Komponistin Neuwirth über Joseph Haydn

Komponistin Neuwirth über Joseph Haydn: Ein Mann von zu vieler Empfingung

Essay: Ein Mann von zu vieler Empfindung

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Joseph Haydn. Schon wieder ein Jubilar. Man könnte jedes Jahr einen großen Herrn Komponisten feiern, die Musikgeschichte ist ja lang genug. Aber ist dies nicht eher ein Vorwand, sich nicht mit zeitgenössischen Komponisten zu ­beschäftigen, sie nicht zu Gehör zu bringen? Was soll ich über Haydn schreiben? Ich arbeite als Frau in einem weiterhin völlig männlich dominierten Beruf. Ach so, das soll ich ja nicht mehr erwähnen, weil es wie bleiernes Gejammere klingt, ­anstatt dass die Situation vielleicht einmal anerkannt würde, das wäre einmal ein Ansatz, aber in Österreich sind nie klare Verhältnisse zu erwarten. Ich bin freischaffend, habe also keine existenzsichernde Stelle wie viele meiner Kollegen (in dieser Stadt wird einem irgendwann alles zugetragen: „Man will sich mit Ihnen keine Laus in den Pelz setzen“), bin keine Kombination aus Komponist/Dirigent oder Komponist/Interpret, kann mich also auch in diesem Sinn nicht mit Haydn in Verbindung bringen. Warum werde ich zu solchen Anlässen ­gefragt, mich zu artikulieren? Weil die Laus frei ist? Warum fragt man nicht die vielen Kollegen? Solidarität? Ein Fauxpas mehr, Frau Neuwirth? Kokett?

Jedenfalls hätte Herr Haydn sich eher nicht öffentlich kritisch geäußert. Dadurch wird man angreifbar und verliert Gönner. Wer will schon angreifbar sein, in einer Zeit, in der es heißt, „dass das Klima auch im Kulturbetrieb immer frostiger und niemand verschont bleiben wird“? Sich in solch ­einer Situation (kritisch) zu äußern – als Freischaffende, Abhängige vom guten Willen Anderer (Musiker, Ensemble, Orchester und besonders den Auftraggebern) – heißt doch, sich selbst ins Abseits zu stellen, nicht wahr? Dennoch will ich mich hinter keiner rosa Brille verbergen, das führt nirgendwohin und verändert auch keine erstarrten, orthodoxen Strukturen.

In seinen Anfangsjahren als Komponist verdiente Haydn sehr wenig, diese existenzielle Unsicherheit machte ihn nervös, lenkte ihn vom Komponieren ab. Immerhin knüpfte er in jener Zeit viele Kontakte, baute ein Netzwerk auf, sogar bis in „hohe Kreise“. Vielleicht lernte er dort, wie man mit gesellschaftlichen Konventionen umgeht. Aber um die Spielregeln einer Gesellschaft zu lernen, muss man erst einmal in sie eingeführt werden. Ich bin zwar auch ein Kind vom Land, wurde aber nie irgendwo eingeführt und verstehe daher auch die ­Regeln der Gesellschaft und ihre Umgangsformen nicht. Noch dazu bin ich in einer 68er-Familie groß geworden, in der schon mal Dichter auf Bäume kletterten und nicht mehr herunterkamen. Sich kritisch zu äußern gilt heute noch als ­ungehörig und aufmüpfig.

Erst vor einigen Jahren begann mich Haydns zärtliche Selbstironie zu faszinieren. Besonders die Doppeldeutigkeiten seiner Musik und diese gewisse heitere Gelassenheit finde ich inzwischen sehr reizvoll. Haydn reagierte nicht ­allergisch auf die Inszenierungsmaschinerie der Musikverlage – im Gegenteil. Sein Name verbreitete sich in ganz Europa, wobei man nicht vergessen darf, dass Haydn sukzessive nicht nur in Adelskreisen bekannt wurde, sondern auch in der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrem neuen Herrschaftsanspruch, für die eine musikalische Ausbildung sehr wohl von Bedeutung war. Heute kann man sich kaum noch vorstellen, dass es einmal zum guten Ton gehörte, Noten lesen und musizieren zu können. Haydn wusste sich sowohl in einem unter Maria Theresia nicht besonders aufgeklärten Wiener Hof zu bewegen als auch in Paris und London, in den Logen der Freimaurer und den Stuben des Bürgertums. Nicht nur musikalisch vielseitig, sondern auch noch ein ­soziales Genie? Ein „Wunderwuzzi“? Jedenfalls unantastbar, gern allüberall gesehen. Das kann ich nur staunend bewundern. Er ließ sich nie irritieren, weder vom Erfolg noch in ­jenen Phasen, da es weniger rosig lief. Er schuf sich Freiräume für seinen Kopf. Vielleicht hat man ihn deswegen auch nach seinem Tod enthauptet.

Er blieb seinen frühen Helfern immer in Dankbarkeit verbunden, förderte und unterstützte junge Kollegen und Musiker. Bewunderns- und nachahmenswert die Bescheidenheit und Würde (auch wenn es manchmal vielleicht nur Inszenierung war) eines international geschätzten Komponisten, der zeitlebens geistig vital blieb und als 60-Jähriger auf Mozarts Bedenken wegen einer sehr beschwerlichen Reise nach London nur meinte: „Ich bin aber noch munter und bey guten Kräften.“ Von guter Gesundheit muss er immer gewesen sein, sicher keine schlechte Voraussetzung, und stets neugierig. Er sammelte Anregungen wie Steine am Wegesrand, blieb ­begeisterungsfähig, sogar noch im Alter während seiner ­beiden Aufenthalte in London. Angriffe konnten ihm kaum etwas ­anhaben, auch wenn er oft der Naivität, Munterkeit und der „Herabwürdigung der Musik zu komischen Tändeleyen“ ­bezichtigt wurde.
Haydn ließ sich nicht abbringen von seinen musikalisch so vielfältigen Ideen. Er besaß ein starkes Selbstvertrauen, was mit Stolz nicht zu verwechseln ist, der – wie es bis heute heißt – junge Talente gewöhnlich beherrscht. Zu Beginn seiner Laufbahn traute er sich sogar sehr wenig zu und hegte großes Misstrauen gegenüber seinem Können. Ein gewisser Zweifel blieb ihm vermutlich erhalten, auch als er immer berühmter wurde.

Dieser internationale Komponist, der als Angestellter des Fürsten Esterházy 28 Jahre lang in Schlagdistanz zum scheinbar so weltgewandten Wien lebte, war unabhängiger als die Komponisten am Kaiserhof, die der Willkür der Mächtigen und deren eher konservativem Geschmack ausgesetzt ­waren und sich daher viel stärker anpassen mussten als Haydn. Er konnte sich als Fürstendiener eine Weltoffenheit und Souveränität als Künstler erarbeiten und erhalten. Möglicherweise war es für ihn kein Widerspruch, die neue Marktwirtschaft geschäftstüchtig zu bedienen, im Dienstverhältnis eines Fürsten zu stehen, seinen Kunstanspruch zu verteidigen, Sensibilität und Einfallsreichtum zu leben. Haydn erschuf sich eine Zwischenwelt, indem er sich sowohl in künstlerischen als auch in gesellschaftlichen Fragen stets seine eigene Meinung bildete, statt in Konformität zu verfallen.

Haydns Karriere war für junge Komponisten ermutigend (Mozart schrieb ihm 1785: „Vor allem Dein Beifall hat mich mit Zuversicht erfüllt und daher empfehle ich Dir auch meine Kinder …“), weil er die Entbehrungen kannte, die ein ­Leben als freischaffender Künstler gerade zu Karrierebeginn mit sich brachte; vielleicht liegt der Grund auch darin, dass er aus „kleinen Verhältnissen“ stammte und ihm offenbar nichts zu anstrengend war, ich weiß es nicht. „Junge Leute werden an meinem Beispiel sehen können, dass aus dem Nichts doch Etwas werden kann; was ich aber bin, ist Alles ein Werk der dringendsten Noth.“ Also doch: Notwendigkeit. Etwas zu tun aus Leidenschaft, Liebe und innerster Not finde ich von ­außerordentlicher Bedeutung, besonders für uns Komponisten des 21. Jahrhunderts, die in keiner Weise mehr im Mittelpunkt irgendeiner künstlerisch interessierten Gesellschaft ­stehen, sondern: nirgendwo stehen.

Letztlich erfand sich Haydn selbst: Er stieg – im Alter von 29 Jahren, für damalige Verhältnisse sehr spät – vom „gassatim-Musiker“ (Gassenmusiker) zum Vizekapellmeister am Hof in Eisenstadt, schließlich zum „Liebling unserer Nation“ auf, wie das „Wiener Diarium“ 1776 schrieb. Ein derartiger Lebensweg ist heute für einen Komponisten, besonders aber für eine Komponistin nicht mehr möglich. Haydn konnte zu einem Strukturentwickler werden, vor allem in der Kammermusik, und eine besondere Position einnehmen: Er emanzipierte sich zu einer modernen Künstlerfigur.

Vielleicht erscheint Haydn vielen zu gleichmütig, weil er gelernt hatte, die Konventionen zu beherrschen, sich auf dem Parkett internationaler Höfe zu bewegen, um sich so als ­Angestellter dem Diktat der Alltagsvernunft am Hofe komponierend entgegenzusetzen. Ja, er konnte die Erwartungen der Gesellschaft bedienen (nicht so Mozart), aber später, als ihn der Erfolg vielleicht souveräner machte, auch das Gegenteil beweisen – wie in seinem Brief an die Wiener Tonkünstler­sozietät, in dem er sich wütend zur Wehr setzte: „Ich bin ein Mann von zu vieler Empfindung, als daß ich beständig der Gefahr sollte ausgesezet seyn cassiret zu werden.“ Mozart, dem unbändigen „Kind“, hätte man solche Aussagen sicherlich übel genommen, doch Haydn galt als seriöser, unaufgeregter, nie übertreibender Könner.

Dies ist mir zwar persönlich eher fremd, doch fasziniert mich diese perfekte Gratwanderung zwischen Intellektualität, Wachheit, Offenheit und gleichzeitiger Angepasstheit. Ich würde jedem, der von jung an komponierend „durchhalten“ und immer weiter von seiner Kunst leben muss, aus meiner Sicht raten, sich abzugrenzen zu versuchen, um sich weiterhin geistige Freiräume zu ­erschaffen.

Geholfen hat Haydn dabei wohl auch sein Schalk ebenso wie sein experimenteller Sinn. Nach seiner zweiten Englandreise entstand das von mir so geliebte Trompetenkonzert. Die Klappen-Trompete war gerade vom Hoftrompeter Weidinger entwickelt worden und hatte sofort Haydns Interesse geweckt. Ein anderes Beispiel für die anarchisch-ironische Energie des jungen Haydn ist seine Vorwegnahme einer Charles-Ives’schen Idee. Er organisierte ein „gassatim-Konzert“ im öffentlichen Raum, bei dem er Musiker einlud, sich am Tiefen Graben in Wien auf mehrere Häuser und Winkel zu verteilen und nur das zu spielen, was sie wollten. Eine Idee von 1753! Das finde ich wunderbar. So etwas kann man nur als junger Mensch, da sollte man solche anarchischen, provokativen, herausfordernden Ideen auch ausleben – statt in einem Betrieb, der jedes Scheitern bestraft, nur funktionieren zu wollen. Das gefällt mir an Haydn.

Seine innersten Nöte kommen ganz unverstellt in Briefen an persönliche Freunde und Freundinnen zum Ausdruck. Ganz besonders in den berührenden Zuschriften an die ihm seelenverwandte Marianne von Genzinger, in denen er ihr versicherte, wie sehr er in ihrer aufrichtigen Freundschaft Trost fände. Haydn war kein kalter Mensch, der alle Widersprüche des Lebens dank seines Erfolgs im Griff hatte. Er war nie gleichgültig, und sein Humor war sicherlich eine gute Strategie, wenn man gute Miene zum bösen Spiel machen muss. Die Zeiten des Komponisten als Berufsstand sind wohl vorbei. Dies ist kein Jammern, eher Ausdruck des Muts, sich einer ­Situation zu stellen und die Probleme im eigenen Berufsleben nicht zu verdrängen. Das langwierige Handwerk des Komponierens (Haydn nannte es sogar eine Wissenschaft) taugt nicht mehr zur Repräsentation für mächtige Geldgeber oder staatsvertretende Intendanten (Mäzene gibt es für diese Musik ­sowieso nicht mehr – Betty Freeman, mit ihrer echten Liebe zur zeitgenössischen Musik, war wohl die letzte), die mit Gegenwartskompositionen wenig anfangen können, weil sie sich mit ihnen nicht beschäftigen, aber leider oft über sie urteilen.

Vieles ist auch eine Frage der Ausbildung. Im Herbst vergangenen Jahres, als ich im Versuch, „endlich etwas Sinnvolles“ zu lernen, um nicht mehr von der Willkür, dem Schweigen und der Hinhaltetaktik der Auftraggeber abhängig zu sein, ein Propädeutikum beginnen wollte, wählte ich eines der unterschiedlichen Studienangebote aus und setzte mich in die Einführungsvorlesung. Mir blieb die Sprache weg, wie die Leiterin jenes Instituts sprach. Nicht nur die Präpotenz und der Zynismus der Sprache (wie gern hätte ich ein Aufnahmegerät dabei gehabt), auch die herablassende Art, mit der Vielfalt der im Raum sitzenden Menschen umzugehen, war ­erschreckend und ernüchternd. Jede auch nur im Ansatz kritische Frage wurde als Affront begriffen. Es wäre in den USA, wo ich 2007 an der Brown University unterrichtet habe, unvorstellbar, sich so zu benehmen gegenüber Gebühren bezahlenden Studenten. „Hundert Prozent Anwesenheitspflicht – oder wiederholen und neu bezahlen. So lernen Sie Ihr Pflichtgefühl dem anzustrebenden Beruf gegenüber.“ Ich war fassungslos. Ich saß 2008 in Wien in einer Gehorsamkeits-Stätte! Absitzen heißt Qualität? Wem dient das? Sicher nicht den Studenten. Und das wusste Haydn. Er kannte die Musiktheorie, auch seine zeitgenössische, aber er stand ihr mit selbstbewusster Distanz gegenüber.

Das finde ich bewundernswert: etwas zu lernen, kennen zu lernen, zu erfahren, nicht bloß nachzupredigen. Er hatte sich immer wieder selbst davon überzeugt, „dass man bei der ängstlichsten Befolgung der Regeln öfters die geschmack- und empfindungslosesten Arbeiten liefere, dass bloße Willkür vieles zu Regeln gestempelt habe …“. Und er war gegen zu streng verfasste Theoriewerke („zu drückend, zu viele Fesseln für einen freien Geist“). Durch gehorsames „Nachbeten der Autorität“ kann man nicht zu eigenem Denken gelangen, das wusste er. Daher benutzte er bei der Ausbildung seiner Schüler keine Manipulations- und Erniedrigungsformeln.

Die Kompositionen, die Haydn rund um sein 40. Lebensjahr schrieb, gelten als sehr kontrovers, häufig ist gar von einer Krise die Rede. Als er mit 44 eine Art Autobiografie veröffentlichte und so gut wie alle Formen in allen Genres ­bedient hatte, befand er sich zwar wohl an einem Wendepunkt, aber ich glaube, dass dies eine Zeit des unermüdlichen Experimentierens und Erforschens neuer musikalischer Ausdrucksformen war – höchst expressiv, leidenschaftlich und ­bevorzugt in Moll. Vielleicht war die Abschiedssinfonie von 1772, in der ein Instrument nach dem anderen verstummt und die Musiker ihren Platz verlassen sollen, wie heute behauptet wird (im Autograf steht nichts davon), gar kein Protest gegen den Fürsten, sondern die Geste eines Abschieds von sich selbst und dem bis dahin Komponierten. Haydn begann, besonders in den späten Symphonien, einen Stil zu entwickeln, der ­populär war, ohne dabei auch nur im Geringsten seinen Kunstanspruch aufzugeben. Einfachheit, Komplexität, Seriosität und Humor verlieren durch neue, kunstvolle kompositorische Techniken und Stilisierungen ihre Gegensätzlichkeit. Haydn hob die Trennung von ernst und heiter auf. Oft muss man lächeln, wenn man jene Werke hört, die er ab den achtziger Jahren komponierte. Dieser einsichtige, vielschichtige Komponist verbindet kindliche Naivität souverän mit gereiftem Können: Herz, Geist, Geschmack, Freiheit, Lebendigkeit und Originalität, Humor, Tiefe und Klarheit – was für eine wunderbare Mischung!

In Joseph Haydns widerspiegelndem Blick war alles aufgehoben. Doch was macht man mit einem, der in Leben und Werk seinen Kopf eigenständig benützte? Man enthauptet ihn. Anhänger des Schädelforschers Gall wollten Haydns musikalische Genialität untersuchen. Nach Präparation und Konservierung wurde der Kopf in einem Holzkästchen „auf einem Kissen von Seide mit Sammt drapiert“. Über das Ergebnis dieser phrenologischen Untersuchungen ist nichts bekannt. Der Schädel landete über Umwege 1895 in der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, wo er bis 1954 blieb. Ich stelle mir vor, wie viele Musiker und all die Menschen, die in den Räumlichkeiten zu tun hatten, an Haydns Schädel unbekümmert vorbeiliefen: der Kopf eines berühmten, freien Geistes als makabre Spur, um sich einen Eindruck davon verschaffen zu können, was Komponieren, das nur im Kopf stattfindet, bedeuten könnte.