Literatur und Kino: Kleiner Schrecken

Literatur: Kleiner Schrecken

Truman Capote erlebt ei-ne mediale Wiedergeburt

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Anfang Februar 1934 beschloss ein Junge in einem Vorort von New Orleans, ein weltberühmter Schriftsteller zu werden. Seine Mutter Lillie Mae, die ihn schon mit 16 bekommen hatte, hielt ihn für zurückgeblieben, sie plädierte für die Hilfsschule. Erst der folgende Intelligenztest machte deutlich, wie sehr Truman Streckfus Persons, der später unter dem Namen seines Stiefvaters Capote, den er bereits als Neunjähriger annahm, seine Bücher schreiben und seine Possen treiben sollte, seinen Mitmenschen intellektuell überlegen war; zudem besaß er ein fotografisches Gedächtnis. Sein Erweckungserlebnis kommentierte er später so: „Als wissenschaftlich approbierte Intelligenzbestie kam ich nach Hause zurück. Ich stolzierte umher, starrte in den Spiegel, blies die Backen auf und dachte dabei: Junge, Junge! Ich und Flaubert, ich und Maupassant, ich und Katherine Mansfield, ich und Proust, ich und Tschechow, ich und Thomas Wolfe.“ Schon mit 17, so Capote, sei er der perfekte Schriftsteller gewesen. „Ich habe mein ganzes Leben lang gewusst, dass ich ein Häufchen Wörter nehmen und in die Luft werfen könnte, und sie würden genau richtig herabfallen.“ Noch 1980, als er „Musik für Chamäleons“, sein letztes zu Lebzeiten erschienenes Buch, veröffentlichte, eine Sammlung von Konversationsporträts und impressionistischen Skizzen, zelebrierte Capote seinen aufgeblasenen Narzissmus: „Ich bin Alkoholiker. Ich bin rauschgiftsüchtig. Ich bin homosexuell. Ich bin ein Genie.“

Der Dandydichter Truman Capote (1924–1984) war der meistfotografierte Schriftsteller seiner Zeit. Er hinterließ ein schmales, von Widersprüchen geprägtes Gesamtwerk: Neben zauberhaften Rührstücken wie der eskapistischen Erzählung „Die Grasharfe“ (1951) und dem Großstadt-Märchen „Frühstück bei Tiffany“, das 1961 mit Audrey Hepburn und George Peppard verfilmt wurde, verfasste Capote den Mörder-Report „Kaltblütig“ (1966) und das Fragment gebliebene Klatsch-Kompendium „Answered Prayers“, das ab 1975 in Teilen im US-Magazin „Esquire“ abgedruckt und posthum 1987 in Buchform veröffentlicht wurde. Ein „amerikanischer Proust“ wollte er werden: der Chronist der mondän-noblen Welt, in der er der gehätschelte Hofnarr der Reichen und Schönen war. Schriftstellerkollege Norman Mailer, mit dem Capote legendäre Fehden ausfocht, musste zerknirscht einräumen: „Er ist biestig wie eine alte Jungfer, aber auf seine Art ist er doch ein verwegener kleiner Kerl – und der perfekteste Autor meiner Generation, der die besten Sätze schreibt, Wort für Wort, Rhythmus für Rhythmus.“

Sensationsfund. Nun, 22 Jahre nach seinem Tod, wird Capote, der in aller Bescheidenheit behauptete, die Schriftstellerei in Amerika „ungeheuer beeinflusst“ zu haben, gleich mehrfach wieder entdeckt. Dieser Tage wurden in den USA drei neue Bände mit Briefen und Erzählungen publiziert. „Capote“, das – eben Oscar-gekrönte – Spielfilmdebüt Bennett Millers (siehe Kritik), berichtet von den sechs entscheidenden Jahren, in denen der Schriftsteller an seinem Meisterwerk „Kaltblütig“ („In Cold Blood“) arbeitete. Im Oktober soll zudem „Infamous“ in die Kinos kommen, mit Sandra Bullock, Daniel Craig und Isabella Rossellini prominent besetzt. (Der weniger bekannte Toby Jones spielt darin Capote.) Zudem erscheint jetzt auch Capotes Erzähldebüt erstmals auf Deutsch: der Kurzroman „Sommerdiebe“ („Summer Crossing“), den er 1943 begonnen hatte – und der nun die Literaturgeschichte in einem Detail revidiert: Bislang galt „Andere Stimmen, andere Räume“ von 1948 als Capotes Erstling – jener Roman, mit dem sich der damals erst 24-Jährige den Ruf eines literarischen Wunderknaben erschrieb.

Vier Schulhefte und 62 lose Seiten umfasst der Sensationsfund, der Ende 2004 beim Auktionshaus Sotheby’s deponiert wurde. Sein verstorbener Onkel habe, so der anonyme Lieferant, um 1950 herum eine Wohnung geräumt, die einst dem berühmten Schriftsteller gehört hatte. Der zeitlebens ruhelose Capote („Ich bin wie ein Hai, das einzige Tier, das niemals schläft, das sich durchs Wasser bewegt für immer und immerdar“) ging damals auf Reisen; er beschloss kurzerhand, in die besagte Wohnung nicht mehr zurückzukehren. Er beauftragte die Hausverwaltung, sämtliches Wohnungsinventar auf die Straße zu stellen – der abgeschlossene Roman, der nur an wenigen Stellen um einige Wörter ergänzt werden musste, wurde dennoch gerettet. Capote selbst behauptete immer wieder, das Manuskript zu „Sommerdiebe“ vernichtet zu haben, weil es „dünn, clever, unempfunden“ gewesen sei.

Lebenstreibstoff. Dabei ist das Buch durchaus – und keineswegs bloß als Karriere-Fußnote – der Rede wert: „Sommerdiebe“ erzählt die Geschichte der 17-jährigen Grady McNeil, die sich während eines heißen Sommers durch New York treiben lässt, den Parkplatzwächter Clyde heiratet, von ihm schwanger wird und damit absichtsvoll den Bruch mit ihren snobistisch-vermögenden Eltern riskiert. Eintönigkeit war bereits für den jungen Capote ein Synonym für Qual: „Der größte Teil des Lebens ist so langweilig, dass es sich nicht lohnt, darüber zu reden, und langweilig ist es in allen Lebensaltern“, schreibt er in „Sommerdiebe“, in dem er sich bereits als Meister des bezeichnenden Details, der treffenden Szene, des exakten Dialogs zeigt. „Wenn wir die Zigarettenmarke wechseln, in ein neues Stadtviertel ziehen, eine andere Zeitung abonnieren, uns ver- und entlieben, dann protestieren wir auf oberflächliche Weise gegen die nicht zu mildernde Langeweile des alltäglichen Lebens.“

Capotes Lebenstreibstoff war der herzerfrischende Skandal, seine Arbeitsmethode war die permanente Grenzüberschreitung. Schon mit „Kaltblütig“, der authentischen Geschichte zweier Mörder, war Capote in literarisches Neuland vorgedrungen. 1959 beschloss er, für den „New Yorker“ eine Reportage über ein Verbrechen zu schreiben, bei dem eine vierköpfige Farmerfamilie in Kansas von zwei Männern brutal ermordet worden war. Sechs Jahre lang recherchierte er, führte Interviews – und begründete ein neues literarisches Genre: den Non-Fiction-Roman, den Tatsachenroman, der sich wie ein fiktionales Werk liest, in dem sich aber jedes Wort auf „wahre Begebenheiten“ bezieht.

Capote revolutionierte nicht nur die erzählende Literatur und das Genre Reportage – gemeinsam mit Hunter S. Thompson, Tom Wolfe oder Gay Talese zählt er zu den Pionieren des „New Journalism“, der zu Beginn der sechziger Jahre die traditionellen Regeln und Hierarchien von Journalismus und Literatur aufbrach. Capote definierte auch den Beruf des Schriftstellers neu. Der 1,63 Meter kleine Mann mit der Fistelstimme, der von sich behauptete, die Maße einer Flinte zu haben und ebenso geräuschvoll zu sein, war zeit seiner Karriere – und mit großem Vergnügen – „talk of the town“. Denn „Tiny Terror“, der „kleine Schrecken“, wie Capote sich selbst gern nannte, liebte zeitlebens Klatsch, kleine Eklats und Intimgeschichten.

In seinem Virtuosentum der üblen und ganz üblen Nachrede ist der Schriftsteller bis heute unerreicht: Die Garbo? „Ein unwirtlicher, aufgegebener Tempel.“ Jackie Onassis, verwitwete Kennedy? „Eine sehr opportunistische, unaufrichtige, eitle und ziemlich böse Person.“ Die Kennedy-Männer? „Sie sind wie Hunde, die an jeden Feuer-Hydranten pinkeln müssen.“ Seinem langjährigen Intimfeind Gore Vidal („Eselsarsch und Hanswurst“) unterstellte Capote, wegen Busengrapscherei bei Jackie Kennedy aus dem Weißen Haus geflogen zu sein. „Capote ist ein Monster erster Güte, ein im Innersten kaltblütiger Mörder, ein Lügner, wie jedermann weiߓ, beschimpfte ihn Tennessee Williams, dem Capote wiederum unterstellte, Stammkunde eines Call-Boy-Rings zu sein.

Kampfgockel. In späteren Jahren unterzog sich Capote einem Facelifting, und er hatte ein Faible für schwarze Schlapphüte. Sein bevorzugtes Revier waren die New Yorker Clubs und Bars, vor allem das „Studio 54“. Hollywood war ihm verhasst. Bei den Dreharbeiten zur Krimikomödie „Eine Leiche zum Dessert“, in der er 1976 einen übergeschnappten Millionär spielte, langweilte er sich phänomenal. Die meisten Schauspieler verachtete er, mit Ausnahme von Humphrey Bogart („herrlicher Kampfgockel“) und Marilyn Monroe („wunderschönes Kind“).

Als Party-Tier wusste Truman Capote ganze Gruppen stundenlang bestens zu unterhalten, auch die Fotografen liebten ihn, er wusste, wie man die Kamera verführt. Spätestens mit dem Erscheinen von „Kaltblütig“ war Capote ein Schriftsteller von Weltrang, er sonnte sich im Ruhm: Im November 1966 lud er über 500 „gute Freunde“ zu einem Maskenball ins New Yorker Plaza Hotel, zur legendären „Party des Jahrzehnts“, bei dem nur die Farben Schwarz und Weiß getragen werden durften und die Gästeliste vorab in der „New York Times“ abgedruckt worden war. Dies aber war bereits das letzte Aufbäumen vor seinem tiefen Fall: Das Genie der Selbstvermarktung wurde 1975, nach Veröffentlichung eines Teils des Schlüsselloch-Berichts „Answered Prayers“, den Capote als großen Roman mit verwinkeltem Handlungsgefüge plante, aber nicht mehr zu Ende bringen konnte, endgültig zur Persona non grata. „Capote beißt die Hand, die ihn füttert“, titelte das „New York“-Magazin.

Untergang. Das Tragische lag Capote stets, vielleicht zu sehr: Schon „Sommerdiebe“ endet in einem Untergang. „Denn wenn Panik ausbricht, verfängt sich der Verstand wie die Reißleine eines Fallschirms: Man fällt immer weiter“, formulierte bereits der Jungschriftsteller. Capotes eigene verschlungene Lebensreise ging einen Monat vor seinem 60. Geburtstag in Los Angeles zu Ende. In den Tagen davor hatte der vereinsamte, verwirrte, alkoholsüchtige Schriftsteller ungeheure Mengen an Valium, Dilantin, Kodein und Tylenol zu sich genommen.

„Wovor haben Sie die größte Angst?“, fragte sich Capote 1972 in einem seiner legendären „Selbstporträts“. Seine Antwort: „Nicht vor dem Tod. Das heißt, ich möchte natürlich nicht leiden müssen. Aber die Vorstellung, eines Abends schlafen zu gehen und dann nicht wieder aufzuwachen, stört mich nicht sehr. Zumindest wäre das mal was anderes.“ Der Exzentriker blieb sich über sein Lebensende hinaus treu: Am Samstag, dem 25. August 1984, kurz vor zwölf Uhr mittags, hörte er im Schlaf einfach auf zu atmen.

Von Wolfgang Paterno