Elias Canetti: Das Zentralmassiv

Literatur: Das Zentralmassiv

Weltbürger, Nobelpreis-träger, Frauenfreund

Drucken

Schriftgröße

Aufzeichnungen
Auch mehr als zehn Jahre nach seinem Tod bleibt Elias Canetti ein rätselhafter Dichter. Sechs Bände aus den Jahren 1942 bis 1993, von Canetti selbst schlicht „Aufzeichnungen“ genannt, sind seit 1965 erschienen – ein ungeheurer Material-Steinbruch der Literaturgeschichte, in dem Gedanken, Wahrnehmungen und tagebuchähnliche Eintragungen versammelt sind. Canettis teils in schwer entzifferbarer Kurzschrift verfasster Nachlass ist bis dato nur rudimentär aufgearbeitet worden. Die „Aufzeichnungen“, schreibt der Publizist Sven Hanuschek in seiner Canetti-Biografie, seien „Canettis Zentralmassiv“.

„Die Blendung“
Der literarische Geniestreich erlebte eine wechselvolle Publikationsgeschichte: 1935 wurde Canettis erster und einziger Roman erstmals veröffentlicht. 1938 flüchtete Canetti vor der NS-Diktatur nach Großbritannien, und der Schöpfer der „Blendung“ geriet im deutschen Sprachraum alsbald fast in Vergessenheit. Erst ab 1963, mit der legendären Hanser-Ausgabe, setzte sich der Roman durch. „Die Blendung“, von Canetti mit drängendem Furor verfasst, zählt längst zur Weltliteratur, die Geschichte des knochigen Büchersammlers und Sinologen Peter Kien, der im Feuer dem Wahn zum Opfer fällt, hat sich tief in das Motivgedächtnis der Literaturgeschichte eingegraben. Der Roman spielt zwar in Wien, die Stadt aber ist zum Schreckensort erstarrt; die Protagonisten des parabelhaft erzählten Romans, allesamt Negativ-Figuren, sind keine authentischen Charaktere, sondern typisierte Platzhalter, die den Irrsinn der Entstehungszeit des Buchs widerspiegeln.

Comédie humaine
„Die Blendung“ war als Angelpunkt gedacht: In seinen Notizen formuliert Canetti wiederholt die Absicht, eine Reihe von acht Romanen zu schreiben, zusammengefasst in einer „comédie humaine an Irren“. Dies blieb nicht der einzige gescheiterte Plan in seiner literarischen Karriere: Der geplante zweite Band von „Masse und Macht“ (1960) kam nie zustande.

Don-Juan-Liste
Eine von Canetti nach dem Tod seiner Ehefrau Veza angelegte Liste mit realen oder gewünschten Liebschaften umfasste mehr als 30 Namen. Canetti unterhielt zahllose Affären, etwa zur Malerin Anna Mahler oder zur Schriftstellerin Iris Murdoch, die von Canetti in seinen Aufzeichnungen als „Oxford-Ragout“ geschmäht wurde. Ein fernes Echo des Ehedramas ist noch in Veza Canettis Theaterstück „Der Oger“ spürbar: Herr Iger behandelt seine Frau und sein Kind als Störgeräusche, auswärts verwandelt er sich in einen Charmeur. Wenn Iger seine Unterschrift unter ein Dokument setzt, macht er aus dem I stets ein O – wie auch Canetti beim E seines Vornamens. 1971 heiratete Canetti die Restauratorin Hera Buschor (1933–1988); 1972 kam Tochter Johanna auf die Welt.

Erinnerungskünstler
Die drei Bände von Canettis berühmter Autobiografie (siehe „Zeig die Zunge!“) waren einer artistischen Gedächtnisleistung geschuldet. 1978 etwa sammelte der Autor Material für seine Memoiren: Von den 30 Kommilitonen, die von 1924 bis 1928 mit ihm in Wien Chemie studierten, konnte er nur zwei nicht mehr mit Namen nennen.

„Der Fund“
Mit Ingrimm hütete Canetti zwei Geheimnisse: Er vertuschte, dass seiner Frau die linke Hand fehlte. Zudem verleugnete er jahrzehntelang, dass Veza auch eine brillante Autorin war. Erst spät rückte Canetti die seit Anfang der vierziger Jahre entstandenen Manuskripte von Veza heraus: 1990 erschien der Stadtroman „Die gelbe Straße“, 1991 das Theaterstück „Der Oger“ und 1999, fünf Jahre nach Canettis Tod, ihr Emigrationsroman „Die Schildkröten“. Mit dem erweiterten Nachlassband „Der Fund“, 2001 erschienen, erfuhr die Autorin eine späte Anerkennung.

Grenzensprengmeister
Canetti versuchte sich in allen literarischen Genres, mit wechselndem Erfolg: Seine Theaterstücke – etwa „Komödie der Eitelkeit“ (1934) oder „Die Befristeten“ (1952) – werden heute nur noch selten gespielt. Über Kafka („Der andere Prozess“, 1969) oder Karl Kraus verfasste er mustergültige Essays; luzide Beobachtungsexerzitien sind in dem Band „Der Ohrenzeuge“ (1974) zu finden. Der Reisebericht „Die Stimmen von Marrakesch“ von 1968 ist eine ideale, kulinarisch aufbereitete Einstiegslektüre in das Canetti-Universum.

Hassobjekte
Legendär war Canettis Zanksucht, die er zu wahrer Meisterschaft erhob: „Selten ist mir etwas so widerlich gewesen wie die Erscheinung des englischen Dichters Eliot“ (über T. S. Eliot). – „Seine Loden, seine Stiefel, sein Vierkanthof mit 90-jähriger Bäuerin im Ausgedinge, ein Ganghofer mit negativem Vorzeichen“ (über Thomas Bernhard).

Idole
„Mein Herz wird immer den reinen Opfern gehören, die gelitten haben, ohne sich zu retten: Hölderlin, Lenz, Kleist, Kafka, Robert Walser. Für Goethe fühle ich Staunen und Bewunderung für sein Werk (...) es fehlt ihm das Entsetzen, das den Menschen zerbricht oder wahnsinnig macht (...).“ Zwei weitere Fixsterne im Canetti-Kosmos: Cervantes und Stendhal.

Jubiläumsjahr
Die Buchsaison 2005 ist von einer Canetti-Bücherflut geprägt. Sven Hanuschek etwa, der als einer der ersten Einblick in den umfangreichen Nachlass nehmen konnte, legt die erste ausführliche Canetti-Biografie vor – und ortet Substanzielles in der Terra incognita dieses verrätselten Lebenswerks (siehe Kasten).

Karl Kraus
„Fackel“-Herausgeber Karl Kraus war Canetti in einer für ihn durchaus typischen Abfolge von Emotionen erst Lichtgestalt und schließlich Hassfigur. „Er war meine Kraft. (...) Ich hörte nur seine Stimme“, schreibt Canetti in „Die Fackel im Ohr“ (Kraus habe ihm überdies „das Ohr aufgetan“). Der Bruch erfolgte 1934, weil Kraus einen politischen Schwenk vollzog – und sich auf die Seite der Dollfuß-Regierung schlug. Canetti: „Ich schäme mich, von einem solchen Monstrum beeinflusst gewesen zu sein. (...) Karl Kraus ist ein Meister der Phrase; er war so etwas wie ein Hitler der Intellektuellen.“

Literaturnobelpreis
Die entscheidende Nachricht kam am 15. Oktober 1981, beim gemeinsamen Mittagessen: Aus dem Radio vernahm Familie Canetti, dass Vater Elias der Nobelpreis verliehen würde. „Mir blieb vor Schrecken der Bissen im Hals stecken“, schrieb Canetti später. Tochter Johanna gab hingegen zu Protokoll, dass ihre Mutter den Schöpflöffel fallen ließ.

Menschenfresser
Die Linksintellektuelle Ruth von Mayenburg, um 1939 eine enge Freundin Canettis, berichtet: „Oft gelang es ihm, mit einem einzigen Zubiss Herz und Nieren bloßzulegen, und er ergötzte sich sowohl am Knochenmark wie am Gehirn seiner Opfer.“ Canetti sei unentwegt auf der Pirsch gewesen, seine Jagdtrophäen fänden sich im Werk wieder: „Die ausgefallensten Berufe, alle Altersklassen, soziale Schichten, die Bildungsstufen vom Analphabeten bis zum Enzyklopädisten (...), um auch nur einigermaßen zu der Fülle von Menschenspezies zu kommen, die Canetti zu konsumieren imstande war.“

Nachlassverwalter
Im Mai 1994, drei Monate vor seinem Tod, bestimmte Canetti, dass in den ersten zehn Jahren nach seinem Ableben keine Lebensbeschreibung über ihn erscheinen dürfe. Über seinen Tod hinaus nahm Canetti damit Einfluss auf sein Werk. Ein großer Teil des Nachlasses bleibt noch bis zum Jahr 2024 gesperrt.

Opus magnum
Canettis soziologisch-philosophisches Hauptwerk „Masse und Macht“, nach rund zwei Jahrzehnten Nachdenkarbeit 1960 erschienen, sei, so der Essayist Franz Schuh, auch auf das 21. Jahrhundert „anwendbar“. Der „wirkliche Keim“ für „Masse und Macht“, so schreibt Canetti im Band „Das Geheimherz der Uhr“, sei eine Demonstration in Berlin am 24. Juni 1922 gewesen, als eine aufgebrachte Masse unter dem Eindruck der Ermordung von Außenminister Walther Rathenau demonstrierte. An anderer Stelle bekannte Canetti, dass die Initialzündung für die Erforschung der vielfachen Erscheinungsformen von Masse und Macht aus dem Sport kam: Bis 1933 arbeitete er in einem Zimmer, das gegenüber dem Rapid-Sportplatz lag, von dem „während der Fußball-Matches der Aufschrei der Massen“ zu ihm heraufdrang.

„Party im Blitz“
Der Notizen-Band „Nachträge aus Hampstead“, von Canetti noch selbst zusammengestellt und posthum erschienen, ermöglicht eine Reise durch die Weiten von Canettis Denklandschaften. „Party im Blitz“, ein Buch mit Notaten aus den englischen Jahren, erschien 2003 – und war wenig mehr als eine dürftige, ungeordnete Sammlung von Sottisen und Gemeinplätzen.

Qual-Familie
Der Vater verstarb früh, Mutter Mathilde und Sohn Elias bildeten eine unheilige Allianz: „Ich habe einen Idioten zum Sohn! Das habe ich nicht gewusst, dass ich einen Idioten zum Sohn habe!“, ließ Canetti in „Die gerettete Zunge“ seine Mutter sagen. „Ich bin ein bombastischer Mensch wie meine Mutter“, schrieb er 1942.

Rustschuk
Lebensstationen eines Weltbürgers: Geboren wurde Canetti als türkischer Jude in der bulgarischen Stadt Rustschuk, an der Peripherie des Habsburgerreiches. Seine Schul- und Studienzeit, 1911 bis 1928, verbrachte er in Wien, Zürich, Frankfurt und Berlin. Im November 1938 emigrierte er gemeinsam mit seiner Frau Veza von Wien aus ins englische Exil. Von 1963 bis 1988 lebte Canetti in Zürich und London, von 1988 bis zu seinem Tod 1994 in Zürich. Canetti ist auf dem Zürcher Friedhof Fluntern bestattet, neben dem Grab von James Joyce.

Sprechsteller
Für Autoren, die ihre Zeit lieber redend, rauchend und trinkend im Kaffeehaus als am Schreibtisch verbrachten, prägte Kurt Tucholsky den Begriff des „Sprechstellers“. Auch Canetti war 20 Jahre lang ein Autor ohne Werk – während der Arbeit zu „Masse und Macht“ publizierte er kein Buch. Legendär ist dagegen Canettis Redekunst: von „unendlichen, schrankenlosen Gesprächen“ berichten Zeitgenossen. Überliefert ist auch die Anekdote, dass sich Canetti am Telefon oft mit verstellter Stimme meldete und sich als seine eigene Putzfrau ausgab.

Todesfeindschaft
Ein zentraler Begriff in Canettis Denkkosmos ist der Tod, bedingt durch zwei biografische Ursachen: „Der Tod meines Vaters, der Tod meiner Mutter. Jeder war der Vorläufer eines Weltkriegs.“ Seit 1936 notierte Canetti in seinen Heften, in loser Form und in oft paradoxer und redundanter Weise, Gedanken zum Thema. Aber nur in einem (posthum erschienenen) Buch wurde Canettis Todesfeindschaft einer größeren Öffentlichkeit zugänglich – in „Über den Tod“ (2003) sind die Haupt-Sätze von Canettis lebenslangem Windmühlenkampf nachzulesen: „Aber ich verfluche den Tod. Ich kann nicht anders. Und wenn ich darüber blind werden sollte, ich kann nicht anders, ich stoße den Tod zurück.“ In Phasen schwerer Verliebtheit, wie etwa 1935, schmachtete aber selbst Canetti: „Komm, süßer Tod.“

Unser Canetti
Am 17. Mai 1979 meldete die „Kronen Zeitung“: „Tausendsassa Zilk hat mit Elias Canetti ein Buchprojekt beschlossen. Canettis Begegnungen mit großen Persönlichkeiten in Wien!“ Es konnte sich daher nur um ein Versehen handeln, wenn Canetti den Band „Die Fackel im Ohr“, der im Jahr darauf erschien, nicht Wien, sondern Veza Canetti widmete.

Veza
Die 1897 als Venetiana Taubner-Calderon geborene Wiener Jüdin war von 1934 bis zu ihrem Tod 1963 mit Elias Canetti verheiratet und unterwarf sich als Schriftstellerin und Ehefrau – allzu dienstbar – dem „größten Menschenerklärer“ (Paul Nizon). Canetti lernte Veza 1924 kennen. „Ein Rabe, zur Spanierin verzaubert“, so sein erster Eindruck. Wortkarger gab er sich in anderer Hinsicht: Veza war zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens literarisch viel gebildeter als er. „Sie war davon so erfüllt wie niemand anderer“, rettete sich Canetti später in die Unverfänglichkeit.

Werkverzeichnis
Im Hanser Verlag liegt die zehnbändige Gesamtausgabe (ca. 5000 S., EUR 287,90) samt diverser Ergänzungsbände vor. Im Taschenbuch ist ebenfalls eine – preisgünstige – Werkausgabe erhältlich: Die 13 Bände (ca. 3800 Seiten) mit dem Begleitband „Wortmasken“ kosten 101,80 Euro.

X-fach
Der Begriff „Tod“ taucht in Canettis Werk unzählige Male auf und stellt seine Leser immer wieder vor eine Geduldsprobe: „Canettis jahrzehntelange Bemerkungen ‚gegen den Tod‘ gehen einem auf die Nerven. Sie sind unklar, manchmal wirken sie wie glatter Unsinn“, formuliert Canetti-Biograf Hanuschek – und lässt eine differenzierte Analyse von Canettis Todesfixiertheit folgen.

Yin & Yang
Das geheime Denk- und Arbeitsmotto des Schriftstellers könnte ein Satz sein, den Canetti bereits 1932 niederschrieb: „Alles macht mir Eindruck. Ich bevorzuge nichts.“ In seinem ausufernden Werk ist auch der Beschäftigung mit fernöstlicher Philosophie – Konfuzius, Laotse – viel Raum gewidmet.

„Zeig die Zunge!“
Eine der bedeutendsten Autobiografien der modernen deutschsprachigen Literatur beginnt mit einem Befehl: Ein lächelnder Mann „tritt ganz nahe an mich heran, bleibt stehen und sagt zu mir: ‚Zeig die Zunge!‘“ Canetti verdichtete als über 70-Jähriger die ersten 32 Jahre seines Lebens, die Zeit von 1905 bis 1937, zu Literatur – mit den Bänden „Die gerettete Zunge“ (1977) und „Die Fackel im Ohr“ (1980) wurde der beharrliche Außenseiter erstmals auch zum Bestsellerautor. „Das Augenspiel“, 1985 veröffentlicht, schloss die poetisch verbrämten, über weite Strecken erstaunlich faktentreuen frühen Erinnerungen des Schriftstellers ab.

Von Wolfgang Paterno