Nojoud Ali: Eine kleine große Frau

Kleine große Frau: profil besuchte die zehnjährige Jemenitin Nojoud Ali in Sanaa

profil besuchte das Mädchen im Jemen

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Von Emil Bobi

Viel hat sie ja nicht gemacht, aber das, was sie gemacht hat, war falsch. Jetzt ist Nojoud an allem schuld: dass ihr Vater in der Nachbarschaft Probleme mit seiner Ehre hat. Dass ihr Land in der Welt wieder einmal als archaisches Despotentum dasteht, in dem Frauenblut getrunken wird. Und selbst die beiden Passanten würden noch leben, die ihr Bruder kürzlich mit dem Auto totgefahren hat, hätte Nojoud nicht 3000 Euro aus dem Verkauf eines Buches über sie bekommen, mit denen ihr Vater dem Bruder dieses Fahrzeug gekauft hat. Als Taxi hätte es der Bettlerfamilie ein Einkommen bringen sollen, doch der Bruder hat im Kat- und Alkoholrausch nicht aufgepasst. Jetzt muss die Familie Blutgeld für die beiden Toten zahlen. Aber vielleicht kann Nojoud ja zumindest das wiedergutmachen, indem sie von irgendwo auf der Welt eine Hand voll Geldscheine zugesteckt bekommt.

Mit gesenktem Blick und am Bauch übereinandergelegten Händen steht sie da. Wenn dem Besucher eine lustige Bemerkung ­gelingt, zerplatzt die Dunkelheit in ihrem unbewegten Gesicht, und in ihren großen Augen glitzert ein bisschen Kindheit. In zwei nie wieder sauber zu bekommenden Räumen, in einem Vor- und einem Nebenraum, an der Brust und an der Schulter der Kat kauenden Mutter, in Bergen von Schmutzwäsche, entdeckt man immer mehr Kinder. Der Vater, Ali al Ahdel Nasser, ist seit dem Verlust seines Jobs als Lkw-Fahrer Bettler und unheilbar leberkrank. Er hat 16 Kinder gezeugt. Neun, darunter Nojoud, mit seiner Erst- und sieben mit seiner Zweitfrau. Alles, was laufen kann, wird hinausgetrieben zum Betteln.

Nojoud freut sich ein bisschen über den Besuch. Medienleute zählen zu den neuen Erfahrungen, die sie draußen in einer atemberaubend verwirrenden Welt gemacht hat, in die sie katapultiert wurde, ohne es an­zustreben. Sie hat sich nie gewünscht, neben einer Schauspielerin von „Desperate ­Housewives“ aus Hollywood auf einer Bühne zu stehen und von allen wahnsinnig ­„lovely“ gefunden zu werden. Sie wollte sich nur nicht mehr im Eigentum eines Gewalttäters befinden, der mehr als dreimal so alt ist wie sie und sie prügelnd durch die Zimmer getrieben, spätestens im hintersten erwischt und vergewaltigt hat, der sie misshandelte, wenn sie im Hof spielen wollte und sich weigerte, mit ihm ins Bett zu gehen. Der nur noch fester zuschlug, wenn sie um Gnade bettelte. Das entstammt nicht dem Hirn eines schlechten Drehbuchautors, so hat es die neunjährige Ehefrau im Vorjahr bei Gericht zu Protokoll gegeben. Auf die Frage des Richters, was sie denn wolle, antwortete Nojoud: „Die Scheidung.“ Und auf die Frage, warum sie das wolle, sagte sie: „Ich möchte wieder mit meinen Geschwistern spielen.“

Frau des Jahres. Aber nun ist nichts mehr so wie früher. Nojoud hat etwas ganz Großes losgetreten. Sie hat es geschafft, mit dem viel schwächeren, geschriebenen Gesetz das viel stärkere, ungeschriebene Gesetz auszuhebeln. Sie ist damit unabsichtlich am Zünder einer Rakete angestreift, die sie einmal um die Welt geschossen hat. Im November 2008 wurde das misshandelte Bettlerkind aus Sanaa im Jemen vom US-Magazin
„Glamour“ zur Frau des Jahres 2008 gewählt. Wolken aus Glitzer schneiten aus den Scheinwerfern, und dumpfer Applaus brandete an die Bühne, auf der sie stand. Mit jemenitischen Begleitern ging es zu Preisverleihungen in den Libanon, nach Frankreich, nach Deutschland. Die französische Journalistin Delphine Minoui hat mit dem Buch „Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden“ einen Weltbestseller fabriziert. Regierungsmitglieder, Frauenrechtlerinnen und andere Damen und Herren haben sich mit ihr fotografieren lassen.

Zur Prämierung beim Women’s World Award in Wien vor zwei Wochen konnte Nojoud nicht mehr kommen. Bei der Heimkehr von ihrer letzten Reise nach Deutschland wurde ihr am Flughafen in Sanaa der Pass abgenommen und seither nicht mehr zurückgegeben. Jetzt ist sie wieder hier in ihrem Ghetto-Loch am Rande der jemenitischen Hauptstadt gelandet, fallen gelassen, fast schon vergessen. Glamour und Glitzer sind weiter­gezogen.

Diese Reisen haben Nojoud nicht nur verwirrt, sie hat auch einiges gelernt. Mit der Professionalität eines Stars beantwortet sie die Frage, ob sie gerne zur Preisverleihung nach Wien gekommen wäre: „Ich möchte mich bei den Österreicherinnen und Österreichern dafür entschuldigen, dass ich nicht kommen konnte, und mich für den Preis bedanken, den ich gern persönlich entgegengenommen hätte. Aber ich hatte keinen Pass“. Geblieben sind nur Probleme. Sie musste die Schule wechseln, aber auch in die neue geht sie kaum. Das Schlimmste sind die unmittelbaren Nachbarn, die sie beschimpfen, sobald sie sich auf der Straße zeigt. Seit Wochen verlässt sie daher das Haus gar nicht mehr, damit – so sagt sie im Interview – der arme, ehrenwerte Vater nicht so viele Probleme hat. Selbst der für dieses Armenviertel zuständige Scheich sah sich veranlasst, sich einzumischen und die persönliche Freiheit von Nojoud Ali Muhammed Nasser einzuschränken. Er verfügte, dass Nojoud bei sich zu Hause zwar Besucher empfangen, mit ihnen aber nicht auf die Straße gehen darf. Das gebe nur Probleme.

Nun betritt ihr Vater den Raum. Er bittet darum, das österreichische Volk zu ersuchen, seiner Familie zu helfen. Seit der Sohn diesen Unfall mit den zwei Toten verschuldet hat, sei alles noch viel, viel schwerer geworden. Als er wieder gegangen ist, sagt Nojoud, sie habe ihm verziehen, dass er sie für 1100 Euro verkauft und unter Prügeln gezwungen hat, diesen Mann zu heiraten und mit ihm zu gehen: „Es war eine schwierige Situation für ihn.“ Traurig mache sie aber, dass sich von den Leuten, die sie ins internationale Rampenlicht gestoßen haben, niemand mehr bei ihr melde, nicht einmal die Autorin ihres Buches. Nojoud sagt, diese Frau habe versprochen, ihr die gesamten Erlöse aus dem Verkauf des Buches zukommen zu lassen. Doch sie, Nojoud, habe außer den 3000 Euro nichts bekommen. „Es ist falsch, was sie gesagt hat“, meint Nojoud nun, „am Anfang habe ich ihr vertraut, jetzt kann ich das nicht mehr.“ Sie und ihr Vater hätten einen zwölfseitigen, in französischer Sprache verfassten Vertrag unterschrieben, von dem sie kein Wort verstanden hätten. Aus dem Manuskript sei ihr nie vorgelesen worden, sie wisse nicht, was dort stehe. Jedenfalls, so sagt sie, „möchte ich nicht, dass das Buch auf Arabisch erscheint, weil ich gehört habe, dass Sachen drinnen stehen, die ich nicht gesagt und über die ich mit dieser Frau nie gesprochen habe. Wenn das auf Arabisch übersetzt wird, dann werde ich noch mehr Probleme haben.“

Despoten-Hochburg? Am 2. April 2008 war die Kleine aufgebrochen, um Frauengeschichte zu schreiben. In einem Land, das in der Weltöffentlichkeit meist als archaische Despoten-Hochburg dargestellt wird, in dem es gleich viele Menschenrechte wie Tierrechte gibt, nämlich gar keine. Wahr ist, dass der Jemen ein extrem armes Land ist, das aber fortschrittlicher erscheint als seine in Petro­dollars schwimmenden Nachbarländer. Im ­Jemen gibt es alles gleichzeitig: von der traditionellen, selbstverständlichen Unterdrückung der Frau bis hin zur selbstsicher auftretenden Frauenbewegung. Im Gegensatz zu anderen vergleichbaren Ländern hat der Jemen seit 1970 ein allgemeines Frauenwahlrecht und eine von der Regierung aufgestellte Spezialtruppe der Polizei, deren einziger Auftrag lautet, gegen Belästigungen von Frauen durch Männer vorzugehen. Gleichzeitig sind 45 Prozent aller Eheschließungen Inzuchtverbindungen, die jährlich tausende Kinder mit oft tödlichen Herzschwächekrankheiten hervorbringen. Der Grund scheint banal: Eheschließungen innerhalb der Familie sind billiger. Dass Kinder unter zehn Jahren wie Nojoud in eine Ehe gehetzt werden, ist im Jemen kein Einzelfall, doch gang und gäbe ist es genauso wenig. In den meisten Fällen sind die Bräute 14, 15 Jahre alt. Oft kommt es zu schweren Verletzungen, wenn kindliche Mütter Geburten durchstehen müssen.

Nach zweieinhalb Monaten Ehemartyrium war Nojoud Anfang April des Vorjahres mit ihrem Mann zufällig in der Nähe ihres Elternhauses gewesen und durfte ihre Familie besuchen. Sie flehte ihre Eltern an, ihr zu helfen. Doch da gab es nichts, wozu sich die Eltern in der Lage sahen. Verheiratet ist verheiratet, Gesetz ist Gesetz. „Wir können nichts tun“, habe die „Tante“ gesagt, wie die zweite Ehefrau ihres Vaters genannt wird. „Wenn du glaubst, dass du etwas machen kannst, dann kannst du ja zum Gericht gehen.“ Wohl niemand hatte für möglich gehalten, dass dieses Kind den eigentlich zynisch gemeinten Rat annehmen würde.

Wink des Schicksals. Nojoud rannte davon. Sie fragte sich mithilfe eines Taxifahrers zum Bezirksgericht West in Sanaa durch. Hier in den dunklen Gängen des Gerichtsgebäudes, die von Warteschlangen gaffender Männer durchzogen waren, ereilt sie der entscheidende Wink des Schicksals: Hinter einer Tür, auf die jemand gezeigt hatte, saß Richter Muhammed Al-Qathi, ein Mann, der für die Zukunft eines modernen Jemen steht, der sich über den gesetzlichen Graubereich hinwegsetzte, der Fälle wie Nojoud möglich machte und straffrei hielt. Er nahm das Kind nicht nur sofort ernst, sondern ließ sowohl Nojouds Ehemann Faez Ali Thamer wie auch ihren Vater Muhammed Nasser vorübergehend in Untersuchungshaft nehmen. Haftgrund: Kindeshandel und Vergewaltigung Minderjähriger.

Nojoud durfte einige Tage beim Richter wohnen, bis sich die Lage geklärt hatte. Sie lächelt selig, wenn sie sich an den Richter erinnert: „Er hat gesagt: Wo sind deine Eltern? Wenn sie hier wären, würde ich sie sofort schlagen dafür, was sie dir angetan haben.“ Shata Nasser, Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin, bot ihre Dienste kostenlos an und stürzte sich auf den Fall. Richter Thamer nahm die Scheidungsklage an, und nach wenigen Wochen war die Weltsensation perfekt: Nojoud Ali Nasser, 10, hatte im Alleingang ihre Scheidung erzwungen.

Das erste Medium, das den Fall an die Öffentlichkeit brachte, war die alle drei Tage erscheinende „Yemen Times“, ein mutig gegen Korruption, Vetternwirtschaft und Polizeistaatsmethoden anschreibendes Blatt. Herausgeberin Nadia Abdulaziz Al-Sakkaf beobachtet mit zunehmendem Bedauern, was aus der Sache mittlerweile geworden ist. Zwar gibt es inzwischen einen Parlamentsbeschluss, der das Mindestalter für eine Heirat mit 17 Jahren ansetzt, doch das Paket liegt nun wieder bei einer überaus mächtigen Kommission, die prüft, ob der Gesetzesentwurf dem islamischen Recht der Scharia entspricht, der religiösen Verfassung des Landes.

Traurige Bilanz. Nadia Sakkaf: „Ich war immer dagegen, dem Kind direkt Geld zu geben. Ich habe vorgeschlagen, es zu sparen und für ihre Bildung auszugeben.“ Nojoud gehe kaum in die Schule. Schon deshalb nicht, weil in der zerrütteten Familie niemand da sei, der sie morgens aufwecke. Niemand von den anfänglichen Unterstützern wolle sich noch um Nojoud kümmern, weil der Vater auf alle losgehe, sogar auf Nojouds Anwältin, der er vorwerfe, Geld genommen zu haben. Auch finde sich niemand mehr, der Nojoud auf mögliche Auslandsreisen begleiten wolle, weil es unmöglich sei, mit Nojouds Eltern zu kooperieren. Nadia Sakkaf: „Die Weltpresse hat sich nur auf Nojoud gestürzt, obwohl es auch andere Fälle gibt. Wir wollten ein Problem thematisieren, aber die wollten nur ihr Gesicht.“ Das Resultat der Geschichte mit dem weltweiten Echo sei ein trauriges. Die Herausgeberin: „Man hat ihr illegal den Pass abgenommen.

Es passieren so viele illegale Dinge in diesem Land. Wir wissen nicht einmal, wo das Dokument jetzt ist. Die haben einfach Angst, dass Nojoud im Ausland Dinge sagt, die für das Land ungünstig sind. Das arme Mädchen ist auch nach ihrer Befreiung wieder nur missbraucht worden, diesmal vom Glitzer der so genannten westlichen Welt. Sogar die Buchautorin hat sich alle Rechte am Buch gesichert. Es ist sogar unklar, ob Nojoud überhaupt befugt ist, anderen ein Interview zu geben.“ Das Buch gehe „wie Feuer“, doch die Heldin sehe kein Geld.