"Konzerne sind Piraten und Plünderer"

Jean Ziegler: "Konzerne sind Piraten und Plünderer"

Interview. Jean Ziegler über sein neues Buch, seine Treffen mit Gaddafi und einen Irrtum von Karl Marx

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Interview: Rosemarie Schwaiger Fotos: Manfred Klimek

profil: In Ihren Buchverträgen steht neuerdings die Klausel, dass der Verlag für die Anwaltskosten aufkommen muss, wenn es Klagen gibt. Was glauben Sie, wie teuer wird Ihr jüngstes Werk für Bertelsmann?
Ziegler: Die Anwälte in Paris und Amerika haben mir fast ein Drittel des Buchs rausgestrichen. Also ist es nicht mehr so gefährlich. Und als Vizepräsident des beratenden Ausschusses für Menschenrechte genieße ich jetzt UNO-Immunität. Das ist eine solidere Sache als früher. Da reichte es noch, meine Immunität als Abgeordneter aufzuheben.

profil: Sie haben viele Prozesse verloren …
Ziegler: … und ich habe deshalb 6,6 Millionen Franken Schulden. Vor allem wegen meines Buchs „Die Schweiz wäscht weißer“. Die wollten mich fertigmachen.

profil: Hatten Sie schlecht recherchiert?
Ziegler: Nein, da ging es nicht um sachliche Fehler, sonst wären ja die Bücher konfisziert worden. Ich hatte neun Prozesse, das stimmt, und ich habe alle verloren. Aber es ging immer nur um Kreditschädigung, Ehrbeleidigung und solche Sachen.

profil: In Ihrem neuen Buch thematisieren Sie den Hunger. Sehr oft steht darin, dass alle fünf Sekunden ein Kind verhungert. Entschuldigen Sie die herzlose Frage, aber wie berechnet man so etwas?
Ziegler: Das ist eine Zahl der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UN, Anm.). Dafür gibt es Rechenmodelle, die ich auch darstelle. Es wird geschaut, wie viele Kalorien in einem Land zur Verfügung stehen und wie viele Menschen da leben. Für einen erwachsenen Menschen nimmt man einen Tagesbedarf von mindestens 2200 Kalorien an, für ein Baby 600 und so weiter. Dazu kommt noch der unsichtbare Hunger, wenn jemand zwar genug Kalorien hat, ihm aber wesentliche Nährstoffe und Mineralien fehlen.

profil: Ist das seriös?
Ziegler: Total.

profil: Die Schuld ­daran geben Sie dem Neoliberalismus, der Globalisierung, den Spekulanten. Warum blenden Sie alle anderen Gründe aus?
Ziegler: Die Haupttäter sind die Konzerne, und wir sind die Komplizen.

profil: Wer ist „wir“?
Ziegler: Wir Bürger, die nicht aufstehen und unsere Regierungen zwingen, die Konzerne zu kontrollieren. Es gibt zehn transkontinentale, unglaublich mächtige Gesellschaften wie Cargill, Archer Midland, Bunge oder Nes­tlé, die 85 Prozent des Nahrungsmittelhandels auf der Welt beherrschen. Die Konzerne funktionieren nur nach dem Prinzip der Profitmaximierung, das ist auch ganz normal. Wenn der Nestlé-Chef den Shareholder-Value nicht jedes Jahr steigert, ist er nach drei Monaten weg – ob er ein netter Mensch ist oder nicht. Der Herr Brabeck ist sogar eher nett, ein kultivierter Mensch, der sich Fragen stellt.

profil: Er gibt Ihnen sogar manchmal Recht.
Ziegler: Ja, hin und wieder aus Unachtsamkeit. Aber diese Konzerne haben eine Macht, wie sie nie ein König oder Kaiser hatte. Sie entgehen jeder sozialen Kontrolle und sind kalte Monster jenseits aller Gemeininteressen. Karl Marx dachte noch, dass der objektive Mangel den Menschen über Jahrhunderte begleiten würde. Aber der objektive Mangel ist überwunden. Wir könnten heute problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren, wir sind aber nur sieben Milliarden. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.

profil: Das ist einer der Punkte, bei denen Ihre Argumentation holpert. Dass wir zwölf Milliarden Menschen ernähren könnten, liegt ja an der Industrialisierung der Landwirtschaft. Gäbe es nur Kleinbauern, hätte Marx noch immer Recht.
Ziegler: Es stimmt, dass die Produktivität in vielen Entwicklungsländern sehr niedrig ist. Aber das liegt nicht daran, dass der Bauer in Mali weniger arbeitsam oder kompetent ist. Er hat nur keine selektierten Samen, keinen Dünger, keine Zugtiere und keine Bewässerung. Würde man die ärmsten Länder entschulden, dann hätten diese Länder die Möglichkeit, in die Landwirtschaft zu investieren. Stattdessen gingen letztes Jahr 41 Millionen Hektar Land in Afrika in den Besitz von Hedgefonds und multinationalen Konzernen über. Die Bauern, die dort lebten, wurden in die Slums der Städte vertrieben. Wissen Sie, dass in Norwegen Kartoffeln aus Saudi-Arabien verkauft werden? In Saudi-Arabien wachsen keine Kartoffeln – also wie ist das möglich? Ich sage Ihnen, wie das geht: Der saudische Scheich Alamudi hat in Südäthiopien 550.000 Hektar Nutzland gekauft. Da baut er jetzt Kartoffeln und Rosen an und exportiert sie dorthin, wo es Kaufkraft gibt.

profil: Es gibt noch andere Gründe für das Elend in der Dritten Welt: korrupte Politiker, Stammesfehden, Religionskriege, seltsame Bräuche. Sie hätten noch mehr Fans, wenn Sie das auch berücksichtigen würden. Warum verschweigen Sie das?
Ziegler: Das sind Sekundärphänomene. Im Ostkongo bezahlen die Konzerne eigene Milizen, beuten die Bodenschätze aus und exportieren sie. Joseph Kabila, der Staatspräsident, ist korrupt bis auf die Knochen, ein Idealklient der Zürcher Bahnhofstraße. Er ist ein fürchterlicher Kerl und begeht Verrat am Volk. Aber der Mann wird von westlichen Geheimdiensten im Präsidentschaftspalast gehalten, weil die Minenkonzerne ihn für ihre Geschäfte brauchen.

profil: Glauben Sie wirklich, dass in Afrika ohne den Einfluss westlicher Konzerne Harmonie und Wohlstand herrschen würden?
Ziegler: Nein. Ich sage nur, die Haupttäter, die Plünderer, die Piraten sind die Konzerne. Zuerst müssen wir diese Situation radikal ändern. Die Konzerne müssten von ihren Herkunftsländern gezwungen werden, Menschenrechte einzuhalten, Mindestlöhne zu zahlen, Kinderarbeit zu verhindern. Die Börsenspekulation mit Nahrungsmitteln und die Agrartreibstoffe müssen verboten werden. Was nachher passiert, ist erst die nächste Frage.

profil: Wenn man Ihnen zuhört, könnte man glauben, dass Armut und Hunger auf der Welt immer größer werden. Tatsache ist doch, dass die Situation besser wird. Laut den Vereinten Nationen war 1990 jeder fünfte Bewohner eines Entwicklungslandes unterernährt, jetzt ist es nur noch jeder siebente. Erst vor ein paar Tagen gab Unicef bekannt, dass die Kindersterblichkeit in den vergangenen 20 Jahren beinahe halbiert wurde.
Ziegler: In Relation zum Bevölkerungswachstum stimmt das. Die Bevölkerung wächst schneller als die Opferzahl. Aber die absolute Zahl der Opfer steigt. Jeder Mensch, der an Hunger stirbt, ist eine singuläre Katastrophe.

profil: Absolut. Die Frage ist nur, ob der Globalisierungskritiker Jean Ziegler zugeben kann, dass die Globalisierung auch ein paar positive Effekte hat.
Ziegler: Ja, er ist ja kein verbohrter Linker. Natürlich ist es gut, dass die Transportsysteme und die Information sich universalisiert haben. Das sind Errungenschaften. Aber ich finde es trotzdem blödsinnig, für 18,2 Milliarden Dollar eine Sonde auf den Mars zu schicken. Mit einem Viertel dieses Aufwands könnte man den Hunger aus der Welt schaffen.

profil: Jetzt hören Sie sich an wie die Mutter, die ihrem Kind sagt, dass es aufessen soll, weil in Indien die Menschen hungern. Abgesehen davon: Wollen Sie nicht wissen, ob es Leben im All gibt?
Ziegler: Nein, es sollte endlich Leben für alle auf diesem Planeten geben.

profil: Ist für Sie jeder Konzern böse, oder gibt es auch gute?
Ziegler: Jean-Paul Sartre hat gesagt: „Um die Menschen zu lieben, muss man sehr stark hassen, was sie unterdrückt.“ Diese kalten Ungeheuer sind schädlich für die Menschheit. Es gibt aber eine unglaubliche Hoffnung, nämlich die Zivilgesellschaft. Che Guevara hat gesagt: „Auch die stärksten Mauern fallen durch Risse.“ Und Karl Marx sagte: „Der Revolutionär muss das Gras wachsen hören.“

profil: Sie sind ein Zitatenlexikon.
Ziegler: Ich denke mir, es ist schwieriger, Marx und Che anzugreifen als mich.

profil: Was erwarten Sie von der Zivilgesellschaft? Was sollen die Bürger tun?
Ziegler: Das Gemeininteresse verlangt, den frei wütenden Markt zu normieren und dieses Raubgesindel zu bremsen. Immer mehr Menschen sagen, so kann es nicht weitergehen. Im Mai veröffentlichte Unicef den Spanien-Report, und darin steht, dass 2,2 Millionen Kinder unter zehn Jahren in Spanien schwer unterernährt sind. Für Großbritannien gibt es ähnliche Zahlen. 31 Millionen Menschen in der EU sind so genannte Sockelarbeitslose. Jetzt kommt der Dschungel nach Europa. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen das einfach so hinnehmen. Und auf einmal wird der Aufstand da sein. Aber welche neue, gerechtere Gesellschaft aus den Ruinen entsteht, weiß niemand.

profil: Im Vorjahr gab es Aufregung um Sie, weil Sie bei den Salzburger Festspielen als Redner zuerst ein- und dann wieder ausgeladen worden waren. Der Grund waren Ihre Kontakte zu Muammar al-Gaddafi. Wie oft haben Sie ihn getroffen?
Ziegler: Gaddafi war nur der Vorwand für die UBS, die Credit Suisse, Nestlé und andere. Die Frau Burgstaller, übrigens eine sehr kluge Frau, wurde unglaublichem Druck ausgesetzt. Alle Wegelagerer der Zürcher Bahnhofstraße kaufen die Karten, damit ihre Kunden bei den Festspielen sitzen können. Für die war es eine Horrorvorstellung, dass ihre Klienten, also die Steuerhinterzieher aus Berlin, München und Wien, diesem Ziegler eine halbe Stunde lang zuhören müssen und nicht wegrennen können. Das verstehe ich.

profil: Unabhängig von den Festspielen: Wie nahe standen Sie Gaddafi?
Ziegler: Überhaupt nicht nahe. Er war zuletzt ein blutrünstiger Halunke.

profil: Das sagen Sie aber noch nicht sehr lange.
Ziegler: Meine Bücher wurden ins Arabische übersetzt. Gaddafi hatte immer ­theoretische Ansprüche und lud periodisch Intellektuelle ein. Also war ich auch ein paar Mal dort. Für einen Soziologen war das ziemlich faszinierend, solange er noch bei Sinnen war.

profil: Haben Sie es genossen, vom großen Diktator hofiert zu werden?
Ziegler: Ach was, das ist ja meine Arbeit, mir so etwas anzuhören. Es war interessant. Man kann vielleicht einwenden, ich hätte früher sagen sollen: „Mit dir rede ich nicht mehr.“

profil: Haben Sie einen Hang zu finsteren Gestalten? Den Schweizer Rechtspopulisten Christoph Blocher haben Sie schon in mehreren Interviews gelobt. Auch Fidel Castro gefällt Ihnen immer noch.
Ziegler: Castro zu hundert Prozent, das stimmt. In Kuba essen die Kinder, gehen zur Schule, werden gepflegt, Punkt. Auf diesem Kontinent ist das schon sehr viel. In Kuba wird nicht gefoltert, niemand verschwindet …

profil: … da gibt es auch andere Informationen.
Ziegler: Die Lebenserwartung ist in Kuba gleich hoch wie in der Schweiz. Kuba verteidige ich aus Überzeugung. Der Prozess der Demokratisierung ist im Gang.

profil: Was gefällt Ihnen an Blocher?
Ziegler: Blocher hat das betonharte bürgerliche Lager in der Schweiz endlich gespalten und geschwächt. Das ist sein großes Verdienst. Ich habe zu ihm eine gute persönliche Beziehung. Aber er hat natürlich Höhlenbewohneransichten über die Schweiz und Europa.

profil: Die Schweiz war schon immer Ihr liebstes Objekt der Kritik. Von Ihnen stammt zum Beispiel der Satz, die Schweiz sei „ein von Banken und Banditen beherrschtes Disneyland“. Warum wohnen Sie trotzdem noch dort?
Ziegler: Weil ich die Menschen, die unglaubliche Landschaft und die Vielfalt der Kultur liebe. Ich rede von der Banken­mafia. Die hat die Schweiz kolonialisiert.

profil: Die Schweiz hat das Bankgeheimnis gelockert und diverse Abkommen unterzeichnet. Stimmt Sie das nicht milder?
Ziegler: Überhaupt nicht. Die Steuerplünderung ist ein Problem, natürlich. Aber in Österreich oder in Deutschland stirbt keiner deshalb. Etwas anderes ist es mit den Diktatorengeldern aus der Dritten Welt. In Kinshasa gibt es keine Antibiotika, weil Kabila und zuvor Mobutu das Geld mithilfe der Schweizer Bankiers nach Zürich, Genf oder Lugano transferiert haben. Und das hört nicht auf. Es gibt keinen kongolesischen Staat, der auf ein Steuerabkommen drängt. Dieser Blutgeldtransfer geht weiter.

profil: Die Banken tun letztlich nur, was die Schweizer Politik ihnen erlaubt.
Ziegler: Das stimmt. Im Schweizer Parlament gibt es keine Unvereinbarkeit. Die Abgeordneten werden in die Verwaltungsräte der Banken und Konzerne kooptiert. In der Schweiz gibt es nur Fiskal- und Bankengesetze, die vorher in der Bahnhofstraße abgezeichnet wurden.

profil: Schauen Sie manchmal bei Ihren Gegnern vorbei?
Ziegler: In der Bahnhofstraße? Da geh ich nicht hin. Da kostet ein Kaffee sieben Franken.

Fotos: Manfred Klimek