Kunst in Kassel: 100 Tage Farbenleere

Kunst: Hundert Tage Farbenleere

Die documenta 12 fordert zum Nachdenken auf

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Die Erwartungen waren so hoch gesteckt, dass sie nur enttäuscht werden konnten. „Wir verlassen uns auf das bewährte Modell der kuratorischen Willkür“, stellte Roger M. Buergel, Leiter der documenta 12 in Kassel, dieser Tage mit der ihm eigenen Nonchalance fest, als er nach der seltsam antiklimaktischen Kunstaktion des von ihm eingeladenen spanischen Starkochs Ferran Adrià befragt wurde, der nichts anzubieten hatte, als sein Restaurant zum Kunstort zu stilisieren. In vielerlei Hinsicht ist dies symptomatisch für die documenta 12, die nicht das gegenwärtig so beliebte Spektakuläre abfeiert, sondern eher das Zurückhaltende, Stille, Ernsthafte sucht, die ihre Ausstellungsorte zum heimlichen Thema macht und bisweilen auch ganz im Verborgenen operiert. Und die, entgegen allen Trends, nicht den Kunstmarkt hochleben lässt.

Es sind große Fragen, die Buergel und seine Frau, die Kuratorin Ruth Noack, mit ihrer rund 500 Kunstwerke umfassenden Monsterausstellung aufwerfen wollten. An drei Leitmotiven, so wurden sie nicht müde zu erläutern, sollte sich die documenta orientieren: an Fragen zur Moderne, zum „bloßen Leben“ und zu den Handlungsmöglichkeiten im Bildungsbereich. Zu deren Klärung waren Buergel und Noack um den halben Globus gejettet und haben eine Künstlerliste zusammengestellt, deren Namen einem westlichen Publikum, wie sich nun herausstellt, allerhöchstens zur Hälfte vertraut sind. Ein Drittel der Arbeiten sollte keine Gegenwartskunst abdecken, verlautbarten sie: Es gehe um eine „Migration der Formen“, um die Ästhetik und das Schöne. Die Ausstellung sollte so viel Platz haben wie noch nie, kündigte Buergel an: In der Karlsaue gab man bei den französischen Architekten Lacaton & Vassal einen „Pavillon“ in Auftrag, in dem die Besucher, so Buergel damals, wie in einem „Zauberwald“ wandeln könnten, der einem „Kristallpalast“ entspräche.

Farbrausch. Das kann nur ironisch gemeint gewesen sein. Die tatsächlich gigantischen Raumfluchten des „Kristallpalastes“ wurden nämlich aus Gewächshausteilen erbaut, die von lärmendem Gebläse belüftet werden müssen. So trashig diese Baumarktarchitektur samt ihrem ziegelroten Laufbahnboden anmutet, so bourgeois sind die Räume des Fridericianums gestaltet worden. Dass Buergel Wände entfernen ließ, erwies sich zwar als kluge Entscheidung – allerdings wählte man exzentrische Wandfarben wie Lindgrün und verhängte die Fenster mit hellen Vorhängen, als handle es sich um einen französischen Salon des 19. Jahrhunderts. Der Farbrausch endet auch in der Neuen Galerie nicht: Aus rosaroten Kabinetten geht es hinunter in eine dunkelblaue Katakombe. Ebenso im Dunkeln tappt man bisweilen im Schloss Wilhelmshöhe, in dessen hochkarätige Sammlung alter Kunst einzelne Arbeiten der documenta integriert worden sind – und die hohen Wände der documenta-Halle sind in tiefes Blau getaucht.

Zwar ist die Absage an den White Cube, den weißen Kunstraum, der längst zum Standard im Ausstellungswesen geworden ist, auch nichts ganz Neues mehr. Die unterschiedlichen Rahmen, in die Buergel und Noack ihre Schau fassen, machen jedoch – mit einer gewissen Aufdringlichkeit – bewusst, wie sehr Kunst von ihrem Umfeld beeinflusst wird: Die gelben Reliefs der jung verstorbenen Minimalistin Charlotte Posenenske auf grüner Wand lassen eher an Fotos aus einem Möbelhauskatalog denken; im Aue-Pavillon strapazieren die Objekte von Gerwald Rockenschaub – in Grün und Orange – in Kombination mit dem roten Boden oder die eigenwillige Inszenierung der Objekte der Bildhauerin Mária Bartuszová auf intensiv violetten Podien den Sehnerv. Buergel und Noack, beide selbst für exzentrisches Styling bekannt, scheinen die Farben ihrer Outfits auf die Wände übertragen zu haben.

Formentypologie. Im Gegensatz zu dieser extremen Inszenierung – über deren Schönheit sich trefflich streiten ließe – hat man bei der Auswahl der Kunst eher auf Bedachtes, Behutsames, Unaufdringliches gesetzt. Dabei scheint es, als wollte das Kuratorenpaar die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts umformulieren, die Moderne neu erzählen. Es habe ihn interessiert, „ob man eine Formentypologie der Moderne entwickeln kann – also mit Elementen der Moderne in Lateinamerika, im arabischen Raum, in Afrika und Europa“, sagte Buergel im profil-Interview vor einigen Wochen (24/07). Eher randständigen Künstlern und Künstlerinnen der sechziger und siebziger Jahre – neben Charlotte Posenenske zählt dazu etwa die aktivistische argentinische Grupo de Artistas de Vanguardia – wird breiter Raum gewidmet, die wichtigeren Exponenten der osteuropäischen Avantgarde (Zofia Kulik, Ji1/2í Kovanda, Ion Grigorescu oder Mladen Stilinoviç) beeindrucken mit subtilen Arbeiten ebenso wie die chilenische Performerin Lotty Rosenfeld, die 1979, wie ein 16-mm-Film zeigt, Straßenmarkierungen in Kreuze verwandelt hat – eine Aktion, die sie nun in Kassel wiederholt hat (bereits vor der documenta-Eröffnung jedoch wurden die Ergebnisse von der pflichtbewussten städtischen Straßenreinigung entfernt).

Zusammenschau. Mit derartigen Arbeiten wird die Idee der „Migration der Form“, wie Buergel dieses jedem Kunstgeschichte-Erstsemestrigen geläufige Konzept – Formen werden über Zeiten und Kontinente hinweg weitergetragen – formuliert, noch einigermaßen schlüssig illustriert. Schwieriger wird es, wenn auf banale gemeinsame Erkennungsmerkmale gesetzt wird: Die Muster eines Hochzeitsteppichs aus Mali mögen ebenso wie die Zeichnungen der pakistanischen Künstlerin Nasreen Mohamedi von Linien strukturiert werden – die Zusammenschau dieser beiden Werke bleibt dennoch oberflächlich. Zudem leisten sich Buergel und Noack zahlreiche merkwürdige Fehlgriffe: Die uninspirierten Bilder des Deutschen Jürgen Stollhans etwa, der irgendwelche Kasseler Archivfotos nachgemalt hat; oder auch die krude, allzu symbolverliebte Malerei von Juan Davila sowie die öden Arbeiten von Kerry James Marshall; in den Schauräumen der documenta 12 lauert hinter jeder Ecke eine dieser ästhetischen Katastrophen. Immerhin lassen sich bei den aktuellsten Werken noch ein paar Entdeckungen machen: Zu den spannendsten Arbeiten dieser Schau zählen etwa der sehenswerte Bilderatlas von Luis Jacob, Ahlam Shiblis Fotoserie aus einem palästinensischen Flüchtlingslager oder die Blumenbeet-Installation der Österreicherin Ines Doujak, die über Biopiraterie aufklärt.

Traurig stimmt dagegen, dass die hier präsentierte Kunst aus Afrika zu weiten Teilen bloß Klischees reproduziert: Dem Südafrikaner Churchill Madikida fällt zum Thema Aids nichts als ein kitschiges Environment aus Särgen und roten Schleifen ein, in dem Kerzenlicht dafür sorgt, dass sich die Besucher nur noch im Flüsterton unterhalten. Romuald Hazoumé fertigt aus Plastikkanistern Gesichter an oder ein Boot, das auf die gefährliche Flucht in den Westen anspielt. Und Abdoulaye Konaté montiert in verschiedenen Blautönen gefärbte Papierstreifen auf einen Bildträger. Nationale Stereotypen wird man mit solchen Arbeiten nicht abzubauen helfen.

Disziplinierung. Auch der Chinese Ai Wei Wei kommt pauschalen Vorstellungen von einer chinesischen Kultur der Masse sehr entgegen: Er hat 1001 seiner Landsleute nach Kassel geholt. In einer alten Fabrik am Rand der Innenstadt hat er rund 200 Betten aufgebaut – und seine Leute in einer riesigen Küche arbeiten und an langen Tischen essen lassen: Menschendisziplinierung in der Kunst. Ai Wei Wei selbst wohnt in einem eigenen Zimmer – fern von den Zwölfbettzimmern, die nur durch Stoffbahnen voneinander getrennt sind. Bedenkenswert ist seine Idee allemal: Die Beteiligten sollen in Kassel Urlaub machen – und dabei alles fotografieren oder filmen, worauf sie gerade Lust haben, sie sollen die Stadtbewohner ebenso ungeniert betrachten wie die Besucher der documenta.

All dies wird jedoch weitgehend im Verborgenen vor sich gehen: Weder Ai noch seine Mitspieler scheinen Wert auf tägliche Besuche von neugierigem Publikum zu legen. Vieles andere bleibt ebenso theoretisch: Die Früchte der Aktion von Sakarin Krue-On, der unter dem monumentalen Schloss Wilhelmshöhe Reis angebaut hat, sollen – so das Wetter mitspielt – erst im Hochsommer sichtbar sein. Wichtiger als die Kasseler Reisernte wird jedoch die Interaktion zwischen am Feld Beteiligten sein: Künstlern, die wie Sakarin Krue-On aus Thailand kommen, deutschen Helfern und Reisbauern, die sich aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse in Deutschland nur schwer verständlich machen können, Arbeitern und Akademikern. Das eigentliche Kunstwerk bleibt hier einer Elite der anderen Art vorbehalten.

Obwohl Buergel und Noack ihre hochgesteckten Ansprüche nur sehr bedingt einlösen konnten, hat sich die documenta 12 doch einen Rest an Souveränität erhalten können. Trotz ihrer Schwächen setzt sie ein deutliches Zeichen gegen die überhitzten Märkte, gegen jene, die Kunst nur noch wie Prada-Täschchen oder Gucci-Anzüge sammeln – in Zeiten, in denen potente Sammler in der Hierarchie des Kunstbetriebs ganz an der Spitze stehen, ein wichtiges, dringend nötiges Statement. Gegen die Spaßkunst, wie sie derzeit hoch im Kurs steht, hält die documenta das Intellektuell-Kontemplative, eine Aufforderung zum Nachdenken. Das mag vielleicht nicht über alle Maßen erheitern. Überfällig war es längst.

Von Nina Schedlmayer

documenta 12, bis 23.9.; Info: www.documenta.de