Literatur: Bertolt Brecht - Im Stahlsarg

Literatur: Im Stahlsarg

Vor 50 Jahren starb der ideologische Dramatiker

Drucken

Schriftgröße

Es ist jetzt bald 17 Jahre her, als der Klassenfeind siegte und man an vieles dachte, aber doch längst nicht mehr an Brecht. Er war der Star des Kalten Krieges, bis tief in die 1960er Jahre hinein mächtig umstritten und heftig bekämpft, galt mitten im militärischen und ideologischen Aufrüsten der feindlichen Supermächte als „roter Hund“, dessen Premieren in westdeutschen Theatern die regierenden Christlich-Konservativen als Niederlage empfinden mussten.

Brecht war damals Teil des Ost-West-Konflikts. Es war ein heißer Krieg gegen kühle Stücke entbrannt, liest man in den Annalen. Auch in Österreich. Dass Brecht, der nach seiner Rückkehr aus dem Exil, von Hitler-Deutschland ausgebürgert, ohne gültige Papiere dastand und mit Hilfe der Österreicherin Helene Weigel 1950 einen österreichischen Pass bekam, galt bereits als Skandal. Friedrich Torberg, Burgtheaterdirektor Haeussermann und Hans Weigel waren die Drahtzieher des damaligen Brecht-Boykotts in Österreich, weshalb auch an der Burg kein Brecht gespielt wurde. Zu den Boykottlern gehörte Günther Nenning, damals Redakteur der Zeitschrift „Forum“, deren Unterstützer eng mit der CIA kooperierten. Der Kommunistenhass des neuen Establishments machte aus Brecht einen Säulenheiligen der linken Intelligenz. Das war aber nur die Kehrseite der konservativen Verteu-felung.

Aber nichts blieb, wie es war. Auch nicht im Berliner Ensemble, vulgo BE, dem berühmten Theater am Schiffbauerdamm, wo 1928 die „Dreigroschenoper“ uraufgeführt worden war, dem Kreml des Brecht-Imperiums in Ostberlin, Hauptstadt der DDR. Als Brecht 1956 starb, ergriffen die Erben das Ruder, hüteten ungeachtet der Picasso’schen Friedenstaube auf dem Bühnenvorhang drachengleich den Nachlass und erfanden sich im Kerkerland der Werktätigen eine Diktatur der Werktreuen. Es gab eine Art Berührungsverbot, und heilig gesprochen wurde nicht nur der Autor, sondern jedes Komma auch – auf dass alles bleibe, wie es einmal gewesen war, und sich kein Brecht-Regisseur der folgenden Gegenwart darüber hinwegsetze. Damit begann die Verwesung.

Bildungsprogramm. Regisseur Einar Schleef, bis 1976 in der DDR eingemauert, später flüchtig, erinnert sich in seinem Buch „Droge Faust Parsifal“ an die verlorene Ehre des Bertolt B.: „In den Jahren 1964–1970 besucht keiner meiner Mitstudenten das Berliner Ensemble, als Theater ist es aus dem Interesse gerückt. Kommt man in seine Nähe, sieht man Westdeutsche, denen man als Passloser unterlegen ist, die hier ein Bildungsprogramm absolvieren, dem das Theater hervorragend nachkommt.“ Bert Brechts BE war für die DDR tot und für die anderen ein Museum, aus dem dann ein fossiles Tourneetheater wurde. Alles war nur noch Schall und Rauch. Heute bedient im BE Claus Pey-mann die Bourgeoisie der neuen deutschen Hauptstadt und feiert von 12. August bis 3. September ein Fest für Brecht, ermöglicht durch die Stiftung „Deutsche Klassenlotterie Berlin“.

Aber ganz ehrlich: Es lag nicht nur an den Erben, ein großer Teil des Brecht’schen Werkes war selbst schon ein Museum. Als wir Nachgeborenen Ende der sechziger Jahre als Primaner in die Theater kamen, die Nase voll von der besserwisserischen Pädagogik jener Zeit, empfand man diese Lehrstücke doch nur noch als öde Nachsitzerei. Die Lektionen waren schnell gelernt, die Fehler der Mutter Courage begriffen, und auch dass Puntila nur so lange den Herrn spielen konnte, wie sein Knecht Matti mitmachte, war längst allen klar. Auch Matti selbst, der ja gerade wieder mitmachte. Angesichts der Verhältnisse im real existierenden Kapitalismus konnte man mit solchen Binsenweisheiten bestenfalls noch Sofakissen besticken, und das in einer Zeit vorübergehenden Aufbruchs, als die Revolte sogar die Bettvorleger aus deutschen Schlafzimmern beseitigt hatte.

Das eigentliche Lehrstück hat keiner geschrieben. Es heißt „Aufstieg und Fall des großen BB“ und beschreibt das Scheitern ideologischen Denkens. Das Problem sei gewesen, schrieb Heiner Müller, der sich zumindest als Zigarrenraucher zur Brecht-Tradition bekannte, „dass Brecht mit seinen klassisch marxistischen Kategorien in eine Wirklichkeit kam, die damit überhaupt nicht zu fassen, die viel differenzierter und komplexer war“. Auf Klardeutsch: Er frisierte sich den DDR-Alltag zurecht und behübschte ihn, und sein Theater hing an einem Ideal, das nie realisiert worden war. Es war ein Theater der Rechthaberei. Da halfen auch seine Theorien des Spielens und Zuschauens im „Kleinen Organon“ nicht weiter.

Obwohl es doch längst fällig war, den Geniepathetikern des bürgerlichen Illusionstheaters ein Bein zu stellen. Brecht hat den Schauspieler aus den Wonnen pathetischer Erfüllung zurückgepfiffen in seine gesellschaftliche Umgebung. Von Identifikation wie bei Stanislawski oder dem „affektiven Gedächtnis“, das Lee Strasberg anpumpte, hielt Brecht nichts. Keiner mehr, der behaupten durfte: „Ich war Lear“ – oder zu fragen wagte: „Wie fühlte ich mich, als …“. Stattdessen: Widersprüche, Veränderung, Mobilität. Dahinter: ein komplexes, veränderbares Bild vom Menschen und seiner Gesellschaft. Man sollte dem Schauspieler beim Spielen zuschauen, statt mit ihm in eine Kunstwelt zu entschwinden.

Aber die Wirklichkeit beginnt, wo die Theorien enden. Wie war es denn wirklich? Wenn etwa die Weigel in einem West-auto vor dem BE vorfuhr, um die Titelrolle in Brechts „Mutter“ zu spielen und ihren teuren Pelz gegen ein teures Lumpenkostüm tauschte. Schleef beschreibt, wie sie dann „mit einem leeren Topf an die Rampe kommt, kümmerlich gebeugt, sie könne ihrem Sohn kein Fett in die Suppe geben“. Das waren Brechts arme Leute mit Heiligenschein. So sahen sie aus, die Passionsspiele des epischen Theaters.

Zyniker. Und BB selbst? Der Personenkult, der später um ihn entstand, war aufwändig vorbereitet. Brecht hatte früh begriffen, dass Klappern zum Geschäft gehört und die PR zur Kunst. Er verstand es, sich als Proletarier zu inszenieren, mit Schiebermütze und Arbeiterkluft. Allerdings aus feinstem Stoff und maßgeschneidert. Er war ein großer Zyniker und gegenüber den Autoritäten in Ostberlin nicht der Mutigste. Gerade hat in der Sonntagszeitung der „FAZ“ Claudius Seidl Brecht harsch verrissen: „Erst kam seine Fresse. Dann die Moral. Unsere ersten 50 Jahre ohne Bertolt Brecht: Was gibt es da zu feiern?“ – Zu beklagen gibt es die bürgerliche Tragödie eines sozialistischen Künstlers. Er war ein Mann, der alles ändern wollte, nur sich selber nicht, und genau wusste: „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.“ Er bewohnte die Villa eines enteigneten Fabrikanten, und Helene Weigel servierte als Österreicherin Tafelspitz für ihren Puntila aus Bayern.

Orthodoxe Brechtianer wie der Theaterwissenschaftler Ernst Schumacher, der schon als Doktorand in Brechts Kreisen verkehrte und durch ihn bekannt wurde, sehen das natürlich anders. Schumacher erblickt gerade in der Nachwendezeit eine neue Chance für Brechts Werk. Jetzt, da sich die gesellschaftlichen Widersprüche zuspitzten, drängten sie erneut auf „die Erörterung ihrer Behebung“. In der „Dreigroschenoper“ heißt es: „Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ Schumachers Aktualisierung: „Was ist die Gründung einer Bank gegen die Fusion mit einer anderen?“ Das ist wohl wahr, aber dass uns im wilden Kapitalismus Brechts kanonisierte Schlaftabletten, seine Lehrstücke, weiterhelfen könnten – das glaubt man nur noch in der Fanmeile. Nicht ohne Grund heißt Schumachers neues Buch „Mein Brecht“. Auch die DDR hat Altfreaks hinterlassen, die den Glauben an Brecht nie aufgegeben haben. Kein Wunder, Beckett war ja verboten.

Was uns von BB heute bleibt, sind die Gedichte, frühe Stücke wie „Baal“ oder „Trommeln in der Nacht“ – bayerischer Expressionismus eines Augsburgers. Vor allem aber: das „Fatzer“-Material, das Heiner Müller Ende der siebziger Jahre unter aktuellem Bezug auf die RAF ins westdeutsche Theater hievte, weil er die Fragmente zu Recht für „Jahrhunderttexte“ hielt. Brecht hatte die Arbeit an „Fatzer“ 1932 abgebrochen. Als die linken Intellektuellen Hitler noch für einen Spuk von kurzer Dauer hielten und in der „Roten Fahne“ „Wir werden siegen“ stand – da hatte der „rote Hund“ Bert Brecht sein Geld schon in der Schweiz. Seine „Fatzer“-Texte waren ein Blick auf den Nullpunkt des letzten Jahrhunderts. Er hatte ihn erkannt. Vor seiner Erschießung durch die Genossen Kameraden sagt Fatzer: „Von nun an und für eine lange Zeit wird es auf dieser Welt keine Sieger mehr geben, sondern nur noch Besiegte.“ Hier spricht Bertolt Brecht, ein Dichter ohne Schiebermütze, Arbeiterkluft, Lehrauftrag, Parteilichkeit und pflichtschuldigen Veränderungsglauben. Sonst aber war er keiner, auf den wir bauen könnten. Längst bogen sich unter den ideologischen Schönfärbereien und der Besserwisserdramatik die Balken – und krachten dann auch ein. Das war die Stunde des Klassenfeinds. Aber da war der große Brecht schon lange tot.

Seine Krankenkassenbrille war aus Titan, sein Sarg aus Stahl. Darin sollte liegen, der das Lehrstück „Die Maßnahme“ geschrieben hat, Brechts Parabel über die Vernichtung der Parteiopposition. Aber man habe vergessen, Maß zu nehmen, erinnerte sich Heiner Müller, der große Geschichtenerzähler, „und die Weigel, die eine praktische Frau war, ersuchte einen Werktätigen, der ungefähr die Statur von Brecht hatte, sich probeweise in den Sarg zu legen. Der Sarg passte.“ Für Müller war das – in seinem eigenen letzten Stück 1996 – die „Maßnahme 1956“.

Helmut Schödel ist Theaterkritiker (unter anderem für die „Süddeutsche Zeitung“) und Autor mehrerer Biografien (Udo Proksch, Werner Schwab).