Eine schrecklich begabte Familie

Literatur: Eine schrecklich begabte Familie

Tochter Eva Menasse legt ihren ersten Roman vor

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Es ist ein außergewöhnlich warmer Nachmittag im Februar, die Temperaturen sind frühlingshaft, und Eva Menasse spielt toter Mann. Sie liegt rücklings auf einer Wiese, die Arme und Beine hat sie leicht von sich gestreckt, als würde sie auf glatter Wasseroberfläche schweben. Gleich neben dem von zwei Durchgangsstraßen eingezwängten Rasenstück ist der Knotenpunkt der Stadt, der Potsdamer Platz. Seit einigen Jahren lebt die Wienerin in Berlin, in dieser Stadt der verschärften Gegensätze.

Menasse, der ein quirliges, hochfahrendes Temperament eigen ist, die ihr Reden gern mit ausholenden Gesten unterlegt, liegt entspannt in der Sonne. „Ein wunderbarer Tag.“ Sie sagt das so, als müsste sie sich für die angenehme Zeitverschwendung entschuldigen. Dann steht sie auf. Folgt man ihr durch das verwinkelte Zentrum Berlins, darf man nicht zu langsam sein.

Geschwindigkeit ist seit je eine Domäne der Familie Menasse. Vater Hans, 75, war einst Profifußballer – sein Stammverein war die Vienna, später wechselte er zur Austria; zweimal spielte er im Sturm des Nationalteams, Anfang der sechziger Jahre. Sein ältester Sohn Robert hat als Schriftsteller bereits ein umfangreiches Gesamtwerk vorzuweisen. Dessen Cousin Peter, Jahrgang 1947, ist Leiter einer PR-Agentur und Chefredakteur der auf jüdische Themen spezialisierten Kulturzeitung „nu“. Und auch Eva Menasse, 34, hat im Eiltempo Karriere gemacht: Die älteste Tochter von Hans und Christine Menasse schrieb 1988 ihren ersten Zeitungsartikel – übrigens für profil. 1994 wurde sie mit dem zweiten Platz beim Claus-Gatterer-Preis für ihre, so die Jury, „sozial engagierte Berichterstattung“ ausgezeichnet, mit 25 avancierte sie zur Redakteurin (als eine der Jüngsten in der profil-Geschichte) und machte sich bald einen Namen: als gründlich recherchierende Autorin, die das Genre der sprachlich fein geschliffenen Reportage meisterhaft beherrscht.

„Ich war lange Zeit sehr schüchtern“, erinnert sich Menasse an ihre journalistischen Anfänge. „Ich habe mich nicht getraut, ein Telefonat zu führen, wenn jemand anderer im Zimmer war.“ Das war früher. Heute sonnt auch Eva Menasse sich gern in ihrer Außenwirkung, von einem schwächelnden Selbstbewusstsein ist sie ebenso wenig angekränkelt wie Bruder Robert und Cousin Peter, deren fröhlich gelebte Ich-Bezogenheit in auffallendem Kontrast steht zur Öffentlichkeitsscheu von Mutter Christine, 61, und Schwester Tina, 30.

Eine umtriebige Familie bevölkert auch „Vienna“, den ersten Roman von Eva Menasse, der schon vor seinem Erscheinungstermin (23. Februar) für Furore sorgt – nicht nur wegen der für ein Erzähldebüt sensationellen Startauflage von 50.000 Exemplaren und der kürzlich erfolgten Nominierung für den heuer erstmals vergebenen Preis der Leipziger Buchmesse. „Vienna“ wird auch seit einigen Wochen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, für die Menasse seit 2000 als Wiener Kulturkorrespondentin tätig ist, in 80 Folgen vorabgedruckt.

Echowirkung. „Vienna“ erzeugt durch seine unterschiedlichen Lesarten Echowirkung: In Köln oder Buxtehude wird dieses voluminöse Buch der hundert Anekdoten einerseits als Geschichte einer jüdischen Familie gelesen werden, welche die mörderischen Wechselfälle des 20. Jahrhunderts durchleidet – von 1900 bis in die Jetztzeit spannt der Roman seinen Bogen, den Blick vor allem gerichtet auf Familie, Judentum und spezifischen Humor.

Andererseits zieht der Roman (Kritik siehe Seite 116) konzentrische Kreise um die reale Familie. Eva Menasse hat ihren Vater und ihren Onkel ausführlich zur Vergangenheit interviewt, sie hat Dokumente gesammelt, Taufscheine, Todesurkunden, Zeitungsberichte. Kein Wunder also, wenn hinter den Romanfiguren, literarisch verhüllt und gebrochen, die Mitglieder des Menasse-Clans durchschimmern. Namen werden nie genannt: Es gibt im Roman etwa einen „Bruder“, der Bücher schreibt und eine öffentliche Figur ist. „Ich musste Intellektueller werden“, ruft der „Bruder“ im Buch – ein Satz, der durchaus von Robert Menasse stammen könnte. Es gibt in „Vienna“ auch einen Vater, der Profifußballer ist – und dessen Geschichte derjenigen von Hans Menasse in auffallend vielen Details gleicht.

Im dritten Wiener Gemeindebezirk, im sechsten Stock eines aufgeräumten Gemeindebaus, pflegt Hans Menasse seine gut eineinhalb Meter Buchregal, er tut dies mit wachsendem Stolz. In der von Cremefarben dominierten Wohnung genießt das Regal einen besonderen Stellenwert, gut einen Drittel des Platzes nimmt mittlerweile die Menasse-Bibliothek ein. Ganz links steht der Roman „Durst“ des Schriftstellers Michael Kumpfmüller, mit dem Eva seit Juni vergangenen Jahres verheiratet ist. Daran schließen sich, sauber geordnet, 15 Bände von Sohn Robert, von dessen Debüt „Sinnliche Gewissheit“ (1988) bis zu „Die Vertreibung aus der Hölle“, dem bislang letzten, 2001 erschienenen Roman. Dann folgt ein thematischer Bruch: Das nächste Druckwerk trägt den Titel „Der Abbau von Raffinose-Oligosacchariden in keimenden Leguminosen-Samen“ – die Diplomarbeit von Tochter Tina, einer angehenden Biologin.

Hans Menasse war nie ein großer Leser, doch die Bücher seiner Kinder hat er verschlungen. Sein Leben hat ihm selbst viele kuriose und schmerzliche Geschichten beschert: Geboren 1930 als Sohn eines jüdischen Vaters und einer sudetendeutschen Mutter, wurde Hans 1938 gemeinsam mit seinem 15-jährigen Bruder Kurt vom Wiener Westbahnhof aus in einem Kindertransport der Quäker nach Großbritannien geschickt. Kein Wort Englisch sprach er damals, für allfällige Fragen hatte er die Standardantwort „Very well, thank you“ parat – so erinnert er sich, so steht es in Eva Menasses Buch.

Im April 1947 kehrte Hans Menasse, bereits damals ein fußballerisches Talent, nach Wien zurück – sprachlos standen Vater und Sohn einander gegenüber: Hans hatte im Exil sein Deutsch verlernt und musste es sich mühselig wieder aneignen. Bis heute spricht er mit britisch-noblem Timbre, unterlegt mit deftigem Wienerisch. „Das Buch von der Eva besteht ja aus facts und fiction“, sagt Menasse, der nach seiner Profifußballkarriere bis zu seiner Pensionierung, genau 47,5 Jahre lang, in Wien als Pressechef für einen amerikanischen Filmkonzern arbeitete.

„Der Holocaust vor Gericht“, Eva Menasses vor fünf Jahren in Buchform erschienene Reportage über den Londoner Gerichtsprozess gegen den Holocaust-Leugner David Irving, steht ganz rechts im Regal. „Vienna“ hat Hans Menasse zwar schon gelesen, aber noch nicht eingeordnet, derzeit wird es innerhalb der Familie weitergereicht. „Als Roman hat mir das Buch sehr gut gefallen“, sagt Hans Menasse ein wenig vage und pickt mit Zeigefinger und Daumen unsichtbare Flusen vom cremefarbenen Tischtuch. „Ich will jetzt nicht irgendwelche Kleinigkeiten, die ich nicht so toll fand, herausstreichen. Sobald mich etwas stören hätte können, hab ich mir gedacht: Das bin ja sowieso nicht ich, das ist reine Erfindung. Wenn die Person, die ich sein könnte, sympathisch ist, dann bin das natürlich ich. Wenn sie garstig ist, dann bin ich das natürlich nicht.“ In „Vienna“ tritt auch ein entfernter Verwandter der Kernfamilie auf: Adolf „Dolly“ Königsberger, auch „Königsbee“ genannt, ein „harmloser Trottel“, wie es heißt. Königsbee setzt frohgemut wunderbaren Quatsch in die Welt. Er ist Meister im Formulierungsverdrehen: „um den Preis fleischen“, „mit der Kirche ins Dorf fallen“, „wie Felix aus der Asche“, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Adolf Königsberger gibt es auch im richtigen Leben, er heißt sogar fast genau so. „Zwischenintermezzo“, auch so eine Stilblüte aus der Königsbee-Werkstatt – erst neulich ist das Hans Menasse wieder eingefallen. „Wenn der das mit Absicht machen würde, wäre er ein Genie“, sagt er. Im Hintergrund machen zwei Wellensittiche Krach. Im Roman kann Hans Menasse die beiden Vögel nicht ausstehen.

Von Wien aus sind bereits die ersten Reaktionen nach Berlin gedrungen. Kurt etwa, der Bruder von Hans, im Buch wie in der Realität ehemaliger Soldat im mörderischen Dschungelkrieg in Burma, war dem Vernehmen nach not amused. „Es gibt kleine Einwände gegen Details“, schwächt Eva Menasse ab. „Manche glauben, ich wollte ihnen durch das Buch etwas sagen. Mein Bruder hat etwa gemeint: Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich nie in einer Selbsthilfegruppe war. Ich habe ihm geantwortet: ‚Da kannst du sehen, dass du keinesfalls der Bruder aus dem Roman bist.‘“

Großer Bruder. Der große Bruder ist in Wirklichkeit auch ein gutes Stück älter: Robert Menasse wurde vergangenes Jahr 50 und kann ein viel beachtetes literarisches Werk und einen ziemlich hohen Bekanntheitsgrad als zorniger und polemischer Essayist vorweisen, immer wieder hat er Provokantes zur Lage der österreichischen Nation veröffentlicht. Nach seiner Promotion lebte Menasse sieben Jahre in Brasilien, ehe er 1988 „Sinnliche Gewissheit“ veröffentlichte, den ersten Teil seiner Romantrilogie, die er 1991 mit „Selige Zeiten, brüchige Welt“ fortsetzte und mit „Schubumkehr“ 1995 abschloss. 2001 erschien bei Suhrkamp sein bislang ambitioniertester Roman „Die Vertreibung aus der Hölle“, der von der Kritik teils euphorisch, teils ernüchtert aufgenommen wurde. In einem Strang dieses Romans beschäftigt sich auch Robert Menasse mit Verwandtschaft, allerdings mit einer sehr entfernten: Rabbi Samuel Menasse, der im 17. Jahrhundert in Amsterdam lebte.

Demnächst erscheint bei Suhrkamp der Essayband „Das war Österreich“, mit Menasses gesammelten politischen Texten, neu durchgesehen und ergänzt. Menasse ist berüchtigt für seine streitbaren politischen Positionen: Er schlug in den neunziger Jahren vor, Haider politisch einzubinden und zu entzaubern, als dem linksliberalen Lager nur Ausgrenzung möglich schien. Er kritisiert die Sozialpartnerschaft seit jeher vehement als „Schattenregierung“ und meinte kürzlich in der „Tiroler Tageszeitung“, „demokratiepolitisch war das Funktionieren der Sozialpartnerschaft ein Schaden, nicht ihre Zerstörung“. Für Vereinnahmungsversuche der schwarz-blauen Regierung hat Menasse vor allem Hohn übrig. Wolfgang Schüssel habe ihn einmal „zu einem so genannten ‚philosophischen Mittagessen‘ einladen wollen, und ich habe gesagt: ‚Nein, danke! Ich bin schon satt!‘“ Hier blitzt die von Eva Menasse geschilderte Familientradition durch: Auch aus dem größten Zorn lässt sich noch ein guter Schmäh schälen.

„Was man an Evas Roman sehr schön sieht, ist, wie groß tatsächlich die Lust in unserer Familie ist, Geschichten zu erzählen – davon hab ich ja auch sehr profitiert“, kommentiert Robert das Buch seiner Schwester. Dass sich die Figur des Bruders in „Vienna“ mal mehr, mal weniger an der Realität orientiert, stört ihn nicht: „Es steht schon am Cover des Buches ‚Roman‘. Und ein Roman ist per definitionem Fiktion. Ich versteh mich mit meiner Schwester ja prächtig. Einer der Gründe dafür ist, dass wir beide enormen Spaß daran haben, mit Sprache zu spielen und Geschichten zu erfinden. Im Grunde war es immer schon so, dass unsere Kommunikation wie eine kleine Romanfabrik funktionierte – lange bevor sie dieses Buch geschrieben hat.“

Oft wurde Hans Menasse die Frage gestellt, wie er sich erkläre, dass alle seine Kinder Intellektuellenkarrieren eingeschlagen haben – bis heute zuckt er darauf nur mit den Schultern. Robert Menasse versuchte sich 2001 in einem Radiofeature an einer Antwort: „Sobald wir alle beisammen waren, hat Sprache immer eine besonders große Rolle gespielt: Wortspiele, dialektischer Witz, Paradox, schnelle Assoziation, Weitertreiben von Assoziationen. Das, was man ‚jüdisch‘ nennen könnte: das Klären, das Hin- und Herwiegen von einer Frage. Das war für uns, glaube ich, vor allem für die Eva und mich, im Zusammensein mit unserem Vater, ungefähr so etwas wie bei anderen Kindern, wenn sie glücklich waren, weil der Vater mit ihnen ‚Mensch, ärgere dich nicht‘ gespielt hat. Das war unser Spiel.“

Totale Familie. Am Abend, nach einem Tag im Zentrum von Berlin, sperrt Eva Menasse die Tür zu ihrem Büro auf, das gegenüber ihrer Wohnung im verschlafenen Bezirk Schöneberg liegt. Es gibt hier viele Friseurgeschäfte, Kindergärten, eine Bar, auf der die Aufschrift „Berliner Kindl“ leuchtet, und ein Chinarestaurant, das „Große Mauer“ heißt. Menasses Büro ist ein gemütliches Zimmer, eine Wand mit Büchern vollgestellt, im Nebenraum schreibt Ehemann Michael seine Romane. In der Schreibstube von Menasse hängt ein gerahmtes Foto von Heimito von Doderer, dem Klassiker der österreichischen Moderne, der zum Themenkreis Familie und Literatur Bonmots und ganze Romane beizutragen hatte. „Wer sich in Familie begibt, kommt darin um“, meinte er beispielsweise trocken; seinem zum Schreien komischen, 1962 veröffentlichten Familienroman gab er den Titel „Die Merowinger – oder: Die totale Familie“.

Das Recherchematerial zu „Vienna“ ist in drei DIN-A4-Ordnern mit kunstvoll verzierten Rücken abgelegt. Ein Knopf des Faxgerätes leuchtet grün: Die Interviewanfragen häufen sich, der Anrufbeantworter ist auch ständig voll. Und wieder läutet das Telefon – eine Tageszeitung aus Wien. „Jetzt werden die Österreicher wurlat“, sagt Eva Menasse. Jetzt ist es vorbei mit der Ruhe. So ist ihr das auch am liebsten.