Literatur: Schöner neuer Weltuntergang

Michel Houellebecq sorgt zuverlässig für Aufregung

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Die Welt war unruhig geworden. Michel Houellebecq hatte drei Jahre lang geschwiegen, kein Buch veröffentlicht, kein Interview gegeben. Das Warten auf die neue Frohbotschaft des obersten Universal-Defätisten wurde zunehmend unerträglich: Mitleidlos versagte der „Gott des Untergangs“ („Süddeutsche Zeitung“) der Menschheit für quälend lange Zeit ihre Dosis Alltags-Apokalypse; wollte ihr nicht bestätigten, dass sie im allerbesten Fall zum Aussterben verurteilt sei, dass ihre Gesellschaft verrotte und sämtliche Versuche eines glücklichen Lebens zum Weinen komisch seien – alle Utopien vergebens, Sex nur ein hohler Witz.

Jetzt ist er wieder da. Mit einem allseits ersehnten Weltuntergangsbuch, 450 Seiten lang, Frustration, Depression, Aussichtslosigkeit, Abscheu, ausschweifender Sex, all inclusive. „Die Möglichkeit einer Insel“ heißt der vierte Roman von Michel Houellebecq, doch die Angst, der eskapistische Titel könnte einen Ort verheißen, an den es sich zu flüchten lohnte, ist unbegründet. Der Houellebecq-Kosmos bietet weiterhin keinen Platz für Freude und Erbauung. Dankbar darf die treue Leserschaft erneut in Abgründe von Düsternis und Einsamkeit blicken (siehe Kasten).

Alles wie gehabt. Und dennoch: Die Feuilletons der internationalen Zeitungen vibrieren vor Erregung, orten Skandale um den „Knüller des Bücherherbstes“ („Der Spiegel“) und ergehen sich in Rezensions-Wettläufen: Der Literaturkritiker der französischen Tageszeitung „Le Figaro“ beteuerte etwa, er habe das unveröffentlichte Manuskript auf einer Parkbank gefunden, was ihm einen Startvorteil von zehn Tagen verschafft hatte. Michel Houellebecq garantiert Breaking News.

Der Autor ist zu einer Marke mit außerliterarischen Qualitäten geworden: Um eine kolportierte Rekordsumme von 1,3 Millionen Euro wechselte Houellebecq jüngst von seinem Stammverlag Fayard zu Flammarion. Startauflage der französischen Ausgabe von „Die Möglichkeit einer Insel“: 200.000 Exemplare, Houellebecqs deutscher Verlag DuMont startet mit 40.000 Stück. Zeitgleich erscheinen die Übersetzungen ins Deutsche, Englische, Spanische und Italienische – eine vergleichbare Marktpräsenz genießt dieser Tage nur ein Nobelpreisträger wie der Südafrikaner J. M. Coetzee.

Kampfzonen. Michel Houellebecq ist seit Erscheinen seines Debütromans „Ausweitung der Kampfzone“ (Französisch 1994, deutsche Übersetzung 1999) einer der meistdiskutierten Autoren der Gegenwart, geachtet von Kritik und Schriftstellerkollegen wie Julian Barnes oder J. G. Ballard. Keines seiner Bücher versackte bisher in den Randspalten der Literaturseiten. Was ist dran an dem knöchernen, blassen Franzosen? Was zeichnet ihn und seine Arbeit aus? Wie funktioniert das System Houellebecq?

Houellebecq schreibt über eine Welt, die jeder kennt. Seine Figuren kommen aus dem Angestellten-Milieu, kein Held, der diesen Namen verdiente, betritt die Szenerie – Büros, Hochhäuser, Bahnhöfe, Hotelzimmer bilden das Ambiente. In „Ausweitung der Kampfzone“ reist ein Landwirtschaftsinformatiker etwa durch die französische Provinz; „Elementarteilchen“ (1999) erzählt die Geschichte des Gymnasiallehrers Bruno und seines Halbbruders Michel, eines Biologen. Der Beamte in „Plattform“ (2002) heißt wieder Michel, er urlaubt in Thailand und zappt nächtens durch seine 128 TV-Kanäle. Daniel1, der abgewrackte Komiker aus „Die Möglichkeit einer Insel“, unterscheidet sich von den bisherigen Figuren dieses Schriftstellers zwar durch seine Berühmtheit und seinen unermesslichen Reichtum (42 Millionen Euro), führt aber ein nicht weniger spießbürgerliches Leben als der typische Houellebecq-Versager.

Das Alltägliche, in dem sich das Drama des modernen Lebens ereignet, versuchte Houellebecq schon in seinen frühen Gedichten zu erfassen. Darin fanden sich zuhauf Banalitäten wie „Peugeot 104“, „Porno-Kino“ oder „Käse in Scheiben“. Houellebecq betrachtet die Welt vom allergewöhnlichsten Ort aus: der Mitte, umgeben von Mittelmaß. „Von der Mitte der Welt“ lautete denn auch der Untertitel der französischen Ausgabe von „Plattform“.

Markenfetischismus („Notebook Samsung X10“), ein heil- und hoffnungsloses Alltagsleben, ein Blick hinter die Kulissen der bürgerlich-westlichen Welt – all das findet sich auch in „Die Möglichkeit einer Insel“. „Das menschliche Dasein gleicht einer Theatervorstellung, die mit lebendigen Schauspielern beginnt und mit Automaten in denselben Kostümen endet“, zitiert Houellebecq darin seinen Lieblingsphilosophen Schopenhauer.

Tiraden. Die Normalität braucht Houellebecq, um sich an seinem Generalthema abzuarbeiten: die absurde Ausweglosigkeit und „Leere des Lebens in der postindustriellen Gesellschaft“, wie Houellebecq-Fan J. G. Ballard es ausdrückt. Houellebecq behandle im Gegensatz zu den allermeisten Gegenwartsautoren, deren Bücher sich um Beziehungs- und Familienkram drehten, „große Themen, die größten, mit denen wir heute konfrontiert sind“, lobt der britische Romancier.

Die kaputten Leben von Houellebecqs Helden stehen für die Auswüchse, die er in unserer Gesellschaft diagnostiziert: Jagd nach sexueller Befriedigung, Zerstreuungssucht, Sektentum, Klonen. Doch bei der Diagnose bleibt es nicht. Houellebecqs größtes Talent ist die Provokation. Seine Protagonisten ergehen sich in Tiraden und ätzen gegen Filmkritiker, die Zeugen Jehovas, Präsident Jacques Chirac, Babys und Bestsellerautor John Grisham. Ihr reales Vorbild als Zyniker ist der Autor selbst. Weil er in Interviews den Islam beschimpfte, musste Houellebecq 2002 wegen Verhetzung vor Gericht, wurde aber freigesprochen. Auch in einem profil-Interview, in dem er Mosleminnen als „dicke, unbefriedigte Schlampen“ bezeichnete, fiel der Autor damals aus der Rolle.

Inzwischen weiß man, woher der Hass kommt. Er sei in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass ihm gegenüber „eine große Ungerechtigkeit begangen worden ist“, erzählte Houellebecq. Von seinen geschiedenen Eltern war der kleine Michel zu den Großeltern abgeschoben worden, seine Mutter führte eine zügellose Hippie-Existenz und trat später zum Islam über. Houellebecq hasste sie, wie er selbst sagte.

Zu dieser Enttäuschung kam der berufliche Misserfolg des gelernten Landwirtschaftsökonomen und Informatikers: „Ich wurde bei allen Stellen abgelehnt, für die ich mich bewarb. Ich weiß nicht warum. Ich glaube, ich machte bei den Bewerbungsgesprächen einen schlechten Eindruck. Klarerweise begann ich, die Gesellschaft zu verabscheuen.“ Zu dieser Zeit begann Houellebecq Texte zu schreiben, die er später in „Ausweitung der Kampfzone“ einarbeitete.

Die Frustrationen und den Ekel, der sich damals aufgestaut hat, bekommen Houellebecq-Leser literarisch zu spüren. In einer frühen Erzählung gibt sich der begabte Misanthrop ein Programm: „Jede Gesellschaft hat ihre Schwachpunkte. Legen Sie den Finger auf die Wunde, und drücken Sie fest. Bohren Sie bei den Themen nach, von denen niemand hören will. Sprechen Sie vom Tod, vom Vergessen. Von der Eifersucht, der Indifferenz, der Frustration, dem Mangel an Liebe. Seien Sie abstoßend.“ Houellebecq, der „Sturheit“ als seine herausragendste Charaktereigenschaft nennt, hat den Finger nie wieder von den Wunden genommen.

So einen hatte die literarische Welt lange nicht gesehen. Moralisch inkonsistent, meist aber böse, zynisch und völlig desinteressiert an Konsens, machte sich Houellebecq als Fremdkörper in der Öffentlichkeit breit. Die Facetten seines Programms: In Interviews äußert er zuweilen ganz beiläufig Ungeheuerliches, Minuten später sagt er plötzlich nur noch „Ich weiß nicht“ oder „Ist mir egal“, dann wieder schweigt er minutenlang. Houellebecq ist als politisch durchgeknallter Autor ein später Nachkomme von Louis-Ferdinand Céline (1894–1961), Verfasser des Klassikers „Reise ans Ende der Nacht“ – und überzeugter Antisemit.

Wie viel an Houellebecqs Image aber ist authentisch, wie viel ist Inszenierung? In der eben erschienenen unautorisierten Biografie „Enquête sur un phénomène“ meint der Autor Denis Demonpion, Houellebecq habe verstanden, dass „seine Allüre des armseligen Typen die beste Eintrittskarte zu literarischem Ruhm“ sei. Tatsächlich genießt es Houellebecq sichtlich, dass sein unverfrorenes, tölpelhaftes Auftreten akzeptiert wird, seit er ein gefeierter Schriftsteller ist. Bei einem Interview mit der Londoner „Times“ betrank sich der Star, kippte mit seinem Gesicht ins Abendessen und machte es der Journalistin anschließend zur Bedingung, dass sie mit ihm ins Bett gehen müsse, damit er ihre Fragen beantworte.

Überdosis. Zuweilen jedoch überlässt er seine Außenwirkung nicht bloß dem Zufall und seinem aktuellen Triebhaushalt. Als er jüngst die Journalisten des französischen Kulturmagazins „Les Inrockuptibles“ empfing, die anlässlich seines neuen Romans eine Sondernummer über Houellebecq vorbereiteten, tat er dies im spanischen Hotel „Alqueria de Moryama“ – an jenem Ort, an dem die Moslems im 16. Jahrhundert vor den katholischen Königen kapitulieren mussten und vertrieben wurden. Dieser Interviewtermin war Houellebecqs erster öffentlicher Auftritt seit seinem Prozess wegen Verhetzung der moslemischen Glaubensgemeinschaft.

Houellebecq, der Provokateur, der Berserker, hat noch eine andere Seite. Er behauptet von sich selbst, ein lyrischer Mensch zu sein, bloß wagten die Leute nicht, darüber zu sprechen. „Ich selbst traue mich nicht, allzu viel darüber zu reden, denn das käme mir tatsächlich unanständig vor“, bekennt er in „Les Inrockuptibles“. Doch in der Kombination aus Humor und Poesie müsse „die Poesie das letzte Wort“ haben.

Der kalte Zyniker veröffentlicht romantische Landschaftsfotos, gesteht, dass ihm bei Neil-Young-Songs die Tränen kommen, und lässt seine Romanfiguren bisweilen plötzliche Momente inniger Liebe erleben – oder wenigstens Augenblicke des Verlangens nach Zweisamkeit. Daniel1 bekennt in „Die Möglichkeit einer Insel“: „Aber um jemanden lieben zu können, habe ich immer Achtung für ihn empfinden müssen, im Grunde habe ich mich nie in einer sexuellen Beziehung wohl gefühlt, die nur auf einer erotischen Anziehung (…) beruhte, um mich sexuell wohl fühlen zu können, habe ich immer, wenn schon keine Liebe da war, wenigstens etwas gegenseitige Sympathie, Achtung und Verständnis gebraucht; nein, auf die Menschlichkeit hatte ich nicht verzichtet.“

Nach dieser Überdosis Romantik kann jedoch wieder Entwarnung gegeben werden: Daniel1 hat seine Verzögerungs-Creme vergessen, kommt zu rasch zum Höhepunkt und erschlafft hoffnungslos. Sex misslungen, Frust intakt: Das Houellebecq’sche Weltbild ist wieder zurechtgerückt.

Von Wolfgang Paterno und Robert Treichler