„An Schulschwächen sind wir Erwachsenen schuld“

Reportage. profil über das Erfolgsgeheimnis ­skandinavischer Schulen

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Mit großen Augen verfolgen Sechsjährige die Bewegungen von Tuula Jerkku. Die Vorschullehrerin zeichnet einen roten Kreis, ein blaues Quadrat und ein gelbes Dreieck auf die Tafel. Dann fragt sie die Kinder, welche Formen und Farben das sind. Sofort recken sich alle Händchen in die Höhe. Das war leicht. Nun werden Papier und Stifte verteilt. Die Lehrerin erteilt ihren zehn Schützlingen die Anweisung: „Schreibt zuerst eure Namen auf das Blatt, das könnt ihr ja schon. Danach malt ihr jeweils in einer Reihe vier gelbe Dreiecke, darunter fünf blaue Quadrate und schließlich sieben rote Kreise.“

Eifrig gehen die Kinder ans Werk. Ein kleiner blonder Junge blickt unsicher um sich. Er hat drei große, rote Dreiecke auf sein Blatt gemalt. Sofort schnappt sich Tuula einen Stuhl und setzt sich zu ihm. Ihre Assistentin kümmert sich inzwischen um die anderen Kinder. Ruhig erklärt die Lehrerin dem Jungen nochmals die Aufgabe. Schließlich begreift auch er, was von ihm verlangt wird. Bald sind alle Kinder fertig, doch bevor sie hinaus auf den Spielplatz dürfen, müssen sie noch die soeben fabrizierten Blätter in ihre liebevoll gestalteten Mappen im Bücherbord legen.

In den Mappen werden auch Lernerfolge, Schwierigkeiten der Kinder und die Art, wie sie die Stifte halten, vermerkt. An der Stifthaltung und anderen Verhaltensmerkmalen erkennen die speziell ausgebildeten Vorschullehrerinnen, ob das Kind feinmotorische Defizite hat, ob es logopädische Unterstützung braucht. Da die Größe der Gruppen mit zehn Kindern begrenzt ist, kann sich die Lehrerin oder die Assis­tentin auch speziell um kindliche Schwächen kümmern – falls erforderlich, zieht sie Spezialisten zurate.

Das frühe Erkennen von und Arbeiten an kindlichen Schwächen sind ein generelles Prinzip des finnischen Schulwesens. Dazu gehört bestmögliche Förderung in der Klasse, nur im äußers­ten Fall gibt es kleine Nachhilfegruppen. Denn die Kinder sollen so lange wie möglich im Klassenverband integriert bleiben und so schnell wie möglich einen Level erreichen, um dem normalen Unterricht folgen zu können. Spezielle Förderprogramme sind auf allen Ebenen Teil des Schulsys­tems, private Nachhilfelehrer sind weitgehend unbekannt. Das ist einer der Gründe, warum das skandinavische Bildungssystem um so viel erfolgreicher ist als das österreichische.

Leena Lahtinen, Direktorin des Kindergartens Maitorpan, in dem Tuula arbeitet, beschreibt den finnischen Zugang zur Bildung so: „Wir haben die Einstellung, dass bei Schulschwächen wir Erwachsenen versagt haben. Wir haben dann entweder nicht hingesehen oder uns zu wenig überlegt, wie wir dem Kind helfen können.“

Nicht zufällig hat Finnland weltweit den größten Anteil an hochbegabten Schülern und die geringste Anzahl von Risikoschülern. Kaum zehn Prozent zeigen in mindestens einem Fach Schwächen, während an die 33 Prozent in mindestens einem Gegenstand überdurchschnittlich gut sind. In Österreich hingegen beträgt der Anteil in der Risikogruppe fast dreißig, in der Spitzengruppe nur zwanzig Prozent.

Trotz spezieller Einzelförderung ist das finnische Bildungssys­tem wesentlich günstiger als das österreichische. Keine 45.000 Euro werden pro Schüler im Jahr ausgegeben, in Österreich sind es weit mehr als 55.000. Die hohen Ausgaben kommen aber hierzulande kaum beim Schüler an, viel Geld verpufft in der aufgeblähten Verwaltung. Die Finnen haben begriffen, dass sich Frühförderung lohnt – denn zu keinem anderen Zeitpunkt lernt der Mensch so viel wie in frühester Kindheit. Eine Studie der Universität Bielefeld belegte, dass jeder in frühen Kindheitstagen investierte Euro um ein Vierfaches zurückkommt, da das Bildungsniveau gehoben wird, die Schüler später gute Jobs bekommen, was am Ende auch mehr Steuereinnahmen bedeutet.

Der Kindergarten Maitorpan in Vantaa, der viertgrößten finnischen Stadt nördlich von Helsinki, liegt in einer waldigen Umgebung. Der niedrige, weitläufige Komplex ist mit seinen großflächigen Spielplätzen perfekt auf Kinder zugeschnitten. Das Innere des Gebäudes ist nach Altersgruppen gegliedert. Finnische Kinder besuchen im Durchschnitt bereits im Alter von zwei Jahren das Tageszentrum. Sogar einige Einjährige sind darunter. Sie dürfen maximal in Dreiergruppen betreut werden, da kleine Kinder besondere Zuwendung benötigen. Die Volksschullehrer halten bereits mit den Kindergartenkindern Kontakt und überlegen für jedes Kind die ideale Schullaufbahn.

Die Gesamtschule Länsimäki besuchen Schüler unterschiedlicher sozialer Herkunft, dreißig Prozent sind Kinder mit Migrationshintergrund. Sie stammen großteils aus Russland oder Estland, dazu kommen Zuwanderer aus Afrika, dem Iran oder der Türkei. Die Beherrschung der Muttersprache hat im finnischen Schulsystem einen hohen Stellenwert, daher unterrichten viele Native Speakers. So werden in der Gesamtschule Länsimäki 15 verschiedene Sprachen unterrichtet – und sieben verschiedene Religionen. Dadurch haben die Migranten die gleichen Chancen wie gebürtige Finnen.
Von der Ausstattung der Schule können österreichische Lehrer und Schüler nur träumen. Eine 20 Jahre alte Schule gilt bereits als renovierungsbedürftig. Die Klassen sind mit so genannten Smartboards, einer Art elektronischer Tafel, ausgestattet. Im Gymnasium Lumo, eine schwache Autostunde von Länsimäki entfernt, kommen zur modernsten Architektur mit hellen Glasfassaden bequeme Nischen mit Sitzgarnituren, die sich ideal für Gruppenarbeiten eignen. Ein Theater, ein Tonstudio sowie ein Musikproberaum, neueste Sporthallen inklusive Theaterstudio gehören ebenso selbstverständlich dazu wie Sauna und Fitnessstudio.

Schüler mit Schwächen werden in kleinen Gruppen von speziell ausgebildeten Lehrern unterrichtet. Pekka Immonen unterrichtet in Lumo Schüler mit Migrationshintergrund, die Finnisch als Zweitsprache gelernt haben. „Ich gebe ihnen oft aktuelle Artikel zu lesen, so sind sie nebenbei auch über tagesaktuelle Nachrichten informiert. Dann stelle ich jedem Einzelnen Fragen, so weiß ich, ob sie alles verstanden haben“, erklärt Immonen. Während der Stunde klopfen Schüler an, die eigentlich frei hätten, und bitten um Hilfe bei Hausaufgaben. Für Pekka sind das keine Störenfriede, er nimmt sich für jeden einzelnen Schüler Zeit, die anderen arbeiten selbstständig weiter. Frontalunterricht ist in Finnland verpönt, wie Direktor Jari Koivis­to erklärt: „Das Einzige, was Schüler dabei lernen, ist perfektes Schauspiel. Ihre Miene bekundet Interesse, aber mit dem Kopf sind sie meist ganz woanders.“

Ein zentraler Punkt ist das Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern. In Finnland duzt man sich. „Das Siezen brauchen nur Leute mit mangelndem Selbstbewusstsein“, erklärt Matti Meri, der jahrzehntelang das Institut für Lehrerausbildung in Helsinki geleitet hat. Nicht zuletzt auch deshalb genießen Lehrer in Finnland ein hohes Ansehen, jedes Jahr bewerben sich Tausende junge Menschen um einen Platz in der Lehrerausbildung, aber nur etwa jeder Zehnte wird genommen. Die Auswahl geschieht nach Tests in verschiedenen Gesprächs-situationen. Spricht ein Kandidat nie oder redet er ununterbrochen, so scheidet er aus. Personen, die gut zuhören können, Ideen schnell aufgreifen und ­weiterentwickeln, haben eher Chancen auf einen der begehrten Plätze.

Und obwohl die Finnen stolz auf ihre Schulen sein könnten, ­reden sie gern von notwendigen Verbesserungen. Noch kleinere Gruppen und Vertrauenslehrer, die Schüler von Anfang bis zum Ende der Schulpflicht begleiten, wären laut Meri solche Punkte. Von solchen Debatten ist Österreich Lichtjahre entfernt.

Die Reise nach Finnland wurde ermöglicht durch das Projekt Eurotours 2011.