Kunst-Schau: Strahl- kraftanstrengungen

Kunst: Strahlkraftanstrengungen

„Picasso – Malen gegen die Zeit“ in der Albertina

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Der 8. April 1973 fiel auf einen Sonntag. Am Nachmittag dieses Tages wurde das Programm des französischen Fernsehens von einer Sondermeldung unterbrochen. Das geschah nur dann, wenn eine Katastrophe geschehen oder ein äußerst bedeutender Zeitgenosse gestorben war, ein Staatsoberhaupt beispielsweise. Der Grund für die Sondermeldung an diesem Sonntag war der Tod von Pablo Picasso.

Die Weltpresse pries den Malerstar als populärsten, vielseitigsten, fleißigsten und reichsten Künstler aller Zeiten, und sein Sterbeort, die Villa Notre-Dame-de-Vie in Mougin nahe Cannes, wurde, wie der „Spiegel“ damals berichtete, „mit Kranzgebinden überschwemmt“, sodass sein Sohn Paul flehte: „Keine Blumen mehr!“ Die Bestattung an einem seiner früheren Wohnsitze, dem Schloss von Vauvenargues, wurde von der Polizei abgeschirmt – zu groß wäre der Andrang gewesen.

Picasso findet sich – neben Salvador Dalí – als einziger bildender Künstler im „Lexikon der Idole“. Laut einer Umfrage anlässlich seines 20. Todestages im Jahr 1993 kannten ihn in Spanien mehr Menschen als Bill Clinton: 84 Prozent der Spanier war der Name des Künstlers ein Begriff, jener des amerikanischen Präsidenten hingegen nur 71 Prozent der Befragten geläufig. Kein lebender Künstler vor oder nach Picasso teilte diese Prominenz, nicht einmal Andy Warhol.

Schon zu Lebzeiten war Picasso ein Superstar: 1939 schrieb das amerikanische Nachrichtenmagazin „Time“: „Für Millionen braver Bürger steht der Name ‚Picasso‘ für eines der beiden Dinge, die sie über moderne Kunst wissen – das andere ist, dass sie nichts davon halten.“ Damals war Picasso noch keine 60 Jahre alt. Als das Pariser Grand Palais aus Anlass von Picassos 85. Geburtstag im Oktober 1966 eine große Retrospektive eröffnete, wurde diese von rund einer Million Besucher gestürmt – lange bevor „Blockbuster-Ausstellungen“ zum internationalen Museumsalltag gehörten.

Das Vermögen, das der Künstler hinterließ, wurde vom Nachlassverwalter mit exakt 1.372.903.256 alten Francs festgesetzt – was heute etwa 696 Millionen Euro entspräche. Am Ende seines Lebens beliefen sich die jährlichen Ausgaben für seine Lebensführung auf mehr als umgerechnet 2,2 Millionen Euro pro Jahr, und heute bilden Picassos Werke die Vorlage für rund 40 Prozent aller Kunst-Reproduktionen weltweit – dies behauptet jedenfalls einer seiner zahlreichen Enkel, Olivier Widmeier Picasso, in seinem Buch „Picasso. Porträt der Familie“ – nur ein Titel aus einer gigantischen Fülle von Literatur über den Meister: Der „Catalogue collectif de France“, in dem man die Bestände dreier großer Bibliotheken durchsuchen kann, listet unter seinem Namen über 5600 Einträge auf.

Wechselwirtschaft. Wie lässt sich diese ungeheure Prominenz – bisweilen wurde Picasso mit einem Popstar verglichen – bei einem bildenden Künstler erklären? Werner Spies, ehemaliger Direktor des Centre Pompidou und renommierter Picasso-Forscher, hat die Ausstellung „Picasso – Malen gegen die Zeit“ kuratiert, die ab Freitag in der Wiener Albertina läuft (siehe Kasten Seite 141). Die Gründe für Picassos Startum sieht er vor allem in dessen Wandlungsfähigkeit, dessen „Wechselwirtschaft“, wie er es ausdrückt (siehe Interview Seite 142). Tatsächlich hat der Künstler alle paar Jahre seinen Stil geändert – parallel zum Wechsel seiner Partnerinnen, wie Spies und andere meinen. Auch Picassos „love interests“ haben wohl zu seiner Berühmtheit beigetragen: Schon 1933 veröffentlichte die frühere Geliebte Fernande Olivier ihre Memoiren, danach gewährte Françoise Gilot, die sieben Jahre lang mit ihm zusammengelebt und zwei Kinder von ihm bekommen hatte, einen für Picasso nicht gerade schmeichelhaften Einblick in ihre gemeinsame Zeit: 1965 erschien ihr Buch „Leben mit Picasso“ – der Prozess, den Picasso dagegen anstrengte, verlief erfolglos und steigerte die Auflage des Buches nur noch. Picassos abwechslungsreiches Liebesleben sorgte immer für Gesprächsstoff – und später warfen auch die Kindeskinder Bücher auf den Markt, die Picasso mal als Despoten, mal als liebenswürdigen Opa darstellten.

Marketinggenie. Olivier Widmeier Picasso gehört zu denen, die ihrem Großvater wohlgesonnen sind. Doch auch er räumt ein, dass Picasso die Kunst der Manipulation perfekt beherrschte – beispielsweise, was die schon zu Lebzeiten horrenden Preise seiner Werke betrifft: „Seine Ära ist die des internationalen Kunstmarktes, dessen Mechanismen er verstanden hat. Und er weiß damit umzugehen“, schreibt Widmeier Picasso. Der Künstler, der bereits als Twen recht gut von der Kunst leben konnte, hatte begriffen, dass man auch als „Großproduzent“, wie ihn „Die Zeit“ einmal nannte, seine Werke nicht wahllos verschleudern darf. Einen großen Teil davon hielt er daher zurück – ansonsten wären die Preise für seine Kunst rasch wieder in den Keller gesunken.

Der Werbeguru Bernd Kreutz stellte in einem Artikel im deutschen „Tagesspiegel“ vor wenigen Jahren fest: „Das Marketinggenie Picasso hat intuitiv all das gemacht, was nach der Marketinglehre gemacht werden muss, um Erfolg zu haben.“ Schritte wie „Network Marketing“ („das Talent, die richtigen Freundschaften zu schließen“) oder „Change Management“ („der Anspruch, den Markt mit Innovationen zu überraschen“) hätten, so Kreutz, zu einer hervorragenden „Market Performance“ geführt: „In dem Picasso-Jahrhundert sind seine Werke kaufkraftbereinigt um mehr als das 300.000-Fache in ihrem Wert gestiegen“, so Kreutz’ Folgerung. Lange Zeit belegten Gemälde von Picasso die ersten zwei Plätze im internationalen Kunstmarkt-Ranking: 2004 war sein „Junge mit der Pfeife“ um 104,2 Millionen Dollar verkauft worden, zwei Jahre später „Dora Maar mit Katze“ um 95 Millionen. (Im vergangenen Juni wurden diese Fantasiepreise allerdings von Gustav Klimts „Goldener Adele“ mit 135 Millionen Dollar übertroffen.)

Picasso, am 25. Oktober 1881 in Málaga als Pablo Ruiz Blasco geboren (später nahm er den Mädchennamen seiner Mutter an), wurde bereits als Kind von seinem Vater im Zeichnen unterrichtet und studierte später in Barcelona und Madrid. Schon früh erwies sich seine künstlerische Eigenständigkeit. Er widmete sich gesellschaftlichen Außenseitern während der „blauen Periode“ und der „rosa Periode“, ließ sich bald in Paris nieder, wo er, beeinflusst von außereuropäischer Plastik, 1907 mit seinen „Demoiselles d’Avignon“ erstmals die Kunstwelt schockierte. Mit seinem Kollegen Georges Braque entwickelte er den analytischen und den synthetischen Kubismus, seinen wohl wichtigsten Beitrag zur Avantgarde – umso größer war die Verwunderung, als er ab 1920 plötzlich in einem klassizistischen Stil massive Figuren malte. Auch diesen Stil behielt er nicht lange bei, abstrahierte seine Kompositionen zusehends, wandte sich verstärkt der Skulptur zu und schuf 1937 seinen nächsten Meilenstein mit dem Monumentalgemälde „Guernica“ für den spanischen Pavillon auf der Pariser Weltausstellung – ein politisches Statement, das in seinem Werk eine Ausnahme blieb. Zwar trat er 1944 der Kommunistischen Partei Frankreichs bei, ließ sich aber nie von einer Kunstdoktrin vereinnahmen.

Picassos Verwandlungen waren durchaus folgerichtig. In Vallauris nahe Cannes – Picasso wechselte seine Wohnsitze ebenso häufig wie Stile und Frauen – begann er mit Keramik zu arbeiten und erweiterte sein bildhauerisches Werk mit Assemblagen aus Fundstücken, in denen der rund 70-Jährige einen feinen Witz an den Tag legte. In seinen letzten Lebensjahrzehnten, die er in Mougins verbrachte, widmete sich Picasso – nebst Variationen seiner alten Lieblingssujets Zirkus und Stierkampf – vorrangig jenem Thema, das ihn durch alle stilistischen Wechsel beschäftigt hatte: dem Akt und der (weiblichen) Erotik. In seiner Bildsprache entwickelte er dabei kürzelhafte Zeichen, die manche Kunsthistoriker an Grafitti erinnerten.

Ironische Distanz. Obwohl Picasso die Kunst seiner Zeit maßgeblich beeinflusste – in wenigen Wochen eröffnet etwa das New Yorker Whitney Museum eine große Schau zu Picassos Auswirkungen auf die amerikanische Nachkriegskunst –, scheint seine Malerei und Bildhauerei für viele Künstler heute wenig maßgeblich. Bloß als Figur taucht Picasso auf: So ließ etwa Maurizio Cattelan, einer der Shootingstars der vergangenen Jahre, 1998 im New Yorker Museum of Modern Art einen Schauspieler mit überdimensionaler Picasso-Maske auftreten – eine ironische Allegorie auf den Markenwert des Malers: „Meine Picasso-Figur war sehr beliebt“, erzählte Cattelan später. „Viele Leute haben sich mit ihr fotografieren lassen, wie auf den Fotos, die man macht, wenn man neben einer Disneyland-Figur wie Micky Maus steht.“

Eine ähnlich ironische Distanz nahm der Kanadier Rodney Graham in seiner Arbeit „Picasso, My Master“ ein, die er im Vorjahr in der Berliner Johnen Galerie präsentierte: Seine dort ausgestellten Gemälde erinnerten entfernt an jene des „Meisters“, imitierten diese aber nicht, sondern sollten „neue Originale aus Mimikry und Eigenem“, wie Graham verlauten ließ, darstellen – ein Spiel mit dem Wiedererkennungswert von Kunst. Und die Hamburgerin Hanne Darboven verwendete für ihre Installation im Deutschen Guggenheim die Reproduktion eines Picasso-Gemäldes, das sie mit seriellen Arbeiten und Skulpturen, darunter eine bronzene Porträtbüste Picassos, ergänzte.

Künstler der Gegenwart scheinen sich mit Picasso nur deshalb auseinanderzusetzen, um sich letztlich klar von ihm abgrenzen zu können. Wie etwa der heute konzeptuell arbeitende Leo Zogmayer, der 1993 für eine Ausstellung „Zehn Arbeiten zu Picasso ohne Titel“ malte. Seine feinen, reduzierten Formstudien erscheinen eher wie ein Kontrapunkt zu Picassos oft überbordender Bilderwelt. Für ihn sei Picasso bloß am Anfang seiner Laufbahn tatsächlich relevant gewesen, sagt der 1949 geborene Zogmayer heute: „Es gehört schon dazu, dieses Kraftmeierische einmal auszuloten“ – diese Phase habe bei ihm allerdings bloß ein bis zwei Jahre angehalten. Im „Phänomen Picasso“ finde er „das letzte Aufbäumen einer Ideologie vom Genie; das hat durchaus auch tragische Facetten“. Andere Künstler, wie etwa Kasimir Malewitsch oder Marcel Duchamp, hätten „der Kunst ungleich größere Räume eröffnet“.

Relevanzverluste. Für die Kunstlehre hat Picasso offensichtlich jegliche Aktualität verloren. Gunter Damisch, der an der Wiener Akademie für Bildende Künste lehrt, hat den Spanier weitgehend aus dem Lehrkanon gestrichen: „In den 14 Jahren meiner Lehrtätigkeit habe ich wenig über Picasso gesprochen. Studenten sollen den Mut haben, das, was sie richtig finden, durchzusetzen.“ Und er ergänzt: „Jeder, der sich für Kunst interessiert, wird sich ohnehin irgendwann mit ihm beschäftigen – und sich an ihm reiben.“ Für Damisch selbst und seine Malerei verkörpert Picasso, wie er erklärt, noch immer „die Imagination und die Lust an der Farbe. Er hat den Blick zu einer lustvollen, obsessiven Malerei geöffnet.“ Dennoch stünden „im Mainstream der Malerei heute andere Dinge im Vordergrund als Picasso, der bis ins hohe Alter das Kind in sich wachhalten konnte“. Die Malerin Veronika Dirnhofer, die ebenfalls an der Akademie unterrichtet, erklärt kategorisch: „Ich würde Picasso sicher nicht in die Lehre einbringen.“ Relevanter sei da ein Künstler wie Andy Warhol. Sie selbst schätzt an Picasso „die extreme Beweglichkeit – dass er immer wieder sich selbst infrage gestellt, Distanz zur eigenen Arbeit eingenommen hat“.

Doch beim breiten Publikum bleibt Picassos Popularität ungebrochen. Neben den Dauerausstellungen in diversen Picasso-Museen, wie etwa in Paris und Barcelona, präsentieren zu jeder Zeit irgendwo auf der Welt Institutionen seine Werke. Nun ist die Wiener Albertina an der Reihe.

Direktor Klaus Albrecht Schröder zeigt über 200 Arbeiten. Ein Besucherandrang scheint dem Ausstellungshaus jetzt schon gewiss. „In Hamburg, einer Stadt, der auch ihre ärgsten Gegner keine besondere Leidenschaft für Angelegenheiten der Kunst nachsagen, besuchten mehr als 120.000 Menschen eine Picasso-Ausstellung – das ist ein größeres Publikum, als je von einem Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft angelockt wurde“, hielt „Der Spiegel“ 1956 fest. Diese Besucherzahlen zu übertreffen dürfte für die Albertina-Ausstellung ein Leichtes sein.

Von Nina Schedlmayer