Stimmengewinne für die Klassik

Klassik: Stimmengewinne

Die neue Sänger-Generation im Aufwind

Drucken

Schriftgröße

Die Opernwelt erlebte die Dreifaltigkeit des hohen C: Die drei teuersten Tenöre der Welt legten am 7. Juli 1990 allen Standesdünkel ab und gaben sich zum Finale der Fußball-WM in den römischen Caracalla-Thermen die Ehre. Placido Domingo, José Carreras und Luciano Pavarotti kredenzten 80 Millionen TV-Zusehern die schönsten und allerschönsten Opernmelodien der Geschichte. „Mitten in der Nacht“, ätzte „Spiegel“-Reporter Klaus Umbach, „ging die Sonne auf“: Gleich dreimal schmetterte das vokale Triumvirat „O Sole Mio“.

Damit war auch die traditionsschwere Klassik in die fröhlichen neunziger Jahre aufgebrochen: Das edle Tongut wurde nicht länger für einen kleinen Kreis betuchter Belcanto-Kenner aufbereitet, sondern medienwirksam unter die Massen gebracht. Als letzte Bastion der Hochkultur wurde die Klassik demokratisiert und der Popstar modernen Zuschnitts zu ihrem neuen Ideal erkoren. Spät genug: Keine andere Gattung lief so dramatisch Gefahr, nicht in jene Zeit zu passen, für die sie produzierte.

Pavarotti gab die Marschroute ins gelobte Land der Umsatzrekorde vor: Er duettierte mit den Pop-Kollegen Sting und Bono Vox, beträllerte serienweise CDs mit Arien-Potpourris und ließ die gebannte Öffentlichkeit freizügig an der Liebe zu seiner Sekretärin teilhaben. Mittlerweile absolvieren Pavarotti, Domingo und Carreras ihre langen Abschiedstourneen rund um den Globus, doch sie werden ein unumstößliches Erbe hinterlassen: Die Maßstäbe, die der flotte Dreier setzte, behalten ihre Gültigkeit.

Die schicken neuen Klassik-Karrieren funktionieren nach den Mechanismen des Pop: Images werden am Reißbrett entworfen und mit viel PR-Aufwand zum Leben erweckt. Als etwa der 34-jährige Sizilianer Salvatore Licitra für den indisponierten Pavarotti 2002 an der Metropolitan Opera einspringen musste, war über Nacht ein neuer Star geboren. „Früher hätte es beim Talent eines Licitra nur zum Gebrauchstenor in der Provinz gereicht“, ätzt Experte Manuel Brug in seinem Buch „Die neuen Sängerstimmen“. „Heute ist so jemand im Handumdrehen das Abziehbild eines Stars.“
Doch seltsam: Ein Thronfolger Pavarottis ist weit und breit nicht in Sicht. So lang die Liste neuer Stimmtalente auch sein mag und so mühelos etwa ein Bryn Terfel die Konkurrenz an die Wand singt – keiner hat es bislang nur annähernd auf Pavarottis Augenhöhe geschafft. Und die Wahrscheinlichkeit sinkt stetig: Verkaufszahlen von einer Million Stück erscheinen angesichts der Dauerkrise der Plattenindustrie immer illusorischer.

Die neuen Stimmwunder werden an Maßstäben gemessen, an denen sie über kurz oder lang nur zerbrechen können. Viele Shooting Stars wurden in den vergangenen Jahren von Managern und Plattenbossen erschaffen, doch die meisten von ihnen – wie etwa die russische Sopranistin Galina Gorchakova – mussten den Stimmendienst schon nach wenigen Jahren wieder quittieren. So sehr sich die Klassik-Branche auch um Pop-Tauglichkeit müht: Was für die Belcanto-Klientel letztlich zählt, ist vokale Pracht. Anna Netrebko hat sie, Vesselina Kasarova ebenso, Juan Diego Flórez ist der neue König des hohen C. Sie gehören zu einer Generation von Vokalartisten, die sich die Regeln ihrer Kunst und ihrer Karriere selbst diktieren. Mögen Luciano Pavarotti, Placido Domingo und José Carreras auch die letzten Superstars sein: Sie dürfen getrost in Rente gehen.