennen - als revolutionäre Zellen bei Cronenberg, als Gefängnis bei Polanski. Auch der Österreicher Josef Dabernig (siehe Kasten) brachte eine ebenso kurze wie eindringliche Arbeit nach Venedig, die aus der Architektur genuin filmische Wirkung schlug: Der Raum gibt der Zeit im Kino erst ihre Tiefe.


4 Politik

In seinem achten und möglicherweise letzten Jahr als Venedigs Festivaldirektor hat Marco Müller den alten Grundsatz beherzigt, nach dem die politische Auseinandersetzung der ästhetischen zu folgen hat. Arbeiten, in denen Formwille und Sozialkritik gleich stark sind, gelten seit je als Trumpfkarten im Filmfest-Spiel: Schon der Eröffnungsfilm, George Clooneys Wahlkampfdrama "The Ides of March“, machte dem Direktor und seinem Publikum daher viel Freude - denn die explizite Kritik, die hier an der amerikanischen Realpolitik geübt wird, musste in einer Zeit, da Barack Obama merklich an Boden verloren hat, die neue Hoffnung sich wieder in Resignation verwandelt, provokant erscheinen. Das exzellente Schauspiel von Darstellern wie Philip Seymour Hoffman oder Paul Giamatti erhöhte die Faszination von Clooneys offenem Misstrauensantrag noch: Mit "The Ides of March“ erklärt das liberale Hollywood, ohne die Grenzen des Genres zu verletzen, den US-Demokraten in aller Ruhe seinen Unmut.


5 Natur

Naturgewalten sind dem Dramatischen ein guter Partner: Die isländischen Geysire katapultieren in Alexander Sokurovs "Faust“ ihre Wassermassen brutal aus dem Boden, und in Chantal Akermans "La folie Almayer“ wird, frei nach Joseph Conrad, ein Unwetter nach dem anderen im kambodschanischen Dschungel entfesselt. Sokurov und Akerman formulieren dabei keineswegs die Antithese zu den theatralischen Filmentwürfen, den vielen Kammerspielen dieses Festivals: Die Beengungszustände, die sie unter freiem Himmel inszenieren, wirken desto drastischer, je weiter und fremder die Länder erscheinen, in die sie ihre literarischen Dramen verlegt haben. Heinrich Faust und Kaspar Almayer verlieren den Verstand, weil sie die Einsamkeit bewohnen wie eine Einzelzelle. Die äußere Welt passt nicht zu ihrer inneren Emigration, so kommt es zur Eskalation der Gewalt: Die Natur spielt mit - und gibt dem tobenden Unglück der Menschen eine Form.


6 Licht

Man erkennt die skulpturale Wirkung des Lichts im Kino tatsächlich erst im Augenblick seines Entzugs. Andrea Arnolds wuchtige Brontë-Adaption "Wuthering Heights“ verdichtet das alte Kostümfilmspektakel in ihrem ersten Teil auf das äußerst Nötige: auf Menschen, die sich im Dunkel der Nacht oder im undurchdringlichen Nebel bewegen, die im Dreck zu leben haben und ohne Chance sind, ihre Liebe zu realisieren. Zwar wird Arnold den Versprechungen, die diese Inszenierung zunächst macht, mit ihrer Rückwendung ins konventionelle Historiendrama am Ende nicht gerecht, aber der Wille, einer ausgetretenen Filmgattung neue Energie zuzuführen, steht hier für das Werk.


7 Kino

Nackt liegt Monica Bellucci in "Un été brulant“ gleich anfangs auf einem Bett - genau wie einst Brigitte Bardot in Godards "Le mépris“ (1963). Regisseur Philippe Garrel erweist, von der Kritik verkannt, dem großen Alten seine Reverenz. Der cinephile Hinweis gehört zu den Signalen, die Filmemacher mit Bewusstsein von den historischen Kontexten, in denen sie arbeiten, gern aussenden. Die Anspielung auf die Geschichte des Kinos führt in die Tiefe der siebenten Kunst, schafft jenen Resonanzraum, den Künstler wie Garrel brauchen, um die scheinbar alltäglichen romantischen Tragödien, von denen sie erzählen, an die Tradition anzubinden. Mit Retro-Schubkraft operierte im Wettbewerb auch Tomas Alfredson, der seinen formidabel inszenierten Agentenkrimi "Tinker, Tailor, Soldier, Spy“ nach John LeCarré zurückführte in eine Kino-Ära, als es noch keine Mobiltelefone und Notebooks gab, als Spione noch in klassisch-grauen Trenchcoats ihrem deprimierenden Gewerbe nachgingen. Der Traum von einem Kino vor der großen Krise, von einer populären Kunst, die sich nicht nur auf Computermonitoren oder Fernsehschirmen, sondern exklusiv im Dunkel des Kinosaals aktualisierte, schwingt in Alfredsons raffinierter Nostalgieübung mit.


8 Glaube

Filmfestivals sind eigenartige Veranstaltungen. Sie versuchen zu korrigieren, was unabänderlich erscheint, und propagieren ungebrochen eine Kinokunst, die in der wirklichen Welt kaum noch Publikum hat. Während die infantilen Fantasien Hollywoods mit ihrer Hegemonie der Schlümpfe und der Superhelden das Kino längst zum Planeten der Affen gemacht haben, ergeben sich die Visionäre des Arthouse-Kinos ihren spirituellen Träumen - und erinnern sich an die Tage, als das Glauben noch geholfen hat. Ermanno Olmi, Italiens alter Meister, lässt in "Il villaggio di cartone“ seinem Katholizismus freien Lauf, erzählt allzu betulich vom alten Priester, der die Zerstörung seiner Kirche miterleben muss und seine Nächstenliebe aber an einer Gruppe von Migranten unter Beweis stellen kann. Wie sich das Christentum im Alltag abzeichnet, zeigte anschließend der deutsche Dokumentarist Romuald Karmakar: In "Die Herde des Herrn“ analysiert er die kapitalistische Euphorie im bayrischen Geburtsort des amtierenden Papstes und die Unannehmlichkeiten, die eine Massenbewegung wie der Katholizismus den Gläubigen am römischen Petersplatz zumutet.


9 Geschichte

Die Weltabbildungsmaschine Kino erscheint zu schwer, zu wenig beweglich, um auf die Umstürze und Katastrophen in der Menschheitsgeschichte auch nur annähernd aktuell reagieren zu können. Was einem im Kino als "gegenwärtig“ verkauft wird, hat in der Regel mindestens ein Jahr (meist deutlich mehr) an Vorbereitung, Dreharbeiten und Postproduktion hinter sich. Weil Filmfestivals nun aber Schauplätze sind, an denen politische Gegenwärtigkeit sehr gefragt ist, sind dort Werke wie die japanische Gewaltfarce "Himizu“ gern gesehen. Tatsächlich war "Himizu“ ein Glücksfall für die Filmfestspiele am Lido: Im Mai 2011, wenige Wochen nach dem Reaktorunfall in Fukushima, entwarf der japanische Regisseur Sion Sono das Porträt einer in Aggression und Wahnsinn versinkenden Gesellschaft. Sion Sono gehört zu den schnellsten Arbeitern seiner Zunft: Allein in den vergangenen sieben Jahren hat er zwölf Spielfilme gedreht - alle praktisch aus der Hüfte geschossen, als Guerilla-Kino konzipiert. Wie Roberto Rossellinis berühmtes, im zerbombten Nachkriegs-Berlin gedrehtes Trümmermelodram "Germania anno zero“ ("Deutschland im Jahre Null“) spielt auch "Himizu“ - basierend auf einem Manga des Zeichners Minoru Furuya - in einer Welt aus Schrott, Schutt und Asche: in den vom Tsunami vernichteten Landschaften Japans. Fukushima anno zero.


10 Fleisch

Bescheidenheit ist in der Kunst keine nennenswerte Kategorie. Das Kino ist seinem Wesen nach vermessen, es greift lieber nach dem Unerreichbaren als nach dem problemlos Realisierbaren, denn an der eigenen Waghalsigkeit zu scheitern sieht viel besser aus, als mit dem Naheliegenden durchzukommen. Die Auseinandersetzung mit der physischen Wirklichkeit ist schon deshalb ein Hauptfeld des Filmischen, weil es ihm eigentlich nicht entspricht: Die Phantomkunst Kino, das körperlose Spiel mit Licht und Schatten, nimmt sich nichts lieber vor als die Physis der Menschen und der Dinge. Darin liegt das Imaginäre, das fühlbar Fantastische so vieler Filme - gerade auch jener, die sich "realistisch“ geben. An Steve McQueens "Shame“ kann man die Probleme, die in diesem Schillern zwischen dem Immateriellen und dem Körperlichen liegen, gut überprüfen: Das Drama eines sexsüchtigen New Yorkers (immerhin superb dargestellt von Michael Fassbender, der nach seiner Rolle als C. G. Jung in Cronenbergs Film als herausragender Schauspieler des Festivaljahrgangs geehrt werden muss) gleitet an den Hochglanzoberflächen der Designer-Lofts und Büro-Etagen buchstäblich ab. Die Körper verlieren sich im kalten Licht einer anonymen Karriereexistenz, verfallen unter dem Druck der Banalmoral dieser Erzählung: Familie und stabile Liebesbeziehungen sind wichtiger als Geld und schneller Sex. Die Selbstverständlichkeit solcher Botschaften hielten Fassbenders American Psycho klein.

Den wohl größten denkbaren Gegensatz zu McQueen bot Alexander Sokurov - ein Regisseur, der höchste Stilisierung und körperliche Wirklichkeit kühn ineinanderzusetzen weiß: Seine "Faust“-Variation geriet zur großen Oper, zum Zerrbild, in dem Irreales und höchst Konkretes sich leichthin verbinden konnte. "Faust“ bietet eine Reise in jenes filmische Höllenreich, in dem Theater, Zirkus, Literatur und Musik, Dokumentarisches und Fiktives sonderbar koexistieren. Und das Fleisch der Körper bleibt bei Sokurov evident, wie das Gegenmittel zum fortschreitenden Wirklichkeitsverlust des Protagonisten. Hier schließt sich der Kreis: Die Zeit verrinnt, und die Körper verwandeln sich, im Leben wie in der Kunst, sie verfallen und vergehen. Wenn das Licht angeht, ist von ihnen nichts geblieben als die vage Erinnerung an sie.

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Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.