Georg Hoffmann-Ostenhof

Krim-Krimi

Krim-Krimi

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Sie sehen hier entsetzliche, die Seele erschütternde Bilder, sehen den Krieg in seiner wirklichen Gestalt mit Blut, Qualen und Tod“: Dies schrieb der junge Leo Tolstoi 1855 in der ersten seiner drei „Sewastopoler Erzählungen“. Der Krimkrieg hatte die Welt erschütttert. Er gilt als erster der modernen Stellungskriege. Eine halbe Million Menschen fand in den drei Kriegsjahren den Tod. Russland hatte versucht, sein Gebiet auf Kosten des zerfallenden Osmanischen Reichs zu vergrößern. Eine Allianz von Frankreich und Großbritannien – mit Unterstützung von Österreich und Preußen – kam den Türken zu Hilfe und verhinderte die Expansion des russischen Reichs, das allein, ohne Verbündete, den Westarmeen schließlich unterlag. Legendär wurde die monatelang andauernde und verlustreiche Belagerung von Sewastopol, dem Heimathafen der russischen Schwarzmeerflotte.

Die Zarenherrschaft ist längst untergegangen, die Bolschewiken, welche die Zaren gestürzt und den Kommunismus errichtet hatten, sind auch schon Geschichte. Vor Sewastopol liegen freilich nach wie vor die Kriegsschiffe der russischen Schwarzmeerflotte. Nur: Sewastopol und die Krimhalbinsel gehören nicht mehr zu Russland, sondern sind ukrainisches Territorium. Immer wieder verkünden russische Politiker, allen voran Juri Luschkow, der mächtige Bürgermeister von Moskau: „Nie geben wir Sewastopol her.“ Russland hat den Hafen bis 2017 von Kiew gepachtet. Der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko will den Pachtvertrag nicht verlängern. Moskau ist zutiefst verärgert.

Droht ein neuer Krimkrieg? War der Waffengang in Georgien nur das kleine Vorspiel zu einem späteren, viel größeren Krieg, „in seiner wirklichen Gestalt mit Blut, Qualen und Tod“? Noch tut der Kreml die von westlichen Politikern an die Wand gemalte Perspektive eines Kriegs um die Krim als „kranke Fantasie“ ab. Doch ganz so verrückt ist die Angst vor einer Eskalation der Konflikte im Kaukasus und am Schwarzen Meer wiederum nicht. Die Voraussetzungen für einen neuen Krimkrieg sind jedenfalls im Übermaß gegeben. Zwar steht seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 völkerrechtlich außer Frage: Die Schwarzmeerhalbinsel ist ukrainisch. Die Legitimität dieser territorialen Regelung könnte dennoch schwächer nicht sein. Unter Kiewer Verwaltung befindet sich die Krim erst seit 1954. Der Sowjetpräsident Nikita Chruschtschow übergab sie damals der Ukraine. Das war aber eher eine symbolische Geste, gehörte die Ukraine doch zu der von Moskau aus regierten Sowjetunion. Nicht nur das: Die Mehrheit der Krimbevölkerung fühlt sich unter Kiewer Herrschaft nicht wohl. Kein Wunder: Nur zehn Prozent sprechen als Muttersprache Ukrainisch, ebenso viele Tartarisch. Acht von zehn Bewohnern der Krim sehen sich als Russen. Und der angrenzende Teil der Ukraine, in dem viele Russen leben, ist im Unterschied zum nationalistischen Westen des Landes prononciert russophil. Es bedarf keiner blühenden Fantasie, um sich Konfliktszenarien auszudenken, die zu dem Ausbruch offener und bewaffneter Feindseligkeiten führen. Natürlich steht ein großer Clash nicht unmittelbar bevor. Aber in Zeiten wie diesen können sich die Dinge schneller entwickeln, als man sich vorstellt. Der Sieg im Georgienkrieg und die verwirrt-unentschiedene Antwort des Westens darauf gibt dem neuen Großmacht-Selbstbewusstsein der Moskowiter jedenfalls enormen Auftrieb.

Zur Entschärfung der Situation kann der Westen, Europa und Nordamerika, viel beitragen. Besonnenheit lautet die Devise der Stunde. In dieser neuen Phase der europäisch-russischen Beziehungen ist subtile, aber auch kühne Diplomatie gefordert, die gleichermaßen russisch-imperiale Ambitionen eindämmt und den realen Interessen und den historischen Sensibilitäten Moskaus Rechnung trägt. Zuallererst gilt es, das Projekt einer NATO-Mitgliedschaft Georgiens, vor allem auch der Ukraine, aufzugeben. Nicht nur bedeutete die Aufnahme der Ukraine in das westliche Militärbündnis Wasser auf die Mühlen des anwachsenden großrussischen Nationalismus und eine offene Herausforderung Moskaus, sondern dieser Schritt würde auch die Ukraine selbst spalten: Der Moskau-freundliche Osten des Lands ist vehement gegen eine NATO-Mitgliedschaft.

Jede Kalte-Kriegs-Rhetorik sollte von Seiten des Westens vermieden werden, auch wenn die russische Führung ihrerseits mit den alten Begriffen und Konzepten aus der Zeit der Ost-West-Konfrontation agieren mag. Ein Krieg der Worte kann bekanntlich eine Eigendynamik entfalten, die letztlich dann auch ganz real außer Kontrolle gerät.
Vielleicht ist es naiv, aber was spräche gegen einen großen Deal, der etwa folgendermaßen lautet: Die Ukraine verzichtet auf eine Integration in die NATO, dafür wird ein EU-Beitritt des Landes beschleunigt. In Verhandlungen wird die Krim an Russland abgetreten, dafür bekommt die Ukraine internationale Sicherheitsgarantien und verpflichtet Russland sich, die russischen Erdgas- und Erdöllieferungen nicht als politisches Druckmittel gegenüber Kiew einzusetzen. Gewiss würde eine derartige oder vergleichbare Entspannungspolitik gegenüber Moskau als „Appeasement“ und Kapitulation verteufelt werden. Aber sollte man nicht bedenken, dass bei aller Skrupellosigkeit von Putin, Medwedew und Co Russland den Westen in keiner Weise bedroht? Und höchste Priorität muss sein, einen langfristigen und stabilen Frieden in dieser gefährlichen Zwischenzone zwischen Europa und Russland zu sichern. Größere militärische Auseinandersetzungen in dieser Region könnten unabsehbare weltpolitische Folgen nach sich ziehen. Ein neuer Krimkrieg darf nicht ausbrechen.