Leidfigur

Zeitgeist. Wir sind alle Patienten

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Mit Kurzmeldungen ist zu rechnen. Mit einem medialen Widerhall, der dem Ereignis gerecht werden würde, eher nicht. Im Mai wird die American Psychiatric Association die fünfte Auflage ihres „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM-5) publizieren. Das Manual verzeichnet und klassifiziert alle anerkannten psychiatrischen Krankheiten und ihre Diagnosen. Es wird weltweit vorbildhaft wirken und mit jedem neuen Eintrag auch eine neue Krankheit ermöglichen. Es wird Störungen enthalten, die bis dato keine waren. Es wird Mankos, die vorher halb so schlimm waren, zu ganz schlimmen Mankos befördern. Es wird Gefühle und andere Alltäglichkeiten pathologisieren. Anhaltende Trauer zum Beispiel soll nach den neuen Diagnoserichtlinien sehr viel schneller zum depressiven Symptom werden als bisher. Zwanghaftes Sammeln auch. Außerdem neu im psychiatrischen Repertoire: die hypersexuelle Störung, also das, was man früher nur als „Sexsucht“ kannte, und das auch nur aus der Prominentenberichter­stattung.

Ein Stück kränker
Ab Mai wird die Welt also wieder ein Stück kränker. Das entbehrt nicht einer gewissen Folgerichtigkeit und passt auch ganz ausgezeichnet zum Zeitgeist. Kranksein ist die typische Tätigkeit der Gegenwart, der Patient der allertypischste Zeitgenosse. Jede Zeit hat ihre Leitfiguren. Man erkennt sie meistens erst mit ein paar Jahren Abstand. Aber dann stehen sie stellvertretend für eine ganze Ära (auch wenn sie zu ihrer Zeit nicht unbedingt die Mehrheit, ja selbst wenn sie nur einen Bruchteil der Gesamtbevölkerung ausmachten). In den 1950er-Jahren stand der spar- und arbeitsame Wirtschaftswundertyp im Vordergrund. Es folgte der revolutionäre 68er. Der hemdsärmelige „Wall Street“-Fan. Das Girlie. Der Reality-Show-Gewinner. Der Bobo.

Am Ende dieser Typenparade steht der Patient. Der Mensch definiert sich heute nicht mehr als Weltverbesserer, -wiederaufbauer oder -tollfinder. Er leidet, und nur als Leidender ist er ganz bei sich. Meistens sind es gar keine körperlichen Beschwerden, an denen er leidet, und wenn es doch einmal wehtut, dann ist das mit großer Wahrscheinlichkeit auch Kopfsache. Seine Krankheiten heißen: Burn-out, Depression, Aufmerksamkeitsstörung, Allergie, Lebensmittelunverträglichkeit, Angststörung, Erschöpfung, Überforderung, Verspannung, Spielsucht, Internetsucht, Sexsucht, Fettsucht. Schweine- oder Vogelgrippe gehören nicht dazu, sehr wohl aber die krankhafte Furcht davor. Wer keines der genannten Leiden im Krankenschein stehen hat, ist unzeitgemäß. Aber das ist ohnehin nicht sehr wahrscheinlich. Irgendwas fehlt immer. Krank zu sein bedarf es wenig.
So eindeutig der Befund, so unklar seine Ursache. Nie waren die Menschen gesünder, nie lebten sie so bewusst wie heute. Und nie haben sie sich so sehr über ihre Defekte definiert, nie so viel über ihre Beschwerden nachgedacht. An klassischen gesundheitsstatistischen Parametern wie Spitalsaufenthalten oder Krankenstandstagen lässt sich die Konjunktur des Patienten nicht messen. Beide Kennzahlen steigen zwar kontinuierlich, aber keineswegs sprunghaft. Der Patient ist kein Hypochonder, er geht auch nicht gern zum Arzt: weil seine Leiden keine Krankheiten sind, die von Ärzten geheilt werden, sondern von Psychotherapeuten, Ernährungsberatern, Yoga-Lehrern oder Life-Coaches. Sehr viel eindeutiger fällt die Diagnose nach einem Besuch im Buch- und Zeitungsladen aus. Kein Lifestyle-Magazin ohne Wege-aus-dem-Burn-out, keine Servicebroschüre ohne Glutenallergie-was-Sie-jetzt-tun-können, kein Bestsellerstapel ohne Wohin-mit-der-Angst? Die „Apotheken-Umschau“ ist nur deshalb nicht das Leitblatt dieser Generation, weil deren Themen schon längst von allen anderen Medien okkupiert werden.

Im Prominentenfernsehen gestehen Schauspielerinnen ihren Alkoholismus und Moderatoren ihre Panikattacken. Selbst die politischen Talkshows des Spätabends nähern sich laufend den Geständnisprogrammen vom Nachmittag. Manchmal muss man schon ganz genau aufpassen, ob man noch im „Zentrum“ oder schon bei Barbara Karlich sitzt.

Verkappter Narziss
„Der Barbar, erkennen wir, hat es leicht, gesund zu sein, für den Kulturmenschen ist es eine schwere Aufgabe“, formuliert Sigmund Freud in seinem „Abriss der Psychoanalyse“. Mit anderen Worten: Wer fähig ist, über sich selbst nachzudenken, wird auf die eigenen Defizite stoßen. Und noch nie wurde so intensiv über sich selbst nachgedacht wie heute. Der Patient ist auch ein verkappter Narziss – und ganz bestimmt kein Barbar. Außerdem ist er ein Fein- und Freigeist, vor allem aber Letzteres, und das ist es auch, was ihn leiden lässt. Der Patient ist in erster Linie ein Liberalisierungsverlierer. Freiheit macht krank.

Dabei geht es dem Patienten eigentlich gar nicht so schlecht. Er hat einen Job, der ihm viele Möglichkeiten lässt, eine Familie, die sich nicht um althergebrachte Rollenmuster schert, genug Geld, um sich ein profil-Abo zu leisten und ab und zu sogar einen Rostbraten vom Biofleischhauer. Leider kommt das alles mit einem Haken daher. Er hat einen Job und weiß nicht, wie er sich seine Freiräume einteilen soll. Er hat eine Familie und keine Ahnung, wie er die Kinder in den Griff kriegt. Er hat ein profil-Abo und fürchtet sich schon vor dem nächsten Burn-out-Cover. Und vom Fleisch bekommt er leider immer Bauchweh. Das liegt wahrscheinlich am schlechten Gewissen gegenüber den armen Tieren, ist möglicherweise aber auch nur eine Nahrungsmittelunverträglichkeit. Dagegen hilft wenigstens eine Diät. Gegen das Leben als solches gibt es keine Tabletten. Zumindest keine ungiftigen.

Krankheit, ob echt oder vorgetäuscht, war einmal ein Weg, sich subversiv „dem System“ zu widersetzen. Das Krankfeiern richtete sich gegen „die da oben“ (in der Chefetage, im Parlament, im Elternschlafzimmer) und eröffnete Freiräume (zum Fernsehen, Nachdenken, Weiterschlafen). Inzwischen ist die Krankheit selbst System geworden, und die da oben sind auch nicht gesünder als man selbst. Der einmal erträumte Freiraum heißt heute Arbeitsplatz, ist locker, selbstbestimmt und ein Ort, an den man sich auch mit Fieber schleppt. Mit Burn-out sowieso. Schon Kleinkinder werden zu prächtigen Patienten erzogen. Jede Aufsässigkeit wird zur Pathologie erklärt und mit Tabletten wegtherapiert, damit der Nachwuchs in der Schule nicht so herumzappelt. Das heißt dann: fürs Leben lernen.

Zu den allergrößten Problemen des modernen Menschen gehört die nur schwer erträgliche Tatsache, dass alle im Lauf der vergangenen hundertfünfzig Jahre erkämpften Freiheiten (von Traditionen, Institutionen, Ideologien) das Leben besser, aber auch anstrengender machen. Freiheit verpflichtet. Auch Selbstverantwortung muss erst einmal getragen werden. Der Mensch erfüllt nicht mehr seine Pflicht, sondern seine Potenziale und kann sich leider nur ganz schlecht dagegen wehren, weil jeder ja seines eigenen Glückes Schmied ist. Und Glück ist Pflicht. Der Mensch muss keinem Über-Ich mehr gehorchen, aber er muss Ich sein und ist davon schlicht überfordert. Man arbeitet sich nicht mehr an Widersachern ab, sondern nur noch an sich selbst. Der Feind ist kein Vorgesetzter oder Polizist, sondern die eigene Nervosität, Überforderung, Leistungsschwäche. Am meisten Bauchweh beschert der gut gemeinte Rat: Mach doch, was du willst!

Der französische Soziologe Alain Ehrenberg erklärte in seinem viel zitierten Werk „Das erschöpfte Selbst“ bereits Ende der 1990er-Jahre das Elend der Moderne: „Sich befreien macht nervös, befreit sein depressiv.“ Sein Kollege Richard Sennett beschrieb die Überforderung des Menschen mit dem dauernden, möglichst authentischen Er-selbst-Sein sogar schon zwei Jahrzehnte zuvor („Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“). Seither hat sich allerdings etwas ereignet, das den Patienten erst so wirklich zum Patienten machte und damit zum Leittypus seiner Zeit: Er ist online gegangen.

Problem und Folgeproblem
Im digitalen Netz hängt alles mit allem zusammen, jeder hat potenziell mit jedem zu tun. Die sechs Bekanntschaften, die laut gängiger Folklore zwischen zwei beliebigen Menschen stehen, haben sich online auf zwei, vielleicht sogar auf eine verdichtet. Die Wege werden kürzer, aber deshalb nicht weniger anstrengend. Die quälende Selbstbefragung, die den Patienten so sehr auslaugt und erschöpft, kommt vor diesem Hintergrund gar nicht mehr zur Ruhe. Jedes Problem führt sofort zu einem Folgeproblem und dieses wieder zu einem unerwarteten Ursprungsproblem. Die Kette der menschlichen Verhältnisse ist potenziell unendlich – und mit ihr die Kette der menschlichen Versäumnisse. Jeder Einzelne ist für alles andere zumindest übers Eck zuständig und also verantwortlich. Am Beispiel der Billigbanane, die man gerade gekauft hat: Macht sie den Fair-Trade-Gedanken kaputt und mittelamerikanische Räuberbarone reich? Zerstört sie per Schiffsverkehr die Weltmeere, über die sie zu uns geschippert ist? Und was das wieder an Treibstoff verschlungen hat! Ist gar diese Banane schuld daran, dass das Benzin gerade so teuer ist? Welche Räuberbarone verdienen daran wieder mit? Und wie gesund ist so eine Banane eigentlich? Frage türmt sich auf Frage, und Beratung lauert überall. Psychologen, Ernährungscoaches, Magensonden und Bioethiker warten schon darauf, das Bananenproblem auseinanderzunehmen. Jede Kleinigkeit ist ein Problem. Und damit Anlass für eine Geschäftsbeziehung.

Mit der endlosen Ausdehnung unserer Möglichkeiten und Verantwortungen geht aber auch unser Handlungsspielraum verloren: Wir sind überfordert und zu erschöpft, um alles zu tun, was wir tun könnten. Also tun wir lieber nichts und essen mit Bauchweh unsere Billigbanane.

Denn eine Kompetenz bleibt uns unbenommen: schlechtes Gewissen. Psychosomatik heißt die Kunst, aus dem schlechten Gewissen etwas Behandelbares zu machen und aus Bauchweh eine Ernährungsberaterindustrie. Denn, und das darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, der Patient ist natürlich ein perfekter Marktteilnehmer, auch wenn sein Burn-out bei vorschneller Betrachtung wie eine Betriebsstörung aussieht. Wer auf der einen Seite aus dem Erwerbsleben herausfällt, sorgt am anderen Ende für Vielfachbeschäftigung: bei behandelnden Ärzten und Therapeuten, Schnapshändlern, Wellnessoasen und Lebensstilberatern.

Das Leiden des Patienten ist immer auch ein Leiden am Ideal. Wer alle Freiheiten hat, kann alles tun und muss es also auch. Vor dem Imperativ der Selbstverwirklichung ist kein Schülerlotse mehr gefeit, jeder Bäcker hat gefälligst kreativ zu sein. Der Fluchtpunkt, auf den hin man begehrt, verschiebt sich ins Unerreichbare. Und sich nach dem Unerreichbaren zu strecken macht sehr schnell sehr müde. Das alles diskreditiert nicht das Projekt der Individualisierung. Es konstatiert nur die Dissonanz zwischen möglicher und erreichter Selbstverwirklichung. Wir werden nicht an der Freiheit krank, sondern an zu viel Freiheitsdrang. Dass ausgerechnet Papst Benedikt XVI., ein giftiger Kritiker des allzu modernen Alles-ist-Möglich, aus gesundheitlichen Gründen ins Kloster ging, ist vor diesem Hintergrund tatsächlich eine völlig jenseitige Pointe.

Apropos. Wo bleiben Witz und Ironie? War Letztere nicht jahrelang das Vademecum, wenn es darum ging, sich selbst vor der Überforderung zu schützen, vor zu viel Anspruch und davor, sich selbst allzu ernst zu nehmen? Waren die neunziger und Nullerjahre nicht die Hochzeiten des Uneigentlichen, des unernsten Sprechens, des zitathaften Lebens? Erst kam Harald Schmidt, dann der Hipster, und keiner meinte das, was er sagte oder tat, wirklich ernst. Polenwitze oder hässliche Hosen – alles nur Posen! Leider funktioniert das heute nicht mehr. Ironie befreit nicht mehr vom Zwang der Freiheit, weil sie selbst unfrei geworden ist. Genauer: zu einer Marketingstrategie. Ironie funktioniert nur noch im Rahmen von Social-Media-Kampagnen. Zum Selbstschutz taugt sie nicht mehr.

Dementsprechend lautet auch der Imperativ der frühen zehner Jahre: Bitte echt sein! Authentisch bleiben! Was fürs Biogemüse gilt, bleibt auch dem Menschen nicht erspart: Zurück zur Natur! Erst die innere Balance macht den guten Menschen aus, das vollauthentische In-sich-Ruhen ist auch moralische Pflicht. Bei Schwierigkeiten helfen Joghurtdrinks und Yogalehrer, in gravierenden Fällen auch Populärphilosophen und andere Seelsorger. Denn mit Egos spielt man nicht. Man kultiviert sie. Und wie beim Biogemüse gilt: Kleine Makel bestätigen die Echtheit.

Im Grunde ist der Patient nämlich Egozentriker. Praktischerweise handelt es sich auch dabei um eine Krankheit. Nur kurz hatten die Herausgeber des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ erwogen, die narzisstische Persönlichkeitsstörung mit der kommenden Neuauflage aus dem Handbuch zu entfernen. Man entschied sich dagegen. Wahrscheinlich aus therapeutischen Gründen. Nichts tut Narzissten mehr weh, als ignoriert zu werden. Man ist schließlich nicht zum Spaß gestört.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.