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Kirche: Abschied eines Unbeugsamen

Abschied eines Unbeugsamen

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„Diese Steine sprechen“, sagte der sterbenskranke alte Mann und deutete auf die Basilika. „Sie stellen die entscheidende Frage: Was ist des Menschen Bestimmung?“ Eine Frage, auf die es keine endgültige Antwort gibt, auch nicht für den 83 Jahre alten Papst, der am Dienstag vergangener Woche im süditalienischen Marien-Wallfahrtsort Pompeij die Menge aufforderte, für ihn zu beten, „heute und immer“. Alle Welt kann sehen, was Kardinal Christoph Schönborn vor kurzem aussprach: dass sich Johannes Paul II. „den letzten Tagen und Monaten seines Lebens“ nähere.

Falls es denn so etwas wie eine Bestimmung geben sollte, so war es die des polnischen Offizierssohnes Karol Wojtyla, eine herausragende historische Figur des 20. Jahrhunderts zu werden. Am Donnerstag dieser Woche begeht Johannes Paul II. sein 25-jähriges Dienstjubiläum: Ein Vierteljahrhundert lang hat er die katholische Kirche gelenkt und in den Lauf der Welt eingegriffen, wo immer er konnte. Dafür wird er gefeiert und gehasst – bis zu seinem Ende, denn der Papst setzt auch im allerletzten Stadium der Gebrechlichkeit unermüdlich fort, was er früh als seine Berufung erkannt hat: pilgern, predigen, warnen, appellieren, rügen, beten, segnen.

Es mutet seltsam an, wie Johannes Paul II. als zittriger Greis, unterstützt von Hebe- und Rollvorrichtungen, den Pontifex maximus mimt und dabei immer noch Ehrfurcht einflößt, weil alle in seinen verfallenden Zügen, seinen ermatteten Gesten und seinem nur noch gemurmelten Singsang den vitalen Polen-Papst erkennen, den Überraschungsmann des 16. Oktober 1978, den spontanen „Nennt mich einfach Karol“, den unerbittlichen Kämpfer gegen den Kommunismus. Hat er Applaus verdient für die vergangenen 25 Jahre? War er ein Segen für seine Kirche und für die Welt, ein Freund der Armen und Unterdrückten? Oder war er nur ein katholischer Machtpolitiker mit viel Charisma und reaktionärer Agenda?
Zwei Eigenschaften zeichnen Wojtyla, den man „Lolek“ nennt, schon in jungen Jahren aus: Frömmigkeit und Intellekt. 1932, mit zwölf Jahren, verliert er die Mutter und den Bruder durch Krankheiten, er bleibt allein mit dem Vater, einem Offizier, in der kleinen südpolnischen Stadt Wadowice nahe Krakau. Lolek lernt zu beten und zu dichten. Die Religion ist das tägliche Brot bei Wojtylas, wie bei den meisten Polen. In seiner Autobiografie schreibt der Papst später, er habe, wenn er manchmal nachts aufwachte, seinen Vater am Boden kniend gesehen. Die Literatur ist seine große Liebe, in der Schule ist er der Beste, sein Hobby ist Sport.

Mit 20 wird Karol seine Berufung als Priester bewusst, dann fallen die Bomben auf Krakau, die Nazis marschieren ein, der Vater stirbt. Karol führt ein hartes Leben als Arbeiter in einem Steinbruch und wehrt sich mit subversivem Theater und dem Besuch geheimer Theologie-Vorlesungen gegen die totalitäre Repression. Später kämpft Wojtyla, mittlerweile Bischof, verbissen gegen das kommunistische Regime, das den Bau einer Kirche in der Arbeiterstadt Nowa Huta verhindern will. Die Weihnachtsmesse 1963 feiert Bischof Karol aus Protest bei Regen unter freiem Himmel.

Der Geheimdienst charakterisiert Karol so: Er verbinde „geschickt die traditionelle polnische Volksfrömmigkeit mit dem intellektuellen Katholizismus“, die Politik jedoch scheine „nicht seine Sache“ zu sein. Wojtyla verfasst Meditationen für die Fastenzeit in der Kurie. Darin zeigt er sich hellsichtig, schreibt von einer „offenen Epoche“, vom „Umsturz der Kulturen“ und einem „neuen christlichen Advent“ – einer Welt also, die eines durchsetzungsfähigen, dynamischen Papstes bedarf. Dann, am 16. Oktober 1978, steht Karol Wojtyla als Johannes Paul II. am Balkon der Basilika von St. Peter und ruft zur Menge: „Ich hatte Angst, diese Wahl anzunehmen!“ Von diesem Moment an macht Wojtyla Weltgeschichte.

„Nur Ärger“. Als Papst will er gleich in seinem ersten Amtsjahr Polen besuchen und das Regime dadurch unter Druck setzen. Der polnische Kommunistenchef Edward Gierek berät sich telefonisch mit dem Kreml-Herrn Leonid Breschnew: „Wir werden den Papst empfangen, wie es ihm zusteht“, sagt Gierek. Breschnew hingegen warnt: „Folgen Sie meinem Rat, und empfangen Sie ihn gar nicht. Das gibt nur Ärger.“ Breschnew wird Recht behalten, seine Vorahnung erweist sich, in den Worten der Osteuropa-Expertin Barbara Coudenhove-Kalergi, als „eines der großen Understatements des 20. Jahrhunderts“.

„Niemand kann Christus aus der Menschheitsgeschichte ausschließen“, ruft Johannes Paul II. im Juni 1979 Millionen Polen auf dem Siegesplatz in Warschau zu. „Nirgendwo auf dem Planeten!“ Das ist eine direkte Provokation des polnischen Regimes.

Das Volk versteht die Botschaft. Und auch Wojtylas Ruf „Die Grenzen müssen geöffnet werden“ erscheint vielen als ein Appell, gegen die Tyrannen aufzustehen. Der britische Historiker und Augenzeuge Timothy Garton Ash beschreibt die Folgen dieser „fantastischsten Pilgerfahrt in der Geschichte des modernen Europas: Für neun Tage hörte der Staat praktisch auf zu existieren. Jeder sah, dass Polen kein kommunistisches Land war, nur ein kommunistischer Staat.“ Die Gesellschaft organisiert sich autonom: Die Polizei verschwindet aus den Straßen, freiwillige Helfer mit päpstlichen Abzeichen halten die Ordnung aufrecht. Und der Mann im weißen Gewand lässt die Polen mit neuem Selbstbewusstsein zurück.

Ein Jahr später: An der baltischen Küste entfaltet sich eine Streikbewegung. Die ganze Welt kann im Fernsehen mitverfolgen, wie die Arbeiter im blauen Overall dem kommunistischen Regime die Stirn bieten. Es sind seltsame Revolutionäre, die vor der Danziger Lenin-Werft knien und beten – vor dem großen Eingangstor, an dem nicht rote Fahnen hängen, sondern nebeneinander die Ikone der schwarzen Madonna von Tschenstochau und das Porträt von Johannes Paul II. Und während der polnische Kirchenfürst Kardinal Stefan Wyszynski die Streikenden zu Mäßigung drängt, wird auf der Lenin-Werft unter dem Jubel der Arbeiter ein Brief des Papstes verlesen, in dem er seine Solidarität mit ihrem Kampf ausdrückt.

In diesen historischen Tagen wurde die unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc geboren. Ohne den Papst wäre sie gewiss nicht entstanden. Sie war die Vorhut der demokratischen Revolution Osteuropas, die keine zehn Jahre später den Kommunismus zum Einsturz bringen sollte.

Die achtziger Jahre waren Wojtylas große Zeit. Kraftvoll hatte er sein Pontifikat begonnen und die vatikanische Außenpolitik, die bis dahin weit gehend den Gesetzen der Diplomatie folgte, revolutioniert. Der Pole wischte das Rollenverständnis der Kurie kurzerhand beiseite, er sah sich als Verkünder einer universalen Botschaft, nicht als Chefunterhändler einer Minimacht mit konfessionellem Sonderstatus.

Auf seinem energischen Konfrontationskurs in der Ostpolitik fand der Papst bald bedeutende Bündnispartner. Kurz nach ihm kamen Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA an die Macht. Wie Wojtyla waren auch sie erbitterte Feinde des Kommunismus. Die „heilige Allianz“ der kalten Krieger gegen das „Reich des Bösen“, von der damals viel gemunkelt wurde – es gab sie tatsächlich.

Unmenschliches Kapital. Wie wenig prinzipientreu diese Allianz jedoch war, zeigte sich eklatant nach dem Fall des Kommunismus: Neoliberal und marktradikal wie Reagan und Thatcher war der Heilige Vater nie. Nach 1989 mutierte Johannes Paul II., der langjährige Darling der politischen Rechten, zum Mentor einer neu entstehenden, linken Antikapitalismusbewegung. 1991 zog er in der Sozialenzyklika „Centesimus Annus“ über die globalisierte Weltökonomie her: „Es gibt immer mehr Länder, die im Kontext der herrschenden internationalen Wirtschaftssysteme Opfer der Ausbeutung sind“, schrieb er und fragte rhetorisch: „Wird auf diese Weise das Kapital nicht immer mächtiger und unmenschlicher?“ Solche Reden werden inzwischen auf den „Sozialforen“ der Globalisierungskritiker und bei den Demonstrationen in Seattle, Genua oder Davos gehalten.

Und wieder war Johannes Paul II. populär. Als Oberhaupt einer Kirche, die in Europa jahrhundertelang brutal geherrscht hatte, schaffte es der Papst, das altmodischste Amt der Welt wie ein moderner Politiker auszuüben. Während der Flüge gab er den mitreisenden Journalisten Interviews, bei denen jede Frage erlaubt war. Paul VI. hatte man bloß Höflichkeitsfragen gestellt und darauf die Reporter gesegnet. Von Johannes Paul II. bekamen die Medien, was sie brauchten: Er streichelte ein Rhinozeros-Baby, wiederholte die Umarmung mit Lech Walesa für die Fotografen, ließ die Kameras das Treffen mit dem Attentäter Mehmet Ali Agca filmen, der am 13. Mai 1981 mit seinen Schüssen auf den Papst dessen Aura nur noch gefestigt hatte.

Das Bild des weiß gekleideten, freundlichen Mannes, der vom Frieden spricht, wird zu einem weltweit funktionierenden Image, das zudem den Vorteil hat, nicht gekünstelt zu sein. Johannes Paul II. ruht in sich und seinem Weltbild. Er überwindet das anachronistische Auftreten eines patriarchalen, nicht absetzbaren Regenten und ersetzt es – zumindest oberflächlich – durch das eines universal zuständigen, fürsorglichen Übervaters, der beim Bad in begeisterten Menschenmassen ebenso authentisch wirkt wie bei Unterredungen mit Staatsoberhäuptern oder als interessierter Zuhörer, wenn Bob Dylan ihm zu Ehren ein Ständchen spielt. Als ab Mitte der achtziger Jahre bei institutionalisierten „Weltjugendtreffen“ hunderttausende junge Menschen dem Papst zujubeln, färbt der juvenile Touch auf Johannes Paul II. ab. Das Gesicht des Katholizismus erscheint geliftet.

Im März 2003 sprach der Papst, mittlerweile sichtlich von seiner schweren Parkinson-Krankheit gezeichnet, wieder Millionen von Menschen aus der Seele: „Nie wieder Krieg!“, rief er am Sonntag vor dem Angriff der amerikanisch-britischen Allianz gegen den Irak mit überraschend klarer Stimme hoch über den Arkaden Berninis hinunter zu den tausenden am Petersplatz. Schon 1991 hatte er sich gegen die Amerikaner und den ersten Golfkrieg gestellt. Der breiten Antikriegsbewegung gegen den Golfkrieg II gab der Greis nun Gottes Segen.

Dem unbeirrbaren Pazifisten, dem Bezwinger des kommunistischen Drachens, dem Kämpfer gegen Totalitarismus und für die Menschenrechte und nicht zuletzt auch jenem Papst, der sich bei den Juden offiziell für den christlichen Antisemitismus entschuldigt hat, werden jedoch zuweilen auch weniger freundliche Beinamen gegeben: Er habe „schwere Fehler gemacht“ (der österreichische Theologe Adolf Holl), er sei ein Mann „falscher Entscheidungen“ (der Schweizer Theologe Hans Küng) oder gar ein „Massenmörder“ („Guardian“-Kommentator George Monbiot).

Bedrohtes Abendland. Küng wundert sich im profil-Essay (siehe Seite 70) über die Widersprüchlichkeiten von Johannes Paul II., der nach außen Menschenrechte vertrete, die er innerhalb der Kirche verweigere. Tatsächlich graute dem Papst schon während einer Reise in den vierziger Jahren vor dem „vom Säkularisierungsprozess bedrohten Europa“. Mittlerweile ist im ehemals christlichen Abendland Alltag geworden, was der Vatikan seit jeher so heftig bekämpft: Empfängnisverhütung, das Recht der Frauen auf Abtreibung, außerehelicher Sex, Scheidung und die Legalisierung homosexueller Beziehungen.

Beim Begriff „Menschenrechte“ dachte Johannes Paul II. niemals an moderne Prinzipien wie etwa den Schutz der Homosexuellen vor Diskriminierung, ihm als gebürtigem, lange von den Kommunisten unterdrücktem Polen ging es vorrangig um das Recht auf Religionsausübung. Die „absolute und sich selbst genügende Freiheit“, die den Menschen zum Maß aller Dinge macht, ist dem Papst zuwider. Darin erweist sich der vermeintliche Menschenrechtskämpfer als antipluralistisch, antiwestlich, antiliberal, als ein Mann aus einer anderen Zeit – dem Mittelalter. Und er entspricht ganz und gar dem negativen Klischee des freiheitsfeindlichen, autoritären „Papisten“.

So mutig, wie Johannes Paul II. die Causa Galilei neu untersuchen ließ, so borniert lässt er seinen Apparat agieren, wenn es darum geht, Katholiken trotz Aidsepidemie den Gebrauch von Kondomen zu untersagen. In Ländern der Dritten Welt, in denen katholische Funktionäre oft die einzige Informationsquelle darstellen, kann dies desaströse Auswirkungen haben. Kardinal Alfonso Lopez Trujillo behauptete laut einer BBC-Meldung von vergangener Woche, das Virus sei so klein, dass es „durch das Kondom dringen“ könne. Organisationen wie UNAids verurteilen derartigen Unsinn, doch die katholische Propaganda verbreitet sich rasch. Daher der drastische Vorwurf des „Massenmordes“.

Eisern. Der Papst hat in seiner 25 Jahre währenden Amtszeit eisern jegliche Tendenz zur Demokratisierung, Modernisierung und Liberalisierung seiner Kirche und ihrer Strukturen unterbunden. Als etwa 1987 die amerikanischen Bischöfe auf dem Gebiet der Soziallehre und der Sexualmoral Lockerungen erreichen wollten, ließ der Papst sie ihre Argumente vorbringen, um anschließend alle Forderungen zurückzuweisen. Biograf Accattoli, dem Papst durchaus gewogen, ortet ein simples Motto: „Höchste Bereitschaft zum Zuhören, Festigkeit in der Verteidigung der Lehre und der Disziplin, keinerlei Reform.“

Das erfuhren überaus leidvoll auch die lateinamerikanischen Kleriker und Gläubigen, die immerhin die Hälfte aller Katholiken auf der Welt stellen. Zwar wetterte Wojtyla auf seinen unzähligen Reisen auch in Südamerika gegen Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Rechtlosigkeit. Für die entstehenden Basisbewegungen, politisch und sozial engagierten Pfarren, die nicht nur Rosenkranz beten wollten, sondern sich aktiv gegen die Grundherren und gegen die diktatorischen Machthaber, mit denen die dortige Kirchenhierarchie vielfach verbandelt war, wehrten, hegte der Papst aber keinerlei Sympathien. Die „Mütter der Verschwundenen“ in Argentinien etwa wollte er partout nicht empfangen, Worte der Trauer für die vielen Opfer der Unterdrückung fand er kaum. Den Bischöfen schärfte er nur immer wieder ein, dass sie ja nicht nach links driften dürften. Mit dem rechten Putschgeneral und langjährigen Diktator Chiles, Augusto Pinochet, indes zeigte er sich gemeinsam im Gebet.

Den Befreiungstheologen, die mit dem Marxismus liebäugelten, sagte er den Kampf an. Sie wurden mundtot gemacht oder aus der Kirche hinausgedrängt. Für die Propaganda von Menschenwürde und Gerechtigkeit brauche es den Marxismus nicht – davon sei schon genug in der christlichen Botschaft enthalten.

„Diese Politik in Lateinamerika und gegenüber der katholischen Befreiungstheologie war desaströs“, diagnostiziert der Papst-Kritiker Adolf Holl. Da habe Wojtyla viel von seiner Glaubwürdigkeit verloren. Es sei kein Wunder, dass der Katholizismus in dieser für den Vatikan so wesentlichen Weltregion in die Defensive geraten sei und zunehmend von aus dem Protestantismus kommenden Erweckungssekten bedrängt werde. Die Gläubigen laufen in Massen zu ihnen über.

Johannes Paul II. mag in vielen Fragen gescheitert sein. Er konnte den grassierenden Priestermangel nicht stoppen, die Schäfchen in Europa liefen ihm davon, seine ökumenischen Pläne verliefen im Sand. Doch er blieb 25 Jahre lang ein Player der Weltpolitik und demonstrierte allen politischen Moden zum Trotz, was es heißt, seine Botschaft niemals zu ändern, ja nicht einmal abzuschwächen. Unerschütterlich beharrte Wojtyla auf seinen ewigen Wahrheiten – mögen sie richtig sein oder falsch. Damit hat der Mann, der sich niemandem und nichts beugt, auch nicht der Krankheit, die Welt fasziniert.

Die deutsche Reforminitiative „Wir sind Kirche“ forderte vergangenen Freitag den Rücktritt des Papstes, er wäre „ein Zeichen von Weisheit und ein Dienst an der Kirche“, in der „ein Klima lähmender Angst und geistiger Erstarrung“ herrsche. „Lang lebe der Papst!“, rief die Menge vergangenen Dienstag in Pompeji.