Komplexe Verfahren lähmen die Justiz

Komplexe Verfahren lähmen die Justiz: Staatsanwälte stoßen an ihre Grenzen

Staatsanwälte stoßen an ihre Grenzen

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Von Michael Nikbakhsh und Ulla Schmid

Es ist noch gar nicht so lange her, da war der Name Gerhard Jarosch allenfalls einer ausgewählten Öffentlichkeit geläufig. Der 41-jährige Wiener Staatsanwalt erledigte die Pressearbeit des Grauen Hauses, einer langen Tradition folgend, abseits des Scheinwerferlichts. Seit Jahresbeginn hat sich das geändert: Bis zu fünfmal die Woche taucht der gebürtige Linzer in den Nachrichtensendungen des Landes auf – stets korrekt gekleidet, vorsichtig, aber bestimmt in der Wortwahl, sparsam in Mimik und Gestik.
Gerhard Jarosch, Experte für eh alles: Taschendiebstahl, Nötigung, Kinderpornografie, Korruption, Betrug, Untreue.

Die Präsenz des Sprechers der Anklagebehörde belegt einerseits den neuen Kurs der Justiz hin zu mehr Offenheit. Andererseits aber manifestiert sich in der Person Jarosch auch das Dilemma der Behörde: Eine überschaubare Anzahl von Ermittlern ist mit immer komplexeren Fällen konfrontiert. Vor allem Delikte aus dem Bereich der Wirtschaftskriminalität stellen die Staatsanwälte landesweit vor schier unüberwindbare Hürden. Es mangelt an Geld, an Personal, an Know-how. Die unter Schwarz-Blau Anfang des Jahrtausends durchgepeitschte Polizeireform zerschlug zunächst eingespielte Strukturen in der Exekutive, die Anfang 2008 in Kraft getretene Reform der Strafprozessordnung bürdete den ohnehin überlasteten Staatsanwälten nur noch mehr Arbeit auf. Die Folge: Verfahren bleiben schlicht liegen.

Am Beispiel der großen Skandale der jüngeren Vergangenheit: Seit bald siebeneinhalb Jahren harrt die Causa Libro einer Erledigung; die Affäre YLine wird bereits seit sechs Jahren und acht Monaten bearbeitet; die Ermittlungen im Bawag/Refco-Komplex ziehen sich seit über drei Jahren.
Das lässt erahnen, welches Schicksal die vergleichsweise taufrischen Fälle Meinl, ­Immofinanz und Mensdorff-Pouilly er­wartet. Und das ist nur die Spitze des Aktenbergs. Allein in der Gruppe „Wirtschafts- und Finanzstrafsachen“ der Staatsanwaltschaft Wien sind derzeit 235 einschlägige Untersuchungen anhängig, verteilt auf gerade einmal neun Staatsanwälte. Statistisch hat damit jeder Ankläger 26 Bälle gleichzeitig in der Luft.

Gerhard Jarosch, auf die Arbeitsbedingungen im Grauen Haus angesprochen, verweist auf Justizministerin Claudia Bandion-Ortner. Diese sagt: „Grundsätzlich liegt Österreich im internationalen Vergleich an sehr guter Stelle, was die Verfahrensdauer betrifft. Aber es wird schwieriger, die Qualität und die Schnelligkeit zu halten.“ Die jetzige Personalsituation im Justizbereich mache die Sache „nicht einfacher“ (siehe Interview).
Umso mehr, als dass sich das Verbrechen längst internationalisiert hat. Wo früher der schwarze Geldkoffer unter dem Tisch den Besitzer wechselte, werden heute Millionen über den Atlantik verschifft, Briefkästen und Stiftungen in Steueroasen eröffnet, hochkomplexe Wertpapierprodukte zweckentfremdet. Der Tatort ist nicht länger ein Hinterzimmer in Wien-Meidling allein, sondern de facto der gesamte Globus.

Zeit und Kraft. Im Gegensatz zu Delikten gegen Leib und Leben kommen bei Wirtschaftsfällen bald einmal zehn bis zwölf Verdächtige unterschiedlicher Nationalitäten und Wohnsitze zusammen. Das wiederum erzwingt die Auseinandersetzung mit internationalen Behörden und Rechtslagen, die nicht notwendigerweise mit der österreichischen korrelieren.

All das kostet Zeit und Kraft. Den Aufwand müssen Österreichs Staatsanwälte – ein Einsteiger kommt auf kaum mehr als 2000 Euro netto im Monat – mittlerweile praktisch allein stemmen. Sie erledigen neben den eigentlichen Aktenläufen nunmehr auch Amtshilfeersuchen, Festnahmeanordnungen, allfälligen Häftlingsverkehr und müssen obendrein die polizeilichen Einvernahmen koordinieren oder gar selbst durchführen – Arbeitsschritte, die ihnen bis Ende 2007 noch großteils von beigestellten Untersuchungsrichtern abgenommen wurden.

Der natürliche Feind der Staatsanwälte ist der Staranwalt, der neuerdings immer öfter im Rudel auftritt. Allein Julius Meinl bietet in den laufenden Ermittlungen wegen des Verdachts der Untreue und des Betrugs ein Dutzend Advokaten auf, davon vier Strafverteidiger. Die Republik schickt gegen diese Phalanx lediglich einen Staatsanwalt, Markus Fussenegger, und eine befristet abgestellte Mitarbeiterin der Finanzmarktaufsicht (FMA) ins Rennen. „Das ist aber nur in den Sonderfällen möglich“, präzisiert FMA-Sprecher Klaus Grubelnik. Soll heißen: Bei kleineren Delikten ohne große PR sind die Ankläger überhaupt auf sich allein gestellt.

Das führt zu Verzerrungen im Rechtssystem. Immer öfter müssen Staatsanwälte auf Gutachter zurückgreifen, die ihnen einen Teil der Ermittlungen und der Aktenauswertung abnehmen sollen. In einem kleinen Land wie Österreich kommt für diese delikate Aufgabe allenfalls ein Dutzend Sachverständige infrage, darunter Herren wie Thomas Keppert (YLine), Martin Geyer (Libro), Gerhard Altenberger (Immofinanz), Fritz Kleiner (Bawag) oder jüngst Thomas Havranek (Meinl).

Jede Expertise ist zeitaufwändig, vor allem aber teuer. Unter einer halben Million Euro geht selten etwas. Das schmale Angebot an Fachleuten birgt außerdem das Risiko der Befangenheit. Sachverständige sind im Brotberuf zumeist Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer, die gern auch Aufträge von Unternehmern oder Managern ent­gegennehmen. Sollten die Klienten später straffällig werden, fiele der Gutachter automatisch aus der Ziehung.

„Die Verzögerungen bei Wirtschaftscausen sind für Beschuldigte oft unerträglich“, sagt ein Sachverständiger. „Umgekehrt gilt gerade eine lange Verfahrensdauer als Milderungsgrund.“ Das könnte erklären, warum Anwälte durch fortgesetzte Eingaben und Beschwerden immer wieder versuchen, eine raschere Aufarbeitung zu torpedieren. Im Fall der früheren Libro-Verantwortlichen um André Rettberg etwa soll fast ein Jahr für die Behandlung von Einstellungsanträgen draufgegangen sein.

Grenzgänger. Andererseits stoßen Juristen, wie auch die ihnen zuarbeitenden Polizisten, auch fachlich an ihre Grenzen. Um etwa ein international gesponnenes Firmennetzwerk zu entwirren, das Wesen von Termingeschäften zu verstehen oder Strohmänner zu enttarnen, braucht es mehr als einen Grundkurs in Bilanzbuchhaltung. Und für die konsequente Aus- und Weiterbildung fehlen schlicht die Ressourcen.

Vielen Staatsanwälten mangelt es obendrein an Erfahrung. Allein in Wien sind heute 70 Prozent aller Staatsanwälte weniger als drei Jahre im Amt. Aufseiten der ­Exekutive wiederum fiel die Wirtschaftspolizei einer verfehlten Reform zum Opfer. Die Beamten wurden unter Ernst Strasser auf verschiedene Einheiten und Bundesländer aufgeteilt. Die Arbeit besorgen heute im Bedarfsfall zusammengewürfelte Sonderkommissionen, die nur in den seltensten Fällen aus aufeinander eingespielten Beamten bestehen.
Überhaupt spielt der Faktor Zeit bei Ermittlungen in Strafverfahren eine entscheidende Rolle. Eine Festplatte ist schnell neu formatiert, Korrespondenz zu Papierschlangen geschreddert, ein Akt ortsverändert. Im Fall Meinl etwa leitete die Justiz bereits Ende 2007 Ermittlungen ein – die Hausdurchsuchungen in Wien und Bratislava erfolgten allerdings erst im Februar dieses Jahres, also mit eineinhalbjähriger Verzögerung.

Mehr Macht. Zumindest ein Teil der Probleme ließe sich lösen, würde der immer lauter werdende Ruf der Finanzmarktaufsicht nach mehr Kompetenzen erhört. Wirtschaftsdelikte spielen zunehmend in den von der FMA überwachten Kapitalmarkt hinein. Die Statistik spricht Bände: Im Jahr 2005 schickte die Behörde insgesamt elf Sachverhaltsdarstellungen an die Justiz, 2006 waren es 17, 2007 bereits 27, im Vorjahr gar 45. Und seit Jahresbeginn sind es schon 23. Dabei ging und geht es querbeet: Insiderhandel, Betrug, Untreue und diverse Verstöße gegen Aktien- und Börsenrecht.

Bei Verdacht auf Schädigung von Anlegerinteressen will die FMA künftig nach angelsächsischem Vorbild ohne Sanktus eines Richters Hausdurchsuchungen durchführen und Beschlagnahmungen vornehmen können. SPÖ-Finanzsprecher Jan Krainer steht diesem Ansinnen „grundsätzlich positiv gegenüber, aber das Agieren der FMA muss einer Kontrolle unterstehen – entweder durch einen Richter oder das Parlament“. Darüber hinaus steht jetzt auch eine Neuordnung der Zuständigkeiten auf der Agenda.

Delikte wie Marktmanipulation – etwa durch gezielte Irreführung von Anlegern – fallen derzeit noch in die Kompetenz der FMA, der Strafrahmen liegt bei maximal 50.000 Euro. Für Insiderhandel dagegen ist ausschließlich die Justiz zuständig, die Höchststrafe liegt hier bei fünf Jahren Freiheitsentzug. Künftig könnte, ähnlich wie im Finanzstrafrecht, ein so genannter strafbestimmender Wertbetrag gesetzt werden. Unter diesem würde die FMA sanktionieren, darüber die Justiz. „Eine Verschiebung der Zuständigkeit könnte ich mir vorstellen. Beim Insiderhandel würde ich überhaupt gerne einige Reformen vornehmen. Vor allem die Überführung des Tatbestands vom Börsen- ins Strafgesetz wäre für mich ein wichtiges Signal – dafür, dass Insiderhandel kein Kavaliersdelikt ist, sondern zum Kernbereich der Wirtschaftsdelikte gehört“, so Justizministerin Bandion-Ortner.

Die evidente Überlastung der Staatsanwälte wirkt mittlerweile auf das Prestigeprojekt „Korruptionsstaatsanwaltschaft“, welches noch unter Bandion-Ortners Vorgängerin Maria Berger konzipiert und beschlossen wurde. Seit 1. Jänner dieses Jahres sind vorerst zwei, fortan fünf Ermittler österreichweit für Fälle von Amtsmissbrauch und -korruption zuständig.

Politischer Wille. Ursprünglich sollte die neue Behörde nicht mit Altlasten eingedeckt werden, man wollte dieser nur Causen überantworten, die nach dem 1. Jänner 2009 aktenkundig würden. Davon kann jetzt schon keine Rede mehr sein. Seit Kurzem untersucht die Einheit um Staatsanwalt Walter Geyer den bereits länger zurückliegenden Siemens-Schmiergeldskandal wie auch die im Wahlkampf 2008 aufgetauchten Bestechungsvorwürfe gegen den Strabag-Konzern in Ungarn (profil berichtete). Geyer kann sich noch vergleichsweise glücklich schätzen. Im Gegensatz zu den Kollegen aus der Wirtschaftsgruppe wurden den Korruptionsjägern Planposten für Experten in den Bereichen Informationstechnologie und Rechnungswesen zugestanden.

Dass es auch anders gehen kann, zeigt das Beispiel Bawag. Im Frühjahr 2006 nahm Staatsanwalt Georg Krakow, heute Kabinettschef im Justizministerium, die Ermittlungen auf, bereits im Oktober wurde die Anklage gegen Helmut Elsner und acht weitere Beschuldigte bei Gericht eingebracht – also fast zeitgleich mit den Nationalratswahlen, die vom Bawag-Skandal überschattet wurden. Der Prozess unter dem Vorsitz von Claudia Bandion-Ortner, heute Justizministerin, startete am 16. Juli 2007, also eineinhalb Jahre später. Wenn der politische Wille da ist, lassen sich auch die kompliziertesten Verfahren stemmen.