EU-Krise: War Games mit Beistandspflicht

Krisen: War Games

Irak: Türkei steht vor einem Krieg mit der PKK

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„Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats müssen die anderen Mitgliedsstaaten … alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung leisten.“
EU-Reformvertrag, Artikel 27, Absatz 7

Wenn der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan Montag dieser Woche in Washington mit US-Präsident George W. Bush zusammentrifft, beherrscht ein Thema die Unterredungen: Krieg. Mehr als 100.000 türkische Soldaten warten an der Grenze zum Nordirak auf den Marschbefehl, um nötigenfalls die Stellungen der kurdischen PKK-Rebellen im Nachbarland anzugreifen.

Nachdem US-Außenministerin Condoleezza Rice vergangenen Freitag zu Verhandlungen in die Türkei gereist war, gilt das Treffen zwischen Erdogan und Bush als letzte Chance, einen neuen Krieg in der Region zu verhindern – und damit eine weitere Eskalation im Irak, wo die US-Truppen schon ohne eine türkische Invasion alle Hände voll zu tun haben.

Doch der Konflikt zwischen der Türkei und der verbotenen PKK (Kurdische Arbeiterpartei) befindet sich bereits in einem so fortgeschrittenen Stadium, dass es schwierig scheint, ihn noch unter Kontrolle zu bringen. Bei Gefechten in der vergangenen Woche griff die türkische Armee, unterstützt von Kampfhubschraubern und Artillerie, kurdische Rebellen an, die sich auf türkischem Staatsgebiet verschanzt hatten. Dabei wurden sowohl Kurden als auch türkische Soldaten getötet.

Kampf. All das sind aber nur Scharmützel im Vergleich zu den Dimensionen des Konflikts, wenn tatsächlich 100.000 türkische Soldaten die etwa 3000 kurdischen Kämpfer im unwegsamen Gelände des Bergmassivs Kandil jagen sollten.

Die Türkei will mit einem groß angelegten Militäreinsatz die PKK-Truppen zerschlagen, die Anschläge auf türkische Ziele verüben, seit ein Waffenstillstand im Jahr 2004 für beendet erklärt wurde. Der von den Kurden quasi autonom verwaltete Nordirak dient den Rebellen, die für die kurdischen Gebiete in der Türkei größere Autonomie fordern, als sicheres Rückzugsgebiet. Die Versprechen der kurdischen Autonomieverwaltung im Nordirak und der irakischen Regierung in Bagdad, der PKK in Zukunft das Leben schwerer machen zu wollen, könnten zu spät kommen. „Ich möchte noch einmal erklären, dass der Kampf mit Entschlossenheit fortgesetzt wird, den wir gegen verräterische, separatistische Terroristenangriffe führen, die unsere Einheit und verfassungsmäßige Ordnung zerstören wollen“, warnte Ministerpräsident Tayyip Erdogan vorvergangene Woche in seiner Rede am Vorabend des 84. Jahrestags der Gründung der türkischen Republik.

Die Türkei will diesen Krieg führen.

Europa blickt sorgenvoll an den Bosporus. EU-Chefdiplomat Javier Solana warnte kürzlich „unsere türkischen Freunde“ vor einer Invasion. Noch akuter als die Befürchtung, dass die Freunde die Warnungen ignorieren könnten, ist die Angst, dass mit einer Aufnahme der Türkei in die EU der türkisch-kurdische Konflikt zu einer europäischen Angelegenheit würde.

Denn ein EU-Mitglied, das in eine militärische Auseinandersetzung verwickelt wird, steht gemäß dem neuen Reformvertrag nicht allein da – die anderen Mitglieder sind zur Hilfe angehalten.

Was also, wenn die Türkei bereits bei der EU und der EU-Reformvertrag in Kraft wäre?

Dann wäre folgendes Szenario denkbar: Die Regierung in Ankara wendet sich an den EU-Ratspräsidenten oder an den „Hohen Repräsentanten für Außen- und Sicherheitspolitik“ (also den De-facto-Außenminister der Union). Sie argumentiert, dass die Situation an der Grenze zum Nordirak alle Bedingungen eines Beistandsfalles gemäß dem EU-Reformvertrag erfüllt.

Ankara kann dabei auf zwei Bestimmungen verweisen. Einerseits auf Artikel 27, Absatz 7: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats müssen die anderen Mitgliedsstaaten nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen (Recht auf Selbstverteidigung, Anm.) alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung leisten.“

Zudem auf Artikel 188: „Ist ein Mitgliedsstaat von einem Terroranschlag (…) betroffen, so leisten die anderen Mitgliedsstaaten ihm auf Ersuchen seiner politischen Organe Unterstützung.“

Auf die PKK könnten beide Bestimmungen angewandt werden: Sie ist nach Ansicht der EU eine Terrororganisation, die über mehrere tausend straff organisierte Kämpfer verfügt – zwar keine Armee, aber durchaus eine militärische Bedrohung, die mit jener durch Milizen wie der libanesischen Hisbollah verglichen werden kann. Die Türkei berichtet, dass sie auf ihrem eigenen Territorium laufend von der PKK angegriffen werde, das einzige Mittel dagegen ein Einmarsch im Nordirak sei, wo die Kurden-Guerilla ihre Stützpunkte unterhält – und ersucht die EU um Hilfe bei einer entsprechenden Militäroperation.

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Zurück in die Realität des Jahres 2007: Ein Ersuchen wie das gerade skizzierte würde durchaus dem europäischen Klima entsprechen. Schließlich ist die EU seit Langem bemüht, die Beistandspflicht als Errungenschaft der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu verankern.

Das Prinzip der gegenseitigen Solidarität der EU-Mitglieder sollte „auch eine militärische Komponente beinhalten, bis hin zur gegenseitigen Beistandspflicht“, meinte etwa im Jahr 2003 der damalige Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP). Sein Parteifreund Günther Platter, zu dieser Zeit Verteidigungsminister, forderte, „dass die Beistandsgarantie kommen muss“, und versprach sich davon ein „höchstmögliches Maß an Sicherheit für Österreich und für Europa“. In ihrer Amtszeit als Außenministerin wollte dabei auch Benita Ferrero-Waldner, inzwischen EU-Außenkommissarin, nicht zurückstehen: „Für mich ist in Europa ganz klar die Solidarität wichtig“, erklärte sie 2004.

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Also weiter im Gedankenspiel: Nachdem die Türkei als Mitglied der EU einen Hilferuf an Brüssel abgesetzt hat, befasst sich das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK), das in Brüssel residiert, mit dem Fall. Dort sind die Botschafter aller 27 EU-Mitgliedsstaaten vertreten. Sie prüfen, ob sich daraus die Notwendigkeit einer militärischen Krisenintervention ergibt.

Wenn sie zu dem Ergebnis kommen, dass dies der Fall ist, werden weitere Institutionen eingeschaltet: etwa das EU-Militärkomitee, in dem Vertreter der Generalstabschefs aller Mitgliedsländer sitzen. Und der EU-Militärstab, der sich aus 200 Offizieren zusammensetzt, die den „Hohen Repräsentanten“ mit militärischer Expertise versorgen.

Der Stab beginnt damit, die Mission zu planen: Aus Brüssel kommen Anfragen an die Verteidigungsministerien der Mitgliedsstaaten, also auch an Österreich. Möglicherweise wird auch erwogen, eine so genannte „Battle Group“ in Marsch zu setzen – das sind schnell mobilisierbare Kampftruppen mit jeweils 1500 Mann, die von verschiedenen EU-Staaten beschickt werden und binnen 14 Tagen an jedem Einsatzort sein können. Österreich will sich künftig an zwei dieser Einheiten beteiligen.

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Kehren wir wieder in die Wirklichkeit des Jahres 2007 zurück: „Ich kann und will keine Spekulationen im Zusammenhang mit aktuellen Krisen anstellen“, sagt Generalmajor Johann Pucher, Direktor für Sicherheitspolitik im österreichischen Verteidigungsministerium. „Prinzipiell gilt aber Folgendes: Die EU ist kein militärisches Interventionsbündnis. Es geht ihr um Krisenbewältigung, wie sie in den Petersberg-Aufgaben festgeschrieben sind – also um Konfliktprävention, Konfliktmanagement und Konfliktnachsorge.“

Sollte sich die Notwendigkeit einer militärischen Operation abzeichnen, „wird das in den entsprechenden politischen und militärischen Gremien beurteilt“, so Pucher: „Dann können Maßnahmen ziviler oder militärischer Natur beschlossen werden. Jeder Staat hat die Möglichkeit, nicht mitzumachen, weil es keinen Automatismus zur Beitragsgestellung gibt.“

Alle Militäreinsätze der EU seien ausdrücklich an die Übereinstimmung mit den Grundsätzen der UN-Charta gebunden: „Wir gehen davon aus, dass die EU im Regelfall sogar darüber hinausgehend auf der Basis eines UN-Mandats agiert.“ Damit wäre auch die Neutralität Österreichs kein Hindernis, sich an einer Militäraktion zu beteiligen.

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Fortsetzung des Gedankenspiels: Während die Europäische Union die Bedrohung der Türkei durch die PKK vor den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bringt, schließt der EU-Militärstab seine Planungen für eine bewaffnete Intervention ab. Dann wird das Vorhaben dem Außenministerrat zur Abstimmung vorgelegt.

Ein gemeinsamer Einsatz – die so genannte „joint action“ – muss von den EU-Mitgliedern einstimmig beschlossen werden. Was jedoch nicht heißt, dass alle mitstimmen müssen: Am Votum beteiligen sich also nur jene, die das militärische Vorgehen mittragen wollen. Wer nicht explizit dagegenstimmt, wird einfach nicht gezählt – muss sich aber trotzdem an den Kosten der Aktion beteiligen.

Einzelne Staaten können sich auch „konstruktiv enthalten“: Das heißt, sie erklären, dass sie aus Gründen der nationalen Sicherheitspolitik in keiner Weise an der betreffenden Aktion teilnehmen – was in der Realität schwierig sein wird, weil damit das geschlossene Auftreten der EU konterkariert würde.

Je länger die Entscheidungsfindung dauert und je öfter die PKK unterdessen Anschläge verübt, desto nachdrücklicher drängt die Türkei darauf, endlich tätig zu werden. Auch auf Österreich wird Druck ausgeübt – nicht nur von der Türkei, möglicherweise auch von anderen EU-Mitgliedern, die ein militärisches Vorgehen gutheißen: Jeder müsse seinen Beitrag leisten, signalisieren Militärattachés der Befürworter einer harten Linie ihrem Visavis aus Österreich.

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„Eine hypothetische Frage hinsichtlich des Türkei-Beitritts ist wohl derzeit bei Weitem zu früh“, kontert Wolfgang Schüssel, inzwischen Klobobmann der ÖVP im Parlament, gegenüber profil auf das vorliegende Szenario. „Zumal wir auch keine Vollmitgliedschaft der Türkei, sondern eine andere Form der vertraglichen Partnerschaft der Türkei mit dem Europäischen Wirtschaftsraum präferieren.“

Auch Generalmajor Pucher relativiert: „Bei militärischen Auseinandersetzungen, die ein EU-Mitglied betreffen – ein aus derzeitiger Sicht irreales Szenario –, besteht für Österreich keine automatische Beistandsverpflichtung. Rechtlich kann uns niemand einen Strick daraus drehen, wenn wir uns unter Hinweis auf den besonderen Charakter unserer Verfassungslage, die Neutralität, an einer Militäraktion nicht beteiligen würden.“ Einen „gewissen Solidaritätsdruck“ will aber auch er nicht ausschließen, wobei: „Man darf Solidarität nicht auf das Militär reduzieren. Solidarität kann auch mit anderen Mitteln geübt werden.“

In der Praxis ist die Beistandspflicht mangels Anlassfall noch nicht erprobt.

Die Reaktionen der EU-Spitzen auf die Frage nach der Denkmöglichkeit eines Beistands in einem Fall wie jenem der kurdischen Terrorattacken auf die Türkei könnten jedoch ausweichender nicht sein – so als wäre die Türkei kein Beitrittskandidat und die PKK nicht auf der Liste der Terrororganisationen. „Keine Spekulationen“, lässt Erweiterungskommissar Olli Rehn ausrichten. Vor dem EU-Parlament hatte der Finne eben noch bekräftigt, dass die Türkei „von grenzüberschreitenden Terroranschlägen der PKK“ betroffen sei, einer Organisation, die „auf der EU-Liste der Terrororganisationen“ stehe.

Klubobmann Schüssel, ein Verfechter der Beistandspflicht, erklärt, auf den Modellfall Türkei angesprochen, dass sich die Verpflichtung zur Solidarität bei einem Terrorangriff „keineswegs vorrangig auf militärische Assistenz“ beziehe, sondern vor allem „politische Solidarität und eine Verpflichtung auch zur materiellen Hilfeleistung im Fall von Katastrophen“ sei.

Es zeigt sich deutlich, dass sich hinter dem pompösen Begriff Beistandspflicht nicht viel mehr verbirgt als der unerfüllte Wunsch nach Einigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Voll Pathos wollte etwa Frankreich nach den Terroranschlägen von London im Juli 2005 „auf Basis einer feierlichen Erklärung der Staats- und Regierungschefs“ die Beistandspflicht ausrufen – denn symbolischer Beistand minimiert das Risiko und maximiert die Emotion.

Hinter vorgehaltener Hand äußern EU-Beamte die Hoffnung, dass die Türkei ohnehin nicht Mitglied wird, solange der Konflikt mit den Kurden nicht gelöst ist. Außerdem würde die Türkei in erster Linie den Beistand der NATO einfordern, der sie seit 1952 angehört.

Also Entwarnung? Voraussichtlich wird der Konflikt zwischen Türkei und PKK die EU wohl nie erreichen. Dennoch spielt das Szenario eine reale politische Rolle, und zwar als abschreckendes Beispiel: Der deutsche EU-Abgeordnete Elmar Brok (CDU), Ex-Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses, hebt warnend den Zeigefinger: „Das alles zeigt: Wir wollen nicht in Konflikte hineingezogen werden. Wir können kein Land aufnehmen, das unsichere Grenzen hat. Da müssten wir ja wahnsinnig sein.“

Von Otmar Lahodynsky, Martin Staudinger und Robert Treichler