Der multiple Sieg

Libyen. Warum sich die gesamte arabische Welt über den Sturz von Muammar al-Gaddafi freuen dürfte

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Selbst die Stunde des Sieges der libyschen Demokratiebewegung über ihren Langzeitdespoten Muammar al-Gaddafi war gekennzeichnet von bizarren Falschmeldungen, verstörenden Botschaften des flüchtigen Diktators und vielen offenen Fragen.

Da war zunächst der vermeintliche Überraschungserfolg der Rebellenführung am Montag vergangener Woche, als es hieß, Muammar al-Gaddafis Sohn Saif al-Islam sei in Tripolis festgenommen worden. Nur wenige Stunden später präsentierte sich der 39-Jährige vor seinen jubelnden Anhängern im Zentrum der libyschen Hauptstadt.

Da kursierte nur einen Tag später das Gerücht, der alte Gaddafi selbst sei den Aufständischen nur knapp entkommen und liefere sich mit seinen Verfolgern nun ein Versteckspiel in einem kilometerlangen, unterirdischen Tunnelsystem in Tripolis.

Da drang wenig später schon wieder eine größenwahnsinnige Audiobotschaft von Muammar al-Gaddafi an die Öffentlichkeit, in welcher der gestürzte Diktator trotzig verkündete, bis zum Tod weiterkämpfen zu wollen, und einen Sieg seiner Anhänger prophezeite – offenbar immer noch außerstande, sich damit abzufinden, dass er Libyen nicht mehr beherrscht. Die Suche nach Gaddafi verlief bis Redaktionsschluss am Freitagabend vergangener Woche ergebnislos.

Fest steht zum jetzigen Zeitpunkt nur: Die Gefechte zwischen Gaddafi-treuen Soldaten und den Rebellen dürften noch einige Zeit andauern. Am Triumph der Demokratiebewegung, die das Regime seit März dieses Jahres von der ostlibyschen Küstenstadt Bengasi aus bekämpfte, wird das aber nichts mehr ändern. Nach Tunesien und Ägypten ist vergangene Woche das dritte arabische Regime seit Anbruch des „arabischen Frühlings“ gefallen.
Doch wie geht es jetzt weiter mit Libyen? Es wird dauern, bis der abgeschottete Wüstenstaat wieder aufgebaut werden kann: Libyen hat keine funktionierende staatliche Verfassung, kein Rechtssystem, keine Parteienlandschaft, keine politische Führungspersönlichkeit, kein verlässliches Sicherheitssystem.

Gaddafi lässt ein diffuses und breit gefächertes Stammessystem zurück, in dem sich schnell neue Partnerschaften und Feindschaften entwickeln werden. Vertreter des Gaddafi-Stammes Quadhadfa und die verbündeten Stämme Magariha und Warfalla hatten bislang alle zentralen Posten im Sicherheitsbereich, also bei Streitkräften, Polizei und Geheimdienst, inne und sicherten so ihre Herrschaft ab. Racheakte von Libyern, deren Familienangehörige von Gaddafis Clan getötet wurden, sind zu erwarten. Andererseits: Ganz ohne die Gaddafi-Bürokraten wird die neue Regierung nicht auskommen können, wenn sie binnen weniger Monate einen Staat aufbauen will.

Trotzdem gibt es Grund für Optimismus: So heterogen und zerstritten die libysche Rebellenbewegung auch sein mag – es kamen nie ernsthafte Zweifel daran auf, dass in Libyen eine Demokratie entstehen soll. „Alle unsere Vertreter haben sich für einen demokratischen Rechtsstaat ausgesprochen, das war für mich eine Überraschung“, sagt etwa der deutsche Verfassungsrechtler Tilmann Röder in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Röder berät derzeit die libysche Übergangsregierung auf dem Weg zu einer neuen Verfassung.

Das Ende des libyschen Regimes hat freilich dem „arabischen Frühling“ neuen Auftrieb verschafft. „Wenn sich Gaddafi an der Macht hält, dann wird das alle Autokraten und Diktatoren im arabischen Raum ermutigen“, sagte der Syrien-Experte Alan George im Mai dieses Jahres in einem profil-Interview. Der Erfolg der libyschen Rebellen ist eine weitere Warnung für alle Despoten der Region, allen voran für Bashar al-Assad. Der syrische Diktator kämpft gegen eine stetig wachsende Demokratiebewegung an, langjährige Verbündete wie die Türkei und Saudi-Arabien haben sich bereits von ihm distanziert – sein Regime ist derzeit wesentlich instabiler als die Regierungen in Marokko, Algerien, Katar und Saudi-Arabien.

Über Gaddafis Sturz werden sich auch die Übergangsregierungen in Tunesien und Ägypten freuen: Vor dem Ausbruch der Revolte gegen das Gaddafi-Regime waren Hunderttausende tunesische und ägyptische Gastarbeiter im libyschen Bausektor tätig, die seit Ausbruch der Kämpfe aus dem Wüstenstaat flüchten mussten. Diese Arbeiter dürften bald nach Libyen zurückkehren.

Gaddafis Untergang war letztlich auch ein Erfolg für den Westen, der gezeigt hat, dass er aus den Fehlern des Irak-Kriegs gelernt hat: Die Intervention in Libyen war durch den UN-Sicherheitsrat und von einem Großteil der arabischen Länder abgesegnet worden. Während der libyschen Revolte hatten sich die Alliierten geschickt im Hintergrund gehalten und damit das Aufkommen von antikolonialistischen und antiimperialistischen Ressentiments verhindert. Der britische Premier David Cameron hat es so formuliert: „Dies war nicht unsere Revolution, aber wir können stolz sein auf die Rolle, die wir gespielt haben.“

(Red)


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