Otto Muehl

Kunst: Der Autoritäter

Der Autoritäter

Drucken

Schriftgröße

Ein Samstagnachmittag, Mitte der achtziger Jahre. Eine stattliche Kolonne von Autos bahnt sich ihren Weg durch die einsame Parndorfer Heide im nördlichen Burgenland. Ziel ist der Friedrichshof im Gemeindegebiet von Zurndorf, besser bekannt unter dem Namen „Muehl-Kommune“. Dort wird die „Sammlung Friedrichshof“, eine hochkarätige Kollektion von Werken der Wiener Aktionisten, der Öffentlichkeit vorgestellt: frühe Rinnbilder von Hermann Nitsch, expressives Action- Painting von Günter Brus und Alfons Schilling, vor allem aber die überbordenden Gerümpelskulpturen und Materialkleisterungen Otto Muehls.

Gekommen war zu dieser Vernissage in der burgenländischen Steppe eine illustre Schar von Kulturschaffenden, darunter der damalige Direktor des Museums moderner Kunst in Wien, Dieter Ronte, der legendäre Kulturstadtrat des Nachkriegs-Wien, Viktor Matejka, und der Schweizer Ausstellungsmacher Harald Szeemann. Ihnen allen verkündeten Muehl und der in der Kommune für die Kunstsammlung zuständige Theo Altenberg, dass auf dem Friedrichshof ein internationales Forschungs- und Archivzentrum für die Kunst des Wiener Aktionismus entstehen solle.

Gelenkte Enthemmung. Im Anschluss an die Eröffnung der Sammlung waren die Gäste zur allsamstäglichen Selbstdarstellung der Kommune geladen. Dutzende von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen tanzten, sangen, schrien und balgten sich, rhythmisch oder auch nicht, wild durcheinander. Eine Selbstentäußerung, deren Faszination sich kaum jemand der Besucher entziehen konnte. Mitten im Geschehen: Otto Muehl, damals schon fast 60, scheinbar der Enthemmteste von allen, aber doch die Fäden ziehend, das Geschehen als Regisseur lenkend und kontrollierend. – Dies war die Periode des größten medialen, politischen und wirtschaftlichen Erfolgs eines gesellschaftlichen Experiments, das zu jenem Zeitpunkt ungefähr 700 Personen in 30 über ganz Europa verstreuten Kommunen umfasste. Überwindung der Kleinfamilien-Strukturen, freie Sexualität, antiautoritäre Kindererziehung, Förderung der individuellen Kreativität und Aufhebung des Privateigentums lauteten einige der Schlagworte dieses Experiments.

Dahinter stand eine straffe, von vielen als sektenhaft empfundene hierarchische Struktur. 1988 erschienen – im „Stern“ und in einer profil-Serie – erste seriöse Berichte zur Macht, die Otto Muehl über seine Kommune ausübte. Aus allen Wolken aber fiel eine mit dem Experiment Friedrichshof sympathisierende Öffentlichkeit, als Muehl im Sommer 1991 verhaftet und in der Folge wegen Unzucht mit Minderjährigen zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt wurde.

Heute, mehr als sechs Jahre nach seiner Entlassung, steht der inzwischen 79-jährige, in Portugal lebende und an Parkinson leidende Otto Muehl wieder im Mittelpunkt von Kontroversen. Mehrere Ausstellungen in Wiener Museen und Privatgalerien (siehe Kritik zur Aktionismus-Schau im Mumok, S. 163) haben Muehl – bisweilen schreibt er sich selbst auch Mühl oder Muel – zum Thema. Sollen durch eine solcherart konzertierte Leistungsschau seines längst international anerkannten künstlerischen Schaffens seine Straftaten verharmlost werden, fragen sich Ex-Kommunarden, die betonen, immer noch an den psychischen Schädigungen durch den Friedrichshof zu leiden. Zweimal hatte MAK-Direktor Peter Noever seine Muehl-Ausstellung bereits verschoben. Der ursprüngliche Titel „Otto Muehl. Das Leben als Kunstwerk“ wurde nach Protestbriefen des als Sprecher der Friedrichshof-Kinder auftretenden Hans Schroeder-Rozelle abgeändert in „Otto Muehl. Leben/Kunst/Werk. Aktion Utopie Malerei 1960–2004“.

Aktionen gegen Nachkriegsmief. Muehls bedeutendste künstlerische Arbeiten fielen in die Zeit des Wiener Aktionismus, der heute unbestritten als wichtigster österreichischer Beitrag zur internationalen Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gilt. Anfang der sechziger Jahre erklärten einige über die Grenzen Österreichs hinaus orientierte Künstler das traditionelle „Tafelbild“ für unzeitgemäß und setzten an seine Stelle die „Aktion“. Es war ein Protest gegen den „Nachkriegsmief“ (Alfons Schilling) eines von der großen Koalition und ihrer ÖVP-dominierten Kulturpolitik beherrschten Österreich. Bis heute wird diskutiert, ob das Nachwirken des Nationalsozialismus, der barocke Katholizismus oder eher die familiären Strukturen (vaterlose Nachkriegsgesellschaft, in der die Mütter die Söhne dominierten) zu dieser spezifisch österreichischen Ausprägung einer weltweiten Bewegung gegen die Kunsttradition führten. 1966, beim „Destruction in Art“-Symposium in London, an dem Otto Muehl, Günter Brus, Hermann Nitsch, Peter Weibel und der Filmemacher Kurt Kren teilnahmen, erlangte die Gruppe internationale Anerkennung.

Muehl galt dabei als der Souveränste. Seine Aktionen, bei denen er weibliche Gesäße wie Wiener Schnitzel panierte, Körper mit Farben und Speisen beschüttete und Frauen in Fesseln legte, vermitteln noch in den Dokumentationsfotos eine souveräne Mischung von Schock, Witz und Ironie. In Aktionen wie „Der geile Wotan“ oder „Leda und der Schwan“, die vom Avantgardefilmer Kurt Kren aufgezeichnet wurden, war er für den Dichter Ernst Jandl im Rückblick „der temperamentvollste, lustigste der Aktionisten“.

Lustig waren solche Aktionen, so erinnert sich die Fotografin Lisl Ponger, damals 20-jährige Zeitzeugin, vor allem für Muehl selbst. Die Mitakteure waren Material, das er benutzte. Pongers Fotografien der damaligen Wiener Künstlerszene, gesammelt in dem 1990 im Falter Verlag erschienenen Buch „Doppleranarchie“, sind derzeit neben einem Original des legendären, skandalisierten Aktionismus-Buchs von Valie Export und Peter Weibel in der Wiener Galerie Charim zu sehen.

Freier Sex statt Zweierbeziehung. Im Ausland anerkannt, wurden die Aktionisten in Österreich permanent kriminalisiert. Keiner von ihnen, der nicht mehrfach wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses oder Herabwürdigung religiöser oder staatlicher Symbole verurteilt wurde. Aber auch das Umfeld des Wiener Aktionismus wurde in eine Außenseiterposition gedrängt. Galeristen, Kunstkritiker, die sich damit beschäftigten, stießen auf breites Unverständnis. Muehl, älter als die anderen Aktionisten und vor seiner Begegnung mit Brus, Frohner und Nitsch noch ein bieder malender Spätkubist, war Ende der sechziger Jahre ein autoritärer Ehemann, der sich fürchterlich aufregen konnte, wenn seine Frau nach einem nachmittägigen Kinobesuch nicht gleich nach Hause kam. Als sie ihn verließ, stellte er die Zweierbeziehung infrage, verkündete die „Überwindung der Kleinfamilie“ und wandte sich auch von der Kunst als elitärem Instrument ab.

Es war die Zeit der Kommunen als Wohnform für politische und gesellschaftliche Alternativen. In Wien entstand als Erstes 1967 die „Kommune Wien“, gegründet vom Schriftsteller Robert Schindel. In der 1970 von Muehl etablierten Kommune in der Praterstraße, anfänglich „ein Auffanglager für junge Künstler, Studenten und skurrile Existenzen am Rande der Gesellschaft“, so der Kommunarde Karl Iro Goldblat im Katalog der MAK-Ausstellung, wurde bald die freie Sexualität mit wechselnden Partnern zur Norm erklärt. Muehl entwickelte unter dem Einfluss der Schriften von Wilhelm Reich und mit den Erfahrungen seiner künstlerischen Aktionen aus der Freud’schen Verbalanalyse die „Aktionsanalyse“ (AA) als Mittel der Enthemmung durch Selbstdarstellung. Muehl: „Der Selbstdarsteller braucht keinen Analytiker, er braucht einen in der Selbstdarstellung erfahrenen Regisseur, der den Weg zur Ekstase kennt.“ Dieser Regisseur war Otto Muehl.

Latzhose und Schnuller. In Wien erregten die glatt geschorenen Kommunardinnen und Kommunarden in ihren Latzhosen beträchtliches Aufsehen. Häufig spazierten sie mit Schnullern durch die Stadt, um ihren Ausstieg aus der Erwachsenenwelt zu demonstrieren. Die Muehl-Kommune wuchs rasch. Auch aus Deutschland und der Schweiz kamen junge Menschen, vorwiegend aus bürgerlichen Häusern, die repressiven Erziehungsstrukturen zu entkommen suchten. „Durcheinander ficken und glücklich werden“ (Goldblat) war das Motto. Prominentestes Mitglied war Therese Schulmeister, die Tochter des damaligen Herausgebers der Zeitung „Die Presse“.

1972 erwarb die Kommune den Friedrichshof, eine verfallene Landwirtschaft, die allmählich ausgebaut wurde. Als Einnahmequelle entdeckte Muehl „Bewusstseinskurse“ für zahlende Gäste. Inzwischen hatten einzelne Kommunarden auch ihre Wirtschaftsstudien abgeschlossen und begannen in den Außenstellen von München, Berlin oder Zürich Firmen für Börsenoptionen, Termingeschäfte und Versicherungen aufzubauen. Mitte der achtziger Jahre lieferten diese Firmen dem Friedrichshof pro Monat eine halbe Million Euro netto ab. 1988 lagen umgerechnet 15 Millionen Euro auf luxemburgischen Konten.

„die kommune lehnt handels- und profitdenken ab“, hatte es noch 1971 in einem Manifest geheißen. Aber die Strukturen hatten sich grundlegend geändert. Es gab am Friedrichshof eine Schule mit Öffentlichkeitsrecht, eine Behindertengruppe rund um Muehls spastische Tochter Lili und ein selbst verwaltetes Kinderhaus.

„Die Urhorde hatte sich“, schreibt Goldblat im MAK-Katalog, „in eine Dorfgemeinschaft verwandelt, in der von der Kleiderbeschaffung bis zur biologischen Ernährung, von der Kinder- bis zur Gästebetreuung, von der Buchhaltung bis zur Empfängnisverhütung für alles gesorgt war.“ Muehl hatte die Kontrolle über alles: wer schwanger werden durfte; ob eine Frau ihre Kinder selbst betreuen durfte; ob sich Zweierbeziehungen bildeten, die gleich rigoros unterbunden wurden; und wer strafweise in Berlin Versicherungen keilen musste. Eine strenge Hierarchie nach Art der Tennisrangliste regelte die Position jedes Einzelnen, Tagebücher wurden konfisziert, Homosexualität als verabscheuungswürdig angesehen.

Von außen war dies schwer zu durchschauen. Gäste, zu denen neben Künstlern wie Joseph Beuys oder dem Maler Jiri Georg Dokoupil auch Politiker und Journalisten zählten, bekamen meist nur den auserwählten inneren Kreis um Muehl und dessen Frau Claudia zu Gesicht. Zu deren Wohnbereich hatte der allergrößte Teil der Kommune keinen Zutritt. Am Abend wurden die Kinder artig zu Bett geschickt, anschließend wurden gute Weine serviert, Otto Muehl führte das Gespräch, und ein beliebtes Spiel mit den Gästen war, dass jeder jeden zeichnete, Muehl seine Blätter signierte und dem Porträtierten überreichte.

Zum Personenkult, der „um Otto Muehl kulminiert“ (Goldblat), gehörte auch, dass Frauen sich ihm in der Regel nicht verweigerten. Dass darunter minderjährige Mädchen waren, blieb lange ein Geheimnis des inneren Kreises. Wenn Muehl behauptet, sie seien freiwillig gekommen, so ist das zynisch angesichts der Hörigkeitsstrukturen, die er aufgebaut hatte. Dass die Mütter der Mädchen schwiegen, zeigt, wie weit diese Hörigkeit ging.

Machtversessenheit. Der Zusammenbruch und die Selbstauflösung der Kommune – von Mühl immer noch als Putsch und Verrat gesehen – hatten nur zum Teil mit seinen Vergehen zu tun. Die Kommunardin Gitta Verlei, die immer noch zeitweise am Friedrichshof lebt, sieht die Frustration der Männer und die Isolation der allein erziehenden Mütter neben Muehls stetig wachsender Machtversessenheit als Gründe des Zerfalls: „Dass er heute noch nicht die Schuld bei der Verführung der sehr jungen Mädchen eingesteht, macht es allen anderen schwierig, sich mit ihrer damaligen Rolle auseinander zu setzen.“

Das neue Interesse, auf das die Kunst Otto Muehls und der übrigen Aktionisten gerade heute wieder stößt, mag – neben den Aktualisierungstricks der Ausstellungsmacher und Kunstmarktstrategen – damit zusammenhängen, dass die Gegenwartskunst insgesamt beliebiger, weniger aufregend geworden ist; dass man sich in immer konservativeren Zeiten nach der Provokation, der Überschreitung von Grenzen sehnt.

Der Friedrichshof, ein Stück unbewältigte Sozialutopie. Otto Muehl, ein genialer Künstler, der an der Verwechslung von Kunst mit Leben gescheitert ist. Er lebt heute als alter, kranker Mann mit den kleinfamiliären Resten seines einstigen Imperiums am Rand von Europa. Sein Delikt, für das er eine sehr strenge Strafe abgebüßt hat, darf mit seiner Kunst nicht beschönigt werden. Aber das muss auch umgekehrt gelten: Muehls Vergehen dürfen das Recht auf die Freiheit seiner – und aller – Kunst nicht schmälern.