Landwirtschaft: Die Mauern der Bauern

Europas Landwirte blockieren EU und WTO

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Jacques Chirac liebt gutes Essen, das ist spätestens seit 2003 klar. Damals kam ans Tageslicht, dass der französische Präsident in seiner Zeit als Pariser Bürgermeister von 1987 bis 1995 dem Staat 2,1 Millionen Euro für private Lebensmitteleinkäufe verrechnet hatte – knappe 150 Euro pro Tag. Seine Schwäche für Gaumenfreuden stellte Chirac auch vergangene Woche wieder unter Beweis: Er verlangte von der EU eine Senkung der Mehrwertsteuer für Mahlzeiten in Restaurants.

Chiracs Idee hatte dem EU-Gipfel, der diese Woche in Brüssel stattfindet, gerade noch gefehlt. Unter der Leitung von Großbritanniens Premier Tony Blair soll endlich das EU-Budget für die Jahre 2007 bis 2013 fixiert werden. Dabei hat die EU schon genug zu kauen an einem Thema, das auch viel mit Frankreich und Essen zu tun hat – den Subventionen für die europäische Landwirtschaft. Zeitgleich droht sich auch die große Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO, die ebenfalls diese Woche in Hongkong tagt, an Frankreichs Bauern die Zähne auszubeißen.

Europas Landwirte stehen im Rampenlicht. Zu einer kleinen Gruppe geschrumpft – sie stellen etwa fünf Prozent der arbeitenden Bevölkerung –, erhalten sie mehr als 40 Prozent des EU-Budgets als Subventionen. Der Streit darüber legt sowohl die EU als auch die WTO lahm, denn Jacques Chirac, Europas mächtigster Bauernvertreter, schmettert alle Änderungen mit einer Vetodrohung ab.

Wie sind Europas Landwirte zum Stolperstein für gleich zwei internationale Gipfeltreffen geworden? Was macht sie so mächtig? Und warum werden sie so stark gefördert?

1. Die Bauern und die WTO

In der WTO sind Europas Bauern schon seit Jahren das bestimmende Thema. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hatten die Industriestaaten den Entwicklungsländern beim WTO-Gipfel in Qatars Hauptstadt Doha versprochen, ein gerechteres Regelwerk für den Welthandel auszuarbeiten. Denn auf Druck der reichen Staaten des Nordens hatten die Länder des Südens ihre Märkte für Industriegüter geöffnet. Nun fordern die Entwicklungsländer mehr Freihandel auch in einem Sektor, in dem sie selbst konkurrenzfähig sind: in der Landwirtschaft.

Die EU, die USA und andere Industriestaaten schützen und stützen ihre Bauern mit enormen Summen – 300 Milliarden Dollar an öffentlichen Mitteln sind es laut OECD jährlich, mehr als die gesamte Wirtschaftsleistung Afrikas. Hohe Zölle lassen den Entwicklungsländern keine Chance, ihre billigeren Agrarprodukte im Norden zu verkaufen. Damit nicht genug: Die Fördersysteme verleiten die Bauern in den entwickelten Ländern dazu, Überschüsse an Zucker, Butter und anderen Nahrungsmitteln zu produzieren. Diese werden dann – mit weiteren staatlichen Hilfen – zu Mindestpreisen auf den Weltmärkten verschleudert. Der Effekt: Hunderte Millionen Bauern in Entwicklungsländern können nicht einmal auf ihren eigenen Märkten mit europäischen und amerikanischen Dumpingpreisen konkurrieren. „Die Exportsubventionen sind ein Wahnsinn, das muss beendet werden“, fordert der österreichische Agrarexperte und NGO-Berater Leon Lenhart.

Vor allem die Europäer genießen den Ruf der Blockierer. Die Forderungen der Entwicklungsländer nach einer geänderten Agrarpolitik wehren EU-Bauernvertreter mit der immer gleichen Antwort ab: Man habe doch schon 2003 das System umgestellt.

Tatsächlich wurde unter EU-Agrarkommissar Franz Fischler beschlossen, die „gemeinsame Agrarpolitik“ der EU zu reformieren: Bauern sollen ihre Subventionen unabhängig davon erhalten, wie viel sie produzieren, damit weniger Überschüsse anfallen. Doch einstweilen ändert sich nicht viel: Jacques Chirac hat dafür gesorgt, dass die Gesamthöhe der Förderungen bis 2013 unangetastet bleibt, und auch die Exportsubventionen sollen noch bis 2017 laufen. Darüber hinaus wird die neue Regelung durch zahlreiche Schlupflöcher unterlaufen.

Den Entwicklungsländern unter der Führung von Brasilien ist ob dieser Hinhaltetaktik längst der Kragen geplatzt. Sie klagen vor dem WTO-Schiedsgericht gegen das EU-Fördersystem. Unlängst zwangen sie die EU dadurch zu einer Senkung ihrer Zuckersubventionen. Auch eine Reihe weiterer Förderprogramme für EU-Produkte wie Tomatenmark, Fruchtsäfte, Butter oder Tabak gilt vor der WTO als illegal, wie die britische Entwicklungsorganisation Oxfam jüngst in einem Bericht darlegte. Spanische und italienische Orangensaftproduzenten etwa erhalten Subventionen, die dreimal so hoch sind wie der Wert der produzierten Saftmengen. Marokkanische Erzeuger sind dadurch chancenlos – und könnten bei der WTO Klage einreichen.

Wenn die EU diese Woche bei den WTO-Verhandlungen in Hongkong weitere Agrarreformen verweigere, argumentieren die Oxfam-Autoren, drohe ihr eine Klagewelle. Jacques Chirac hat den Ton freilich schon vorgegeben: Gegen alles, was über die Reform von 2003 hinausgeht, werde er sein Veto erheben.

2. Die Bauern und die EU

Mehr als 40 Milliarden Euro jährlich erhalten Europas Bauern direkt von der EU, dazu noch nationale Mittel. Der Löwenanteil – knapp zehn Milliarden Euro – geht an Frankreichs Landwirte. Diese Summen bilden die Wurzel des Finanzstreits, der seit Wochen um das EU-Budget für die Jahre 2007 bis 2013 tobt. Dabei prallen die britischen und die französischen Vorstellungen unversöhnlich aufeinander. Tony Blair will die Agrarsubventionen senken und stattdessen die Forschung stärker fördern, Chirac stemmt sich gegen jede Kürzung für seine Bauern vor 2013.

Damit findet ein jahrzehntealter Streit seine Fortsetzung. Unter dem Eindruck des Hungers nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das französische Modell der Planwirtschaft am Agrarsektor schon 1960, in der Frühphase der europäischen Integration, auf europäische Ebene übertragen. Doch schon in den siebziger Jahren war von Ernährungskrisen keine Rede mehr, stattdessen wurden erste erfolglose Versuche gestartet, der Überproduktion Herr zu werden. In den achtziger Jahren stiegen die Kosten des Systems rasant an, und die britische Regierung weigerte sich, weiter mitzuzahlen. Weil die wenigen britischen Bauern nur spärliche Subventionen erhielten, handelte Premierministerin Margaret Thatcher den berüchtigten „Britenrabatt“ aus, jenen Nachlass, der nun für scharfe Diskussionen sorgt.

Die ersten Einschnitte mussten Europas Bauern nach 1992 hinnehmen, als „Milchseen“ und „Butterberge“ unfinanzierbar geworden waren. 2003, am Vorabend der EU-Osterweiterung, wurde schließlich die Fischler-Reform beschlossen. Deren Grundgedanke scheint vernünftig: Die EU-Zahlungen sollen von der Produktion entkoppelt werden, sodass die Bauern nicht nur der Fördergelder wegen produzieren, sondern sich mehr am Markt – sprich: am tatsächlichen Bedarf – orientieren. Daneben soll die ländliche Entwicklung gefördert werden, um Abwanderung und Verödung in Randgegenden zu bremsen.

Doch in den laufenden Budgetverhandlungen droht nun ein fauler Kompromiss: Blair will den Britenrabatt nicht aufgeben, solange die Direktzahlungen an die Bauern nicht gekürzt werden. Genau in dieser Frage ist Chirac aber unbeweglich wie ein Findling im Kornfeld. Deshalb schlägt Blair nun Kürzungen bei den Schwächsten vor – bei den Osteuropäern und bei den Budgets für die ländliche Entwicklung, die die EU eigentlich forcieren wollte.

3. Warum sind die Bauern so mächtig?

Die Zahl der Landwirte nimmt seit Jahrzehnten europaweit ab, dennoch sind sie ein überraschend beharrlicher Machtfaktor und ein Standbein konservativer Politik. In Österreich sind 26 Prozent der ÖVP-Parlamentarier Mitglieder des Bauernbunds. In Polen drängt die rechte Bauernpartei Samoobrona gerade in die Regierung. Und Frankreichs Präsident Chirac war im Herzen immer schon ein Bauer: Seine ersten Sporen in einer Regierung verdiente er sich 1972 als Landwirtschaftsminister.

Da drängt sich die Frage auf: Wie machen die Bauern das? Wie schafft es eine kleine Gruppe, mehr als 40 Prozent aller EU-Mittel zu blockieren? Wie bringt sie die öffentliche Hand dazu, ihnen im Durchschnitt über 80 Prozent ihrer Einkommen zu zahlen? Bis in den letzten Winkel hat sich die Marktwirtschaft durchgesetzt, nur dem Agrarsektor schenkt der Staat noch regulierte Preise, üppige Subventionen, fixe Quoten und hohe Zölle. Die nichtbäuerliche Bevölkerung protestiert nicht gegen das Ergebnis – hohe Steuern und Preise. Macht Kontinentaleuropa aus Bauern einen Fetisch, wie der britische „Economist“ vermutet?

Des Rätsels Lösung ist wohl das gute Image der Bauern. Das Wort „Bauer“ weckt Assoziationen mit Bodenständigkeit, Naturverbundenheit, Ehrlichkeit, Gesundheit und Heimat. Wenn die Bauernschaft aufschreit, behauptet, auf dem „Altar der Globalisierung“ geopfert zu werden, „amerikanische“ Verhältnisse heraufdräuen sieht und vor Konkurrenz aus dem Ausland warnt, dann steht die Öffentlichkeit an ihrer Seite: Schließlich geht es um das Grundbedürfnis Essen. Speziell in Frankreich ist das Teil der nationalen Identität, nur dort attackieren Bauern mit ihren Traktoren McDonald’s-Filialen.

Das imaginierte bäuerliche Idyll hat allerdings weniger mit der Realität zu tun als mit der geschickten Arbeit der Agrarlobby. 80 Prozent der Landwirtschaftsförderungen gehen an die 20 Prozent der größten Betriebe, auch in Frankreich. Die bedeutendsten Nutznießer der EU-Subventionen sind große Landbesitzer wie das britische Königshaus und Prinz Albert von Monaco sowie riesige Genussmittelkonzerne wie Mars, Nestlé und Philip Morris.

In Österreich mit seinen kleinbäuerlichen Strukturen und dem europaweit höchsten Anteil von Biobauern klaffen bäuerlicher Mythos und Wirklichkeit nicht so auseinander wie anderswo. Umso leichter gelingt Österreichs Landwirten der Schulterschluss mit Globalisierungsgegnern und NGOs, denen die WTO ohnehin ein Dorn im Auge ist. Gemeinsam mit Entwicklungsorganisationen und der Bischofskonferenz fordert der österreichische Bauernbund etwa „faire Spielregeln für den weltweiten Agrarhandel“ und bessere soziale Bedingungen für die Dritte Welt.

4. Bringt mehr Marktwirtschaft Europas Bauern den Tod?

Erst vergangene Woche sprach Rudolf Schwarzböck, Präsident des europäischen Bauernverbands COPA und der Landwirtschaftskammer Österreich, wieder vom „Ende der bäuerlichen Landwirtschaft“. Wörter wie „Katastrophe“ oder „Tod“ gibt es in Agrarkreisen derzeit zum Saufüttern. Wie ernst zu nehmen sind solche Warnungen?

Drei Argumente werden von Bauernvertretern stets gegen Subventionsabbau und Marktöffnung vorgebracht:

Produkte aus Entwicklungsländern seien deshalb so billig, weil in den betreffenden Staaten Mensch und Natur ausgebeutet würden. Eine Öffnung des europäischen Markts würde den Ärmsten gar nichts bringen. Entwicklungsexperten entgegnen: Wenn Sozial- und Umweltstandards in Entwicklungsländern steigen sollen, darf man sie vom Handel nicht länger ausschließen. Bauernpolitiker sagen, Europa müsse aus strategischen Gründen seine „Versorgungssicherheit“ bewahren und dürfe sich nicht von Nahrungsmittellieferungen aus Drittländern abhängig machen. Im 21. Jahrhundert klingt dieses Argument seltsam altmodisch: Europas Textilsektor ist weit gehend verschwunden, ohne dass Angst vor erzwungener Nacktheit laut wurde. Und auch die Produktion von Medikamenten ist globalisiert. Laut Bauernvertretern würde nur die effiziente Agrarindustrie in den klimatischen Gunstlagen eine völlige Marktöffnung überleben, Klein- und Bergbauern müssten den Job wechseln. Ganze Landstriche würden durch Abwanderung veröden, was auch den Tourismus schädigen würde. Dieses Schreckensszenario malen aber nur die Bauern selbst: Eine derart radikale Öffnung verlangt niemand.


Aber nicht einmal eine völlige Abschaffung von Subventionen muss das Ende des Bauerntums bedeuten. Das zeigt das Beispiel Neuseeland: Dort strich die Labour-Regierung in den achtziger Jahren innerhalb kürzester Zeit alle Förderungen. Die Bauern schafften den Umstieg, nur ein kleiner Teil musste aufgeben. Heute ist Neuseeland erfolgreicher Agrarexporteur.

Dass Europa diesen Weg nicht gehen wird, darf angenommen werden. Jacques Chirac mag sicher keine Kiwis.

Von Sebastian Heinzel