Kulturpolitik: Losing My Religion

Nach Bushs Triumph herrscht nun Schockstarre

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Irgendwann im Jahr 1969 waren sie plötzlich der letzte Schrei: die gediegenen Steh-Partys in New Yorker Edelapartments, bei denen Unterstützungsgelder für die militanten Streetfighter von den Black Panthers gesammelt wurden. Kaum hatten die Gastgeber augenzwinkernd gewarnt, solch subversive Gaben seien steuerlich nicht absetzbar, wurden die Scheckhefte gezückt. Einer derartigen Zusammenkunft im Hause Leonard Bernsteins setzte der Autor Tom Wolfe einst ein bissiges literarisches Denkmal. Titel des Reports: „Radical Chic“.

Seither ist der Begriff nicht wegzudenken aus dem Fundus polemischer Sarkasmen. Wird er in die Runde geworfen, dann ist meist von Society-Linken, Kunst-Celebrities oder erlebnishungrigen Mittelstandsjugendlichen die Rede, die sich ein wenig Thrill ins Haus holen wollen, von heroischen, aber leeren Gesten, die zu nichts verpflichten.

Große Koalition. Zuletzt war „Radical Chic“ neuerlich die Wendung der Saison. Spätestens seit dem Irak-Krieg war Dagegensein wieder Pop, Bush-Hate ganz hip. Eine regelrechte Welle schwoll da an: Michael Moore wurde als Dissidenten-Entertainer zu einer globalen Berühmtheit, Popsternchen wie Sheryl Crow stolzierten mit „War is not the answer“-T-Shirts über die Bühne, Philip Roth schrieb mit „The Plot Against America“ einen episch-allegorischen Roman über einen amerikanischen Totalitarismus, den Interpreten auf die gegenwärtige Situation münzten – und in den letzten Wochen machte eine ganz große Koalition Wahlwerbung für John F. Kerry, oder besser: gegen George W. Bush. Bruce Springsteen, Camille Paglia, P. Diddy, R.E.M., Pearl Jam, die Dixie Chicks und Beastie Boys – der Bogen derer, die Kerry unterstützten, reichte vom Marktwirtschaftler-Zentralorgan bis zum Unterklassen-Rap-Heroen: „Economist“ und Eminem traut vereint, wer hätte das gedacht. Hier die versammelten Kulturen, Subkulturen und Minderheiten – da der bigott-biedere Mainstream von White America. Ein Kulturkampf, ein Showdown.

Seit dem 3. November herrscht im pop-aktivistischen Lager jedoch, wen wundert’s, Schockstarre. Auf Michael Moores Wahlkampf-Homepage: drei Tage lang nichts als ein entrückt-unaktueller Aufruf vom Dienstagnachmittag, sich noch vor Schließung der Wahllokale in die langen Schlangen einzureihen. „Diese Wahl zeigt den dramatischen Zusammenbruch der Macht der Kulturelite“, grämt sich Charles Randolph, Drehbuchautor von „The Life of David Gale“. Jim Hoberman, dem Filmkritiker der New Yorker „Village Voice“, verschlägt der „schreckliche Sieg von Einschüchterung und Intoleranz“ nahezu die Sprache. Dem Schriftsteller Stewart O’Nan entfährt bloß: „Was für ein beschissener Start in den Tag.“ Poptheoretiker Greil Marcus fühlt sich „wirklich nicht in der Stimmung“, sich auch nur einen Satz über das Wahlergebnis abzuringen, während Manohla Dargis, Kritikerin bei der „New York Times“, gerade sechs Worte durch den Kopf flirren: „Extrem niedergeschlagen, extrem traurig, extrem zornig.“ Und Autor Paul Auster fühlt sich, „als wäre mein Land gestorben“.

Kent Jones, renommierter US-Filmkritiker und Mitarbeiter des Regisseurs Martin Scorsese, konstatiert deprimiert, Amerikas Rechte wisse eben, was sie wolle, und spreche demnach eine klare Sprache, während das liberale Lager nur „in negativer Hinsicht vereinigt war – im Wunsch, Bush zu schlagen“. Polit-DJ Moby wünscht sich immerhin tapfer, dass die Demokraten im Kongress „den extremeren Tendenzen des erstarkten rechten Flügels vernünftige Einschränkungen auferlegen“. Dass ihnen dies, zerzaust wie sie gerade wurden, gelingen wird, glaubt er wahrscheinlich nicht einmal selbst.

Alles sinnlos? Schon merken berufsmäßige Zyniker an, es habe sich nur ein weiteres Mal gezeigt, dass der, der die Stimmen der Leute wolle, sich die Kreativen und Geistesprinzen besser vom Halse halte. Und wer weniger zum Zynismus neigt, fragt: Haben die Gigs, Aufrufe und Polit-Videoclips denn alle nichts gebracht?

Die Frage zumindest lässt sich noch eher leicht abhaken. Zwar ist es schwer zu messen, doch dass der Aktivismus völlig sinnlos war, ist eher unwahrscheinlich. Tatsächlich gelang es in diesem Wahlkampf, das liberale Amerika zu mobilisieren wie niemals zuvor. Mit seinen knapp 55,6 Millionen Stimmen hätte John F. Kerry jede Präsidentenwahl in der bisherigen amerikanischen Geschichte gewonnen. Selbst Ronald Reagan erhielt bei seinem legendären Erdrutschsieg 1984 eine halbe Million Stimmen weniger. Bill Clinton wählten nie mehr als 47,4 Millionen Amerikaner. Nur schafften es Bush und seine Kamarilla in der aufgeheizten, polarisierten Atmosphäre eben, ihr Potenzial noch einen Dreh besser zu aktivieren. Am Ende konnte Bush mehr als 59 Millionen Stimmen auf sich vereinen.

Zwar wird kein Rockstar einen Bush-Fan zum Kerry-Wählen konvertiert haben, aber in einem Wahlkampf zählt auch die Mobilisierung des eigenen Lagers. Deshalb gab es bei Rockkonzerten zuletzt auch immer Stände, bei denen man sich für die Wahl registrieren konnte, die Einnahmen aus der „Vote for Change“-Tour von Springsteen & Co gingen an eine Initiative, deren Arbeit genau darin bestand, die Leute zu den Urnen zu karren. Die Polit-Combo Sparta setzte sogar ein Konzert für den Wahltag an und verkündete: Wer seine Wahlbestätigung vorzeigt, kommt gratis rein. Springsteen & Co waren keineswegs erfolglos, schätzt etwa der in Chicago lebende Autor Andrew Patner, „sie haben jüngere Wähler in Schwung gebracht und ihren Anteil an der Rekordwahlbeteiligung“ – nur gelte das auch für die Country-Rocker und Christ-Popper der Gegenseite.

Die Popaktivitäten waren ohnehin nur der sichtbarere Teil vielfältiger Basisinitiativen, die zuletzt beträchtlich angeschwollen waren und Anerkennung aus dem liberalen Mainstream erfuhren. Move On, einer dieser Gruppen, spendete etwa der Milliardär George Soros einen Koffer voll Geld.

Amerika ist nach diesen Wahlen vielleicht noch mehr, was es schon vor den Wahlen war: ein gespaltenes Land. Nicht Sachfragen haben entschieden, sondern moralische Fragen, Lebensstile, Habitus und Glaubenshaltungen. Insofern ist die Politisierung der Kultureliten regelrecht logisch – ist sie ja nur die Kehrseite der Kulturalisierung des Politischen. Zwei Kulturen stehen einander gegenüber, nur dass die eine Seite nicht von Kultur spricht, wie Hoberman sarkastisch anmerkt: „Die haben Religion.“

So formulierte denn auch David Corn, einer der prominentesten Vertreter der seltsamen neuen Sorte von Bush-Bash-Entertainern vom Schlage Moores, nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte: „Es lebe die große Spaltung Amerikas.“

Schon pochen die evangelikalen Fundamentalisten darauf, sie hätten Bush den Wahlsieg gesichert. Bis zu vier Millionen Stimmen mehr als noch im Jahr 2000 hat Bush aus dem Lager der „Wiedergeborenen“, der „Born Again Christians“, erhalten. Die Truppen Gottes erwarten dafür eine Gegenleistung. Die Kulturkämpfe werden sich wohl eher noch verschärfen.

Dabei hat der neue Aufschwung des Politkünstlertums nicht wenige Beobachter erstaunt und leicht ratlos zurückgelassen. War solcher Aktivismus nicht final aus der Mode gekommen, jedes Weltenretterpathos als tödlich uncool verschrien? Wie kommt’s dann aber, dass plötzlich Antikriegspathos zum Dernier Cri der Fashion-Szene wird, dass Designer globalisierungskritische Wäsche entwerfen oder etwas schlüpfrige Protest-Damenslips (Aufschrift: „The only bush I trust is my own“)?

Von den Alt-HipHoppern wie Public Enemy („Son of a bush“) oder den Beastie Boys („How many people must be killed? For oil families pockets to get filled“) – kaum jemand wollte den Zug an sich vorbeifahren lassen. Zuletzt legte der Rapper Marshall Mathers alias Eminem, heute wohl der global bedeutendste Popstar im erwerbsfähigen Alter, mit „Mosh“ den direktesten Politsong seit Jahren vor. Das Video kulminierte in dem Insert „Vote … 2nd November 2004“ und dem Aufruf, „die Massenvernichtungswaffe, die wir unseren Präsidenten nennen“, zu entschärfen. Dumm nur, dass der 32-jährige Unterklassen-Hero, der sich abwechselnd als White Trash und als White Negro bezeichnet und diesmal selbst das erste Mal zur Wahl ging, das Stück erst herausbrachte, als schon alle Stichdaten für die Wählerregistrierung verstrichen waren.

Peace ist Pop, und Protest ist wieder hip. Gewiss ist da manchmal viel Pose dabei, auch ein Schuss Marketing in eigener Sache sowie „Nostalgie an eine Zeit, als Rock noch eine relevante Größe in der Gesellschaft war“, wie das der in New York lebende deutsche Kulturjournalist Andrian Kreye beschreibt. Zweifellos hat jede Form des Popaktivismus längst ihre Unschuld verloren. Dass man mit kreischenden Gitarrenriffs einen Krieg beenden kann oder die Welt zu verändern vermag, haben schon in den sechziger Jahren nur blauäugige Romantiker geglaubt. Heute weiß jedes Kind, dass auch das Rebellische bisweilen nur eine exaltierte Form der Mitläuferei ist. Auch in bestens gemeinten Fällen gilt ja: Wer etwas tut, tut schon mit, wer seine Kritik massenwirksam formuliert, produziert möglicherweise nicht nur eine Schlagzeile, sondern vielleicht auch den nächsten Trend. Und der Protestsong gegen den Einheitssound von MTV endet als Nummer eins der Charts.

Theorie-Hype. Gerade deshalb, weil diese gewisse Abgeklärtheit zum Allgemeingut geworden ist, ist die Repolitisierung der Kunstszene umso überraschender. Und was in den Vereinigten Staaten mit dem schroffen Antagonismus zwischen den „Two Americas“ nur besonders auffällig ist, ist auch in hiesigen Breiten kaum mehr zu übersehen. Da gibt es regelrechte Hypes um spröde Theorie-Konvolute, etwa um die No-Globals-Bibel „Empire“ von Toni Negri und Michael Hardt, werden linksradikale Denker wie Slavoj Zizek zu fixen Größen im globalen Philosophie-Jetset. Polit-Combos wie Wir sind Helden oder die Beginner stürmen auch hierzulande die Mainstream-Charts. Naomi Klein wurde mit Markenkritik zu einer global erfolgreichen Marke. Die Mythengestalt Che Guevara, ohnehin ewige Sehnsuchtsfigur, ist neuerdings fast blockbustertauglich. Auf den Bühnen zwischen Berlin, Zürich, Stuttgart und Wien werden kleine postfordistische Dramen mit dem Großthema Totalentfremdung, etwa jene von René Pollesch, euphorisch gefeiert. Bei großen Kunstschauen ist es zum guten Ton geworden, Kunst als Kritik herrschender Machtverhältnisse zu montieren, theoretisches Begleitprogramm inklusive. Fast ist wieder Usus, was seit der Trennung der postmodernen Theorie-Communities von den Aktivistenmilieus in den achtziger Jahren praktisch undenkbar war: von der Vernissage zur nächsten Demo zu gehen. Da ist etwas in Bewegung geraten seit Ende der neunziger Jahre, was mit dem Rechtsdrall der US-Politik wohl nur zufällig zusammenfiel.

Gesunde Opposition. Mag George W. Bush, bis Anfang 2009 Herr im Weißen Haus, auch keineswegs der Auslöser dieses Trends sein, so ist er doch die beste Versicherung dafür, dass der neue Aktivismus so schnell nicht wieder aus der Mode kommt. „Es ist gesund für Künstler, in der Opposition zu sein“, versucht Hollywood-Drehbuchschreiber Charles Randolph Bushs Wiederwahl noch etwas Positives abzugewinnen. Amerikas Rechte, formuliert Bestsellerautor David Corn vibrierend, habe „eine Schlacht für sich entschieden, aber nicht den Krieg“.

Am Freitag hatte schließlich auch Michael Moore die Sprache wiedergefunden. Er zählt 17 teilweise nicht ganz ernst gemeinte Gründe auf, warum das Wahlergebnis doch gar nicht so schlecht sei, und rät seinen Leuten, es doch mit Monty Python zu halten: „Always look on the bright side of life!“


Robert Misiks Buch „Genial dagegen“ über den neuen Aufschwung von Gesellschaftskritik und Radical Chic erscheint Anfang 2005 im Berliner Aufbau-Verlag.