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Kunst: Albrecht Dürer

Albrecht Dürer

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Agnes Dürer, die Frau des Künstlers, spricht nicht nur deutsch, sondern auch englisch, französisch und italienisch. Die freundliche Dame trägt ein historisch korrektes Hausfrauenkleid und führt, einen klimpernden Schlüsselbund am Rock, dreimal pro Woche staunende Touristen durch das Haus in Nürnberg, in dem das Ehepaar Dürer fast zwanzig Jahre verbrachte. Da in der Geburtsstadt des deutschen Renaissance-Malers nur noch wenige Arbeiten von der Hand des Meisters existieren, verlegte sich das Stadtmarketing vom Original auf die Kopie: Seit Mai 1999, dem 528. Geburtstag des Künstlers, führt die Hausherrin in Gestalt einer Schauspielerin wieder höchstpersönlich durch die ehelichen Gemächer.

Seit fast 200 Jahren feiert Nürnberg den großen Sohn der Stadt zu allen möglichen Gelegenheiten und entwickelt mit schöner Regelmäßigkeit aufwändige PR-Strategien. Kuriose Festbälle, spektakuläre Festivals mit Konzerten und Theateraufführungen und theatralische Morgenfeiern am Grabe des Meisters sollen diesem die angemessene Ehrerbietung erweisen.

Albrecht Dürer eignet sich offenbar hervorragend für Merchandising-Artikel aller Art. Bereits 1840 wurden Anstecknadeln, Weingläser und Metallkopien von Statuen als Dürer-Devotionalien angeboten, Konditoreien buken Albrecht-Dürer-Torten und Lebkuchen – frühe Formen einer kultischen, wenn auch etwas verständnisarmen Künstlerverehrung, die heute allgemein das Sortiment von Museumsshops bestimmt und als wichtige Einnahmequelle im Kunstbetrieb nicht mehr wegzudenken ist.

Herrgott. Wer kennt sie nicht, die „Betenden Hände“, ursprünglich nur eine Studie für Dürers im 18. Jahrhundert zerstörten Heller-Altar? In ihren unzähligen Reproduktionen hängen die Hände im deutschen Herrgottswinkel oder liegen als Stickvorlage im Schaufenster von Handarbeitsgeschäften. Im kollektiven Gedächtnis vieler Generationen fest verankert, wurde das Image zum „bildlichen Synonym des Betens“ und zu einem „Symbol gelebter Frömmigkeit“, wie Dürer-Expertin Karin Wimmer formuliert.

Die „Betenden Hände“, oft auch in dreidimensionaler Form, als Relief oder gar als Skulptur dargeboten, gelten als Inbegriff des Kitsches und entfalten ein überraschend reaktionäres Potenzial: Der Dürer-Forscher Bernhard Decker sieht in der massenhaft reproduzierten „nationalen Schicksalsikone der Deutschen“ auch ein „totalisierend-totalitäres Motiv“, das möglicherweise eher „stellvertretend für die ersehnte Rechtfertigung einer fatalistischen Lebenshaltung“ steht, „die man besser mit unerbittlicher Selbstdisziplin, fleißigem Schaffen und Schuften bis ins Grab umschreibt“. Kurz: Dürers „Betende Hände“ wurden zum Emblem der Nachkriegsgeneration.

Taugt Alfred Dürer, der alte Hase, heute tatsächlich bloß noch als Amüsement fürs Volk? Oder versorgt der Meister aus Nürnberg heutige Künstler noch mit Inspiration? Die Albertina präsentiert in einer groß angelegten Schau mit 16 Gemälden und 200 Aquarellen, Zeichnungen und Druckgrafiken ab 5. September das Werk eines Meisters, der die Wende von der Spätgotik zur Renaissance einläutete und in vielerlei Hinsicht revolutionär war – sowohl als Maler als auch als Künstlerfigur.

Begabung. Als Albrecht Dürer 1471 in Nürnberg als drittes von 18 Kindern geboren wurde, erlernte er zunächst das Handwerk der Goldschmiede in der Werkstatt seines Vaters. Sehr früh allerdings stellte sich seine enorme künstlerische Begabung heraus: Bereits im Alter von 13 Jahren zeichnete er, stilsicher wie sonst bloß reife Meister seiner Zunft, sein erstes Selbstporträt.

Der Teenager eignete sich bei dem Maler Michael Wolgemut die handwerklichen Voraussetzungen für sein Schaffen an. Wie damals üblich, ging der Gesell nach der Lehre auf Wanderschaft quer durch Deutschland und kehrte 1494 wieder nach Nürnberg zurück. Nur wenige Jahre später verhalf ihm die massenhafte Verbreitung seiner Grafiken, vor allem seiner Holzschnittapokalypse, zu internationaler Bekanntheit: Ab 1512 arbeitete er als kaiserlicher Hofmaler für Maximilian I. Als dieser sieben Jahre später verstarb, pilgerte Dürer in die Niederlande, um beim Thronfolger Karl persönlich um die Fortzahlung seines Gehalts zu bitten. Dort zog er sich eine Malariainfektion zu, von der er sich bis zu seinem Tod 1528 nicht mehr ganz erholte.

Albrecht Dürer prägte – zur selben Zeit wie Leonardo da Vinci – die Vorstellung vom Künstler als Universalgenie: Nicht nur waren seine Arbeiten wegweisend für Druckgrafik und Malerei, Dürer befasste sich auch intensiv mit Naturwissenschaften, Technik und dem Problem der Perspektive, entwickelte in seinen – erst posthum erschienenen – theoretischen Schriften eine folgenschwere Proportionslehre des menschlichen Körpers und verfasste sogar eine „Befestigungslehre“.

Gern und oft reflektierte Dürer über sich selbst und seine Rolle – anhand seiner Selbstbildnisse, die er als erster Künstler in enormer Zahl und Komplexität schuf, wie etwa das „Selbstbildnis als Dreizehnjähriger“. Mit unbekümmerter Geste erlöste er die Kunst aus ihrem Frondienst an der Religion: In seinem bekannten Selbstbildnis von 1500 stilisierte sich Dürer als Jesus Christus und formulierte so seine Vorstellung vom Universalgenie aus: der Künstler als Auserwählter, der, mit göttlicher Inspiration versehen, schöpferisch und fromm im Sinne des göttlichen Willens handelt, dabei aber auch eine große Verantwortung gegenüber der Menschheit trägt. Die Schattenseite künstlerischer Genialität, einen existenziellen Zustand der Melancholie, betont Dürer in anderen Selbstporträts, die einen wesentlichen Schwerpunkt in der Albertina-Ausstellung bilden.

Noch nie zuvor war der Mensch moderner gesehen worden: Zwar sind Dürers Porträts und Aktdarstellungen im Großen und Ganzen gemäß seiner Proportionslehre komponiert, sie besitzen aber eine neue Lockerheit und psychologische Empathie. Wie sein Zeitgenosse Leonardo nicht nur an Idealbildern interessiert, stellte Dürer in seiner Porträtmalerei auch Alter und Tragik dar, so etwa in den in der Albertina erstmals seit 1600 wieder gemeinsam präsentierten Zeichnungen seiner betagten Eltern.

Dürers Werk war wegweisend für eine ganze Malergeneration, nicht zuletzt seine Naturdarstellungen leisteten Pionierarbeit. Einerseits schuf er mit Aquarellen wie dem „Großen Rasenstück“ präzise, detailgetreue Wiedergaben, deren Neuerung in der Nobilitierung des scheinbar Banalen lag, andererseits entwickelte er in seinen spontan und frei gemalten Landschaftsaquarellen eine Modernität, die als Vorform impressionistischer Landschaftsmalerei gilt.

Dürers Präzision, das Ebenmaß seiner Bildkompositionen und nicht zuletzt seine lebenslange Treue zu Nürnberg machten es den Nationalsozialisten hunderte Jahre später leicht, Albrecht Dürer – wider alle kunsthistorische Legitimität – zu einer idealen Werbefigur für das Dritte Reich zu stilisieren. Willy Liebel, Oberbürgermeister der „Stadt der Reichsparteitage“, schenkte Adolf Hitler einen Originalabzug der Grafik „Ritter, Tod und Teufel“, deren Schöpfer als „deutschester aller deutschen Künstler“ und in einer Rede von Propagandaminister Josef Goebbels als völkisches Vorbild gefeiert wurde: „Treue zu wahren, wenn es auf alles ankommt und die Gefahr von allen Seiten lauert, so wie auf dem Blatt des großen Nürnbergers, hindurchzuschreiten, unerschüttert und unerschütterlich, und an die große Sache zu glauben, dafür zu kämpfen und einzutreten – das ist eine stolze Tugend, die den Manne ziert und die Ehre der Frau und der Jugend ist!“

Missbraucht. Schon 1937 wurde ein Selbstporträt von Albrecht Dürer auf der Titelseite des Blattes „Volk und Rasse“ abgebildet. Trotz der ungarischen Herkunft seines Vaters galt Dürer im Dritten Reich als Vertreter eines „gesunden Deutschtums“. Der Ritter in seinem Kupferstich „Ritter, Tod und Teufel“ wurde als Siegfried interpretiert, als Miles Christianus und als Personifikation des Sieges. Zu allem Überfluss verwendeten nationalsozialistische Maler die Komposition von „Ritter, Tod und Teufel“ oder Teile daraus als Vorlage für ihre Hitler-Glorifizierungen; auf einem der ungeschickten Gemälde des Tiroler Malers Hubert Lanzinger etwa nimmt Hitler die Haltung des Ritters ein – ein wahrhaft „heroisches“ Porträt.

Wie gehen heutige Maler mit der dunklen Rezeptionsgeschichte Dürers um? Welchen Blick werfen die Kollegen auf Dürer, dessen Werk von Nazis missbraucht und von der Nachkriegsgeneration verkitscht wurde? Klaus Albrecht Schröder, selbst Kurator der Ausstellung, stellt fest, dass sich Künstler vor allem in ihrer Motivwahl an Dürer orientieren. Ein Trend zeitgenössischer Kunst sei das „Sich-Abarbeiten an bekannten Motiven“, und gerade Dürer habe mit seinen „Betenden Händen“ und dem „Feldhasen“ Ikonen geschaffen, die jeder kenne und die daher in ihrer künstlerischen Rezeption sofort verständlich seien.

In der Dürer-Stadt Nürnberg erinnerte bis vor kurzem eine Hommage mit dem Titel „Das große Hasenstück“ sowohl an den „Feldhasen“ als auch an das „Große Rasenstück“: Ottmar Hörl, Professor an der dortigen Akademie der bildenden Künste und hauptsächlich im öffentlichen Raum arbeitender Bildhauer, installierte 7000 dreidimensionale Dürer-Hasen in vier verschiedenen Grüntönen auf einem Markt: von oben betrachtet ein riesiger künstlicher Rasen, der auf die Trivialisierung und Popularisierung Dürer’scher Motive anspielte, gleichwohl aber zur Teilnahme des Publikums aufrief, das die in Konsumobjekte umgedeuteten Feldhasen berühren und zum Preis von 90 Euro auch erwerben konnte.
In der Kunsthalle Nürnberg konnte man in einer Ausstellung mit dem signalhaften Titel „I Believe in Dürer“ die Beobachtung machen, dass eine ganze Reihe deutscher Künstler unterschiedlichste Ansätze in ihrem Umgang mit dem alten Meister gefunden hatten.

Georg Herold etwa baute Dürers Hasen mit Dachlatten nach und vereinte so das alltägliche, billige Material mit dem trivialisierten Motiv. In Zeichnungen erfand er dazu einen „Dürer-Esel“ – ein hintergründiger Witz, der einen augenzwinkernden Blick auf die sprichwörtliche Messlatte deutscher Kunst wirft. In einer komplexeren Arbeit bezieht sich Rosemarie Trockel auf andere, weitaus weniger bekannte Tierstudien von Dürer: Auf Xerox-Papier doppelt durchgezeichnet, werden die Köpfe von Gämsen, Rehböcken oder Storchen mit einem Torso in lockeren Linien versehen – eine Anspielung auf die Reproduktionstechnik Dürers. In den Schattenwürfen spiegeln sich die Auseinandersetzung des Künstlers mit der Melancholie und sein Selbstbild.

Auserwählt. Sogar der große Joseph Beuys, wie Dürer ein Aushängeschild der deutschen Kunst, befasste sich mit dessen Künstlerbild. So kleidete sich der ansonsten passionierte Fischerjacken- und Hutträger auf einer Vortragsreise in den USA nach Dürers Selbstporträt. Angetan mit überdimensionalem Pelzkragen, näherte er sich so als deutscher Botschafter in Sachen Kunst Dürers traditioneller, teilweise bis heute anhaltender, schwärmerischer Vorstellung vom Künstler als messianisch Auserwähltem.

Doch nicht von ungefähr wurde der angeblich deutscheste Künstler vor allem in politisch und gesellschaftskritisch motivierten Arbeiten rezipiert: Dürer auf sein Kitschpotenzial zu reduzieren hieße, ihn misszuverstehen. Klaus Staeck ließ 1971 in Nürnberg ein Poster plakatieren, auf dem über einem Druck von Dürers Mutter kurz vor ihrem Tod in knallig roten Lettern die Frage formuliert war: „Würden Sie dieser Frau ein Zimmer vermieten?“ Was unter den konservativen Bürgern der Stadt nicht nur Begeisterungsstürme hervorrief.
Freundlicher wirkt da schon Agnes Dürer, wenn sie in der Albrecht-Dürer-Straße „aus dem Nähkästchen plaudert“. Demnächst angeblich auch auf Japanisch.