Flüchtlingsdrama

Lampedusa: Europa braucht eine Green-Card-Lotterie für Afrikaner

Lampedusa. Europa braucht eine Green-Card-Lotterie für Afrikaner

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Der Schock ist schon wieder vorbei. Noch waren nicht alle Leichen aus den Gewässern vor Lampedusa geborgen, noch wusste man nicht, wie viele afrikanische Flüchtlinge tatsächlich auf dem gekenterten Kutter gewesen waren, da verbreitete die europäische Spitzenpolitik bereits das wohlige Gefühl, alles in ihrer Macht stehende getan zu haben, damit sich so etwas nicht wiederholt: Die Grenzschutzbehörde Frontex solle in Zukunft auch ein Mandat für Such- und Rettungseinsätze erhalten, Italien wird mit 30 Millionen Euro bei der Aufnahme von Flüchtlingen unterstützt. Die Toten kriegen ein Staatsbegräbnis, und die EU-Innenminister setzten bei ihrem Treffen vergangene Woche pflichtschuldig traurige Mienen auf.

„failed state”
Wofür der Schock nicht ausgereicht hatte, war die ernsthafte Behandlung der Frage, ob Europa nicht allen Grund hätte, Afrikas Flüchtlingen ein Angebot zu machen, das diese davon abhält, sich in Todesgefahr zu begeben. Etwa dieses: Eine Verlosung von unbeschränkten Aufenthaltsgenehmigungen unter Afrikanern, aufgeteilt in Kontingente, die regional gewichtet werden. Eine legale Möglichkeit also für Afrikaner, nach Europa zu gelangen. Dieser Vorschlag entspringt nicht naiver Humanitätsduselei, sondern einer simplen Überlegung: Wie kann man den Druck aus der Flüchtlingsproblematik nehmen, ohne unkontrollierte Einwanderung zuzulassen? Doch darüber will bisher kein Innenminister reden.

So eine Flucht beginnt zum Beispiel in Somalia. Wer dort in den vergangenen 25 Jahren zur Welt gekommen ist, hat in seiner Heimat nie einen Staat erlebt, in dem eine Regierung die Geschicke des Landes lenkt; in dem die Polizei für Ordnung sorgt; in dem Frieden herrscht. Ältere Somalier erinnern sich zwar noch an die Zeiten, in denen das Land einen Präsidenten hatte – aber auch das nicht im Guten. Bevor die Anarchie kam, herrschte in der Hauptstadt Mogadischu der Militärdiktator Mohamed Siad Barre.

Somalia ist seit Jahrzehnten ein sogenannter „failed state“, ein Staat, der keiner mehr ist. Ein Bürgerkrieg hat das Land fest im Griff, Interventionen von außen scheiterten bisher. Islamistische Milizen, die sogenannten Al-Shabab, trotzen Friedenstruppen aus Äthiopien, Kenia und anderen Ländern der Afrikanischen Union. Vergangene Woche scheiterte eine Spezialeinheit der USA beim Versuch, einen Anführer der Al-Shabab festzunehmen.

Es gibt unzählige gute Gründe, aus Somalia zu flüchten. Hunderttausende Menschen haben das bereits getan. Die meisten von ihnen schaffen es zunächst ­einmal knapp über die Grenze ins benachbarte Kenia. Dort werden sie in einem Lager untergebracht, in dem bereits rund eine halbe Million Menschen registriert ist. Der Begriff „Lager“ ist unzureichend für die riesige Zeltstadt namens Dadaab, in der viele Flüchtlinge seit Jahren, manchmal sogar Jahrzehnten hausen. „Das Leben hier ist schrecklich, aber nicht schrecklich genug, um den Menschen einen Ausweg zu ermöglichen“, beschrieb profil die Zustände in einer Reportage aus Dadaab (profil Nr. 21/ 2012).

Die kenianische Regierung will die Insassen von Dadaab auf keinen Fall ins Land vorlassen. Die Angst, dass auf diesem Weg Terroristen der Al-Shabab einsickern, ist groß. Die Flüchtlinge sitzen also in Dadaab fest, wo ein normales Leben unmöglich ist. Es gibt keine Arbeit, man kann kein Stück Land erwerben und bebauen, kein Haus errichten.

Deshalb reihen sich viele tausende in den endlosen Menschenstrom ein, der durch den Kontinent Richtung Norden zieht. Eine besonders stark frequentierte Route führte jahrelang Somalier, Kenianer, Äthiopier und Eritreer zum Bab el Mandeb („Tor der Trauer“) – der Meerenge, die das Horn von Afrika mit der Arabischen Halbinsel verbindet. Dort setzten sie in den Jemen über, zogen weiter durch Saudi Arabien und über Ägypten an die Küste des Mittelmeers.

Doch seit Beduinenstämme am Sinai ein skrupelloses Geschäft daraus gemacht haben, Flüchtlinge zu entführen, grausam zu foltern und so Geld von ihren Familien herauszupressen, wagen sich immer weniger dort hin.
Aber auch die anderen Routen sind lebensgefährlich. Sie führen durch die Sahel-Zone in die Sahara und damit tausende Kilometer durch die Wüste. Ziel sind vor allem Marokko, Libyen und Tunesien. Unbeschadet überstehen diese Reise wohl nur die wenigsten. Auf der Strecke wird geraubt, vergewaltigt, misshandelt. Schlepper müssen bezahlt, Grenzer bestochen werden, und das heißt immer wieder: die Flucht unterbrechen, um Geld zu verdienen. Wer keines mehr hat, kommt auch nicht mehr weiter.

Diejenigen, die es trotz aller Gefahren lebend bis an die Küste schaffen, haben oft eine Tortur hinter sich, die mehrere Jahre gedauert hat. So beschwerlich die Route von den Herkunftsländern bis an die Küste auch sein mag, das gefährlichste Teilstück bleibt das allerletzte: die Überfahrt nach Europa.

Ab hier müssen die Flüchtlinge alles tun, um der Grenzschutz-Maschinerie zu entgehen, die Europa und seine Einzelstaaten zur Abwehr von unerwünschten Immigranten einsetzen.

Das heißt: Sie müssen sich mit Hilfe von Schleppern auf ein irrwitzig riskantes Manöver einlassen, um erfolgreich ans Ziel zu kommen. Aber nicht etwa, weil die Schlepper das so wollen, sondern weil es anders nicht geht. Wäre es Flüchtlingen erlaubt, mit hochseetauglichen Booten gen Europa aufzubrechen, würden längst organisierte Überfahrten angeboten.
„Angesichts der hohen Risiken, die eine Überfahrt mit sich bringt, sollten alle möglichen Anstrengungen unternommen werden, um die Notwendigkeit zu reduzieren, eine derartig gefährliche Reise auf sich zu nehmen“, schreibt die in Wien ansässige Grundrechte-Agentur der EU in einem aktuellen Bericht, der sich mit der Situation der Bootsflüchtlinge auseinandersetzt.

Stattdessen werden die Flüchtlinge zu Kriminellen gemacht. Die Staatengemeinschaft, die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, findet nichts daran, wenn der illegale Grenzübertritt von Mitgliedsstaaten als strafrechtliches Delikt behandelt wird.

„Besonders zynisch”
Manfred Nowak, Menschenrechtsexperte an der Universität Wien und ehemaliger UN-Sonderbeauftragter für Folter, kritisiert den Umgang mit Immigranten im Gespräch mit profil scharf: „Die EU-Politiker haben eine legale Migration unmöglich gemacht und Flüchtlinge ihrer Rechte beraubt.“ Die Haltung der EU-Innenminister, die an den bisherigen Regelungen festhalten wollen, beurteilt Nowak als „besonders zynisch“. Der Völkerrechtler schlägt vor, dass Migration und die Hilfe für in Not geratene Flüchtlinge entkriminalisiert werden und Asylanträge wieder in Botschaften gestellt werden können.

Damit wäre zumindest den Asylwerbern geholfen. Doch viele der Flüchtlinge wählen die Option eines Asylverfahrens nur deshalb, weil es die einzige Chance ist, zumindest eine Zeitlang in Europa bleiben zu können, selbst wenn am Ende ein negativer Bescheid steht. Für Afrikaner, die aus Not ihre Heimat verlassen, hat sich der Begriff des „Wirtschaftsflüchtlings“ eingebürgert. Damit wird suggeriert, dass sich jemand bloß einen wirtschaftlichen Vorteil verschaffen möchte. Ein irreführendes Bild, wenn damit Leute gemeint sind, die aus Ländern kommen, in denen Armut nicht einfach Bedürftigkeit bedeutet, sondern ein Dahinvegetieren ohne jede Perspektive.

Wie groß die Zahl der sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge aus Afrika tatsächlich ist, kann niemand genau sagen. Europa könne all diese Menschen unmöglich aufnehmen, heißt es. Die abweisende Haltung in ihrer reinsten Form repräsentiert etwa Roger Köppel, Chefredakteur der Schweizer Wochenzeitung „Weltwoche“: Die Lampedusa-Flüchtlinge stammten hauptsächlich aus Eritrea und Somalia, die Köppel als „kein verlockendes Territorium“ einstuft. Europa jedoch trage „keine Verantwortung für die Menschen, die der afrikanischen Wirtschaftsmisere entfliehen wollen, anstatt sie durch Leistung und Anstrengung zu beheben“. Köppels Fazit: „Die europäischen Grenzen gegen Afrika müssen dichtgemacht werden.“

Die europäischen Innenminister, allen voran Deutschlands Hans-Peter Friedrich, weigern sich, an der derzeitigen Flüchtlingspolitik irgendetwas zu ändern. Selbst der Vorschlag, die Einwanderer innerhalb der EU anders aufzuteilen, stieß auf taube Ohren.

Damit wird der Status quo aufrechterhalten, und die Schiffsunglücke im südlichen Mittelmeer mit jährlich tausenden Toten bleiben Alltag.
Natürlich ist Europa nicht unmittelbar für den Bürgerkrieg in Somalia oder ein unterdrückerisches Regime in Eritrea verantwortlich, doch das Erbe des Kolonialismus spielt in vielen Konflikten des afrikanischen Kontinents bis heute ein Rolle. Europa kann seine Verantwortung auch Jahrzehnte nach der Entkolonialisierung nicht einfach abschütteln.

Nimmt es seine Verantwortung wahr – und viel spricht dafür, dass es das
sollte –, dann kann die Reaktion auf das Unglück von Lampedusa sich nicht in der Verstärkung von Abwehrmaßnahmen und dem Aufstocken von Rettungskapazitäten erschöpfen. Stattdessen muss Europa für Afrikaner eine Möglichkeit der legalen Einwanderung schaffen. Etwa eine der US-amerikanischen Green- Card-Lotterie nachempfundene Vergabe von Einwanderungsgenehmigungen an Afrikaner.

Die USA haben als traditionelles Einwanderungsland entsprechend viel Erfahrung mit Zuwanderungs-Konzepten. Die sogenannte Green-Card-Lotterie war eine Idee, die dem damaligen US-Präsident Ronald Reagan zugeschrieben wird. In seine Amtszeit fiel die Legalisierung von über zwei Millionen illegal in den USA ansässigen Mexikanern, und der Präsident machte sich deshalb Sorgen um die ethnische Durchmischung der US-Bevölkerung. Die Lösung: Bürger von Staaten, aus denen bis dahin wenige Einwanderer in die USA gekommen waren, sollten die Gelegenheit erhalten, sich um festgelegte Kontingente von unbegrenzten Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen zu bewerben. Die Green-Card-Lotterie war geboren. Umgesetzt wurde die Idee zum ersten Mal 1995, und seither werden jedes Jahr 55.000 der begehrten Plätze nach dem Zufallsprinzip verlost.

Nach einem ähnlichen Modell könnte Europa Afrikaner aufnehmen. Länder, aus denen besonders viele Flüchtlinge stammen, würden dabei bevorzugt. Insgesamt müsste die Zahl der Aufgenommenen hoch genug sein, um die Teilnahme an der Lotterie für afrikanische Flüchtlinge attraktiv zu machen. Mit einer Öffnung der Grenzen für alle hat das nichts zu tun. Europa prüft nach dem Vorbild des US-Modells den Hintergrund der Bewerber auf Terrorismusverdacht und dergleichen, wer tatsächlich einwandert, benötigt ein Gesundheitszeugnis.

Sinnvollerweise sollte man auf diesem Weg eingewanderte Afrikaner nicht einfach ihrem Schicksal überlassen, sondern ihnen Ausbildungs- und Arbeitsprogramme bieten. Im besten Fall sollten sie Qualifikationen erwerben, mit denen sie später – freiwillig – in ihre Heimat zurückkehren können, um da am Aufbau ihres jeweiligen Landes mitzuhelfen, falls dies die politische Lage zulässt. Auch bei der Rückkehr und dem Start in der alten Heimat könnte man sie unterstützen.

Eine unbezahlbare Utopie? Würden europäische Staaten wie etwa Österreich ihre international seit vielen Jahren zugesagten finanziellen Mittel für Entwicklungszusammenarbeit endlich aufbringen, wäre die Finanzierung bereits gesichert.

Was spricht noch gegen eine Einwanderungsaktion?
Die Angst vor Missbrauch. Im Kampf dagegen haben die USA inzwischen Erfahrung, und sie sehen bisher keinen Grund, die Lotterie wieder einzustellen.

Die Sorge, Terroristen könnten auf diesem Weg einsickern. Doch der Gewinn einer Green Card garantiert noch nicht die tatsächliche Einreise. Die USA untersuchen die Vorgeschichte jedes Applikanten genau. Im Übrigen müssen Sicherheitsfragen auch im Fall von Asylwerbern geprüft werden.

Auch die erfolgreiche Einführung einer Green-Card-Lotterie könnte wohl nicht gänzlich verhindern, dass afrikanische Flüchtlinge mit ihrem Leben hasardieren und den Weg über das Mittelmeer wagen. Aber die Zahl würde sinken, und Europa hätte das gute Recht, auf seine Bemühungen zu verweisen, anstatt wie jetzt beschämt ein Staatsbegräbnis auszurichten und damit Tote zu ehren, die derselbe Staat zu Lebzeiten nicht haben wollte.

Bleibt noch die wesentliche Frage der politischen Durchsetzbarkeit einer Einwanderungskampagne. In einer Umfrage des deutschen Senders ARD sprachen sich nach dem Unglück von Lampedusa 51 Prozent der Befragten gegen eine Aufnahme von mehr Migranten in Deutschland aus. Allerdings vertrat in derselben Befragung eine Mehrheit von 52 Prozent die Meinung, dass die EU insgesamt sehr wohl mehr Flüchtlinge aufnehmen sollte.

Die großen europäischen Volksparteien, Christdemokraten und Sozialdemokraten, hätten beide Kraft ihrer Ideologie ­jeweils ein gutes Argument für die Aufnahme von Afrikanern: Christliche Nächstenliebe, respektive brüderlichen Internationalismus. Doch die realpolitische Verfasstheit beider Lager sieht anders aus. Nächstenliebe ist etwas für niedliche Spendenaktionen in Schulen, und Internationalismus gilbt auf Fahnen vor sich hin, die nur am 1. Mai an die Luft kommen.

Über 300 Tote waren nicht genug, um ein Umdenken in Gang zu setzen. Freitag Abend meldeten Nachrichtenagenturen, dass wieder ein Schiff mit 200 Flüchtlingen an Bord 70 Seemeilen südöstlich von Lampedusa in Seenot geraten sei.

Mitarbeit: Otmar Lahodynsky