Lew Tolstoj: Der Maximalist

Literatur. Zum 100. Geburtstag des russischen Schriftstellers

Drucken

Schriftgröße

Sie will sich nicht vor den Zug stürzen, wie jene tragische Romanheldin, mit der sie vier Jahre ihres Lebens verbracht hatte – sondern in den Teich. Die 66-jährige Sofja Tolstaja rast die Allee des Landguts Jasnaja Poljana hinunter, in der festen Absicht, sich zu ertränken. Der Name des Landguts bedeutet übersetzt „Helle Lichtung“; hier war Tolstoj 1828 geboren worden; hier hatte er sich 30-jährig zurückgezogen, die von ihm so heiß ersehnte Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 miterlebt; auf dem schwarzen Ledersofa, das noch heute in dem zum Museum umgewandelten Wohnhaus steht, hatte seine Frau elf ihrer 13 Kinder zur Welt gebracht.

Die Tochter Sascha und Tolstojs Sekretär Bulkagow eilen gerade noch rechtzeitig herbei und schaffen die völlig verstörte Frau ins Haus zurück. Knapp zuvor, um elf Uhr morgens, kurz nach ihrem Erwachen, hatte Sascha an diesem 28. Oktober 1910 der Mutter einen Brief, verfasst vom Schriftstellervater, in die Hand gedrückt – einen Brief, der 48 Ehejahre, 13 Kinder und zwei Romane von Weltgeltung jäh infrage stellte. Da stand zu lesen: „Meine Abreise wird Dich betrüben. Das bedaure ich, aber verstehe mich und glaube mir, dass ich nicht anders handeln konnte. Meine Lage im Haus wird unerträglich, ist es schon geworden. Abgesehen von allem Schlechten, ich kann nicht länger in diesen Verhältnissen des Luxus leben und tue nun das, was alte Leute in meinen Jahren gewöhnlich tun: Sie gehen fort aus dem weltlichen Leben, um in Zurückgezogenheit und Stille ihre letzten Tage zu verbringen … Ich bitte Dich, mich zu verstehen und mir nicht nachzureisen, wenn Du den Ort meines Aufenthalts erfährst. Deine Ankunft wird nur Deine und meine Lage verschlechtern, aber an meinem Entschluss nichts ändern.“

Im Alter von 82 Jahren hat Lew Nikolajewitsch Tolstoj das getan, was er schon öfter versucht, aber aus Gewissensgründen gegenüber seiner Familie doch nicht zu ­exekutieren gewagt hatte. In dem aus Briefen und Tagebuchnotizen bestehenden Dokumentationsband „Tolstojs Flucht und Tod“ (Diogenes) berichtet der von schweren Depressionen, Selbstzweifeln und Sinnkrisen gezeichnete Schriftsteller mehrfach von gescheiterten Fluchtabsichten aus der brüchigen Landidylle. Bereits im Mai 1884 notierte er in seinen Aufzeichnungen: „Herr, erlöse mich von diesem verhassten Leben, das mich erdrückt und vernichtet.“ Einen Tag später schrieb er: „Das Haus ist nach wie vor ein allgemeiner Tod. Nur die kleinen Kinder sind lebendig.“

Hätte Sigmund Freud Tolstoj auf seiner Couch liegen gehabt, so hätte die Diagnose des Begründers der Psychoanalyse so lauten können: schwere Melancholie. Den Begriff der Depression kannte Freud noch nicht. Nach dem heutigen Stand der Forschung wäre Tolstoj das Bilderbuchbeispiel eines manisch-depressiven Kreativen, der seine Schaffensschübe den diesem Krankheitsbild immanenten Hochphasen zu verdanken hat – ein Schicksal, das er mit anderen berühmten Schriftstellern teilte: Virginia Woolf wählte den Freitod, den Tolstoj in seinem Seelenprotokoll „Meine Beichte“ immer wieder als verheißungsvolle Option erwähnte; die Aufzeichnungen von Samuel Beckett, Thomas Mann und auch von Tolstojs Zeitgenossen Fjodor Dostojewskij geben Zeugnis von tiefen seelischen Verstörungen. Dostojewskij hegte übrigens keine besondere Wertschätzung für seinen Kollegen und beurteilte Tolstojs Zentralmassive „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ geringschätzig: „Nicht mehr als historische Bilder.“ Überdies tadelte er die luxuriösen Umstände, in denen Tolstoj seine Werke schuf. „Er war argwöhnisch, ehrgeizig und schwer unglücklich“, konterte der Publikumsliebling der russischen Literatur die Anwürfe des bereits 1881 verstorbenen Schriftstellerkollegen, „seltsam, dass er so viel gelesen wird. Alles ist so schwer und nutzlos bei ihm.“

Seelenkrise.
Hätte Dostojewskij die Gelegenheit gehabt, Tolstojs resignatives Seelenprotokoll „Meine Beichte“ zu lesen, in dem er den gewonnenen Ruhm als irrelevant klassifizierte und die Abschaffung des Eigentums zugunsten der Bauern forderte, so wären seine Sympathiewerte für den bereits wie einen Popstar gefeierten Dichter wohl merklich gestiegen. Das Buch wurde 1882 sofort verboten – wegen Tolstojs Angriffen auf die Machthaber und die Kirche. 1890 sollte sich Tolstojs Popularität, der er keinerlei Bedeutung beimaß, dann doch bezahlt machen: Zar Alexander III. erlaubte dem weltberühmten Untertan als einzigem Menschen in seinem Reich, straffrei revolutionäres Gedankengut zu verbreiten.
Nach dem Erscheinen von „Krieg und Frieden“ (1868) und „Anna Karenina“ (1878) war Tolstoj nicht nur in seiner Heimat, sondern auch im europäischen Raum zu einer literarischen Ikone geworden. Auf die Kritikerhymnen, die „Anna Karenina“ begleiteten, und die hysterischen Fanscharen, die in Jasnaja Poljana ihr literarisches Mekka gefunden hatten, reagierte der Schriftsteller mit blankem Unverständnis: „Was ist denn schwierig daran zu beschreiben, dass ein Offizier sich in eine Dame verliebt. Daran ist absolut nichts Schwieriges und mehr noch: nichts Gutes. Es ist scheußlich und überflüssig.“ Die große psychologische Leistung Tolstojs: Trotz seines Moralismus und seiner grundsätzlichen Unaufgeschlossenheit gegenüber weiblichen Emanzipationsbewegungen verdammte er seine ehebrechende Heldin Anna nicht. Der 1938 vor den Nazis in den Tod gesprungene österreichische Kulturhistoriker Egon Friedell schrieb: „Tolstoj sagt bloß, hier ist ein leidender Mensch … Es ist, als ob das Leben selbst diesen Roman niedergeschrieben hätte.“ Und viele Jahrzehnte später erliegt der österreichische Autor Thomas Glavinic der Wucht der „Anna Karenina“ und beschreibt das Werk als das Buch seines Lebens: „Ich ging zurück zu diesem Buch, in meine Wohnung, als wartete dort eine reale Frau auf mich, mit der ich seit Tagen nur aß, trank, Liebe machte und redete.“

Auch der Schriftsteller Daniel Kehlmann greift „jedes Mal, wenn ich an den Möglichkeiten der Literatur zu zweifeln beginne“, zu Tolstoj, zu dem Monumentalwerk „Krieg und Frieden“, denn: „Es gibt keine stärkere Medizin. Tolstojs Charaktere sind nicht ­hysterisch wie die seines Antipoden Dostojewskij, sie sind vielschichtig und undurchschaubar, im tiefsten Sinn menschlich und ebenso nahe an der Lächerlichkeit wie am Heldentum.“ Der US-Literat Jonathan Franzen nennt Tolstoj und Marcel Proust als die großen Repräsentanten des „menschlichen Erzählens“.

„Geringfügige Leistung“.
All das hätte Tolstoj nicht beeindruckt und ihn nicht von seinem großen Misstrauen gegenüber dem eigenen Talent befreit. Lapidar hakt er seine beiden weltliterarischen Meilensteine in „Meine Beichte“ ab: „Obgleich ich die schriftstellerische Tätigkeit während dieser 15 Jahre für etwas Unnützes ansah, hörte ich doch nicht auf, tätig zu sein … Ich hatte eben die Verlockungen außerordentlich großer Geldentschädigung und Beifalls für meine geringfügige Leistung gekostet.“ Tolstoj galt als der meistfotografierte Mann seines Landes; auch die ersten Filmkameraleute hefteten sich an die Fersen des ab seinem 50. Lebensjahr konsequent in einfache Bauernhemden gekleideten Rauschebartträgers, der mit seinem unprätentiösen Auftreten die Abscheu vor seiner eigenen Kaste und die Verbundenheit mit der geknechteten Landbevölkerung zu symbolisieren suchte. „Mein Ururgroßvater hat sich zu
sehr bemüht, einfach zu wirken“, kritisiert dessen Nachfahre Wladimir Tolstoj in einer Arte-Dokumentation den „etwas naiven ­Versuch, die eigene Herkunft zu verleugnen“.

Bauernleben.
Der früh verwaiste Graf Tolstoj war sogar so konsequent, dass er bäuerliche Arbeiten selbst verrichtete: Er mähte, pflügte, säte barfuß, striegelte seine Pferde und fertigte sogar seine Schuhe an. Gleich einem Hippie-Guru schuf er sich eine Schar von Anhängern, „Tolstojaner“ genannt, die in Landkommunen den Prinzipien des einfachen Lebens, inklusive des Verzichts auf Fleisch, Rauschmittel und Sex, frönten. 1901 lehnte der zunehmend misanthropisch werdende Greis Lew Tolstoj den ersten zu vergebenden Nobelpreis für Literatur rigoros ab; im selben Jahr wurde er von der russisch-orthodoxen Kirche exkommuniziert.
Sofja Tolstaja, über die Jahrhunderte in der Sekundärliteratur als hysterische Xanthippe dargestellt, die ihrem Mann durch Geldgier und Herrschsucht das Leben zur Hölle gemacht habe, verzweifelte an der Lieblosigkeit und den wachsenden Absonderlichkeiten ihres um 16 Jahre älteren Ehemanns. Die Emanzipation der Frau hatte Tolstoj ohnehin nie interessiert. Schon früh in der 48 Jahre dauernden Ehe notierte die Arzttochter: „Ich bin Befriedigung, ich bin Kindermädchen, ich bin ein alltägliches Möbelstück, ich bin eine Frau.“ Ihre eigenen literarischen Ambitionen hatte sie sehr bald nach der Eheschließung zu vernichten versucht, um sich ganz dem Genie ihres Mannes zu widmen. Nacht für Nacht saß die sehr kurzsichtige Mutter seiner Kinder und schrieb mindestens sechs Fassungen des Monumentalwerks „Krieg und Frieden“, in dem Tolstoj auch seine Traumata als Soldat im Krimkrieg literarisch therapierte, bei Kerzenschein ins Reine: „Beim Abschreiben habe ich auch das Gefühl, in seiner Welt zu leben.“

Entfremdung.
Die sechs Arbeitsjahre an „Krieg und Frieden“ beschrieb sie in ihren Tagebüchern als die glücklichsten ihrer Ehe. Doch schon bei „Anna Karenina“ begann die Entfremdung. So lässt sich einer der bekanntesten ersten Sätze der Weltliteratur anders lesen: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“ Zwei neue Bücher – die Biografie „Sofja Tolstaja“ von Ursula Keller und Natalja Sharandak sowie die semifiktive Rekonstruktion „Tolstojs letztes Jahr“ des US-Literaturwissenschafters Jay Parini (die Vorlage für den Helen-Mirren-Film „Ein russischer Sommer“) – revidieren erst jetzt das lange festgefahrene Bild der Tolstaja und porträtieren eine von ihrem monomanischen Patriarchen-Gatten unterdrückte Frau, die zugunsten seiner Selbstverwirklichung und der Familie ihre eigenen Bedürfnisse bis zur Schmerzhaftigkeit unterdrückte. Hauptursache der ehelichen Streitereien war Tolstojs unbeugsamer Wunsch, die Rechte an all seinen Werken dem russischen Volk zu vermachen. Ein Ansinnen, das aufgrund juristischer Undurchführbarkeit posthum scheitern sollte.

Die beiden eigenen Romane Sofja Tolstajas, „Lied ohne Worte“ und „Eine Frage der Schuld“ (in Letzterem ermordet ein Ehemann seine Frau aus Eifersucht mit einem Briefbeschwerer), durften auf ihre testamentarische Verfügung hin erst 100 Jahre nach ihrem Tod erscheinen. „Habe keinen Verstand, keine gute Bildung, kein Talent – nichts“, schrieb sie in ihrem Tagebuch. Die Demütigung, von ihrem Mann bei Nacht und Nebel nach 48 Jahren verlassen zu werden, sollte nicht privat bleiben. Sämtliche Boulevardzeitungen machten mit dem Ehedrama im Hause Tolstoj auf. Der Wunsch, seine letzten Tage in Frieden und Stille zu verbringen, blieb dem Exzentriker Tolstoj versagt. Eine Lungenentzündung zwang ihn, die Reise in die Einsamkeit vorzeitig zu unterbrechen. Für den sterbenden Greis wurde in einem südrussischen Provinzbahnhof eilig die Wohnung des Stationsvorstehers leer geräumt. Die Weltpresse und Hunderte von Jüngern hatten sich vor dem Gebäude versammelt, als die Ehefrau sich dem Willen ihres Mannes nicht beugte und an sein Sterbebett eilte.

Gegen sechs Uhr morgens am 20. November 1910 (nach Julianischem Kalender am 7. November) starb Lew Tolstoj. In ihrem Tagebuch notierte Sofja, die ihren Mann um zehn Jahre überleben und ebenfalls an einer Lungenentzündung sterben sollte, über diese letzten Momente: „Ich sprach ihm leise, voller Zärtlichkeit ins Ohr, in der Hoffnung, er könne noch hören, dass ich ihn bis zum Schluss geliebt habe.“

In seinem letzten erhaltenen Interview anno 1904 (zur Gänze in der Zeitschrift „Sinn und Form“ eben erschienen) hatte Tolstoj dem Journalisten vom Tod, wie ihn die Bauern sterben, vorgeschwärmt: „Der Tod ist für sie vor allem eine Befreiung, sie empfinden keine Furcht. Einem Menschen, dem der Tod naht, erscheint er als Ruhe und Frieden, als Traum und ein Ausruhen, das die Tage des Kummers und der Sorgen beendet.“
In seiner letzten Lebensstunde schien Lew Tolstoj endlich zum Bauern geworden zu sein.

Lesen Sie im profil 46/2010 ein Interview mit Burg-Direktor Matthias Hartmann, der für seine "Krieg und Frieden"-Inszenierung mit einem Nestroy ausgezeichnet wurde.

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort